Das Reich der Vernichtung -  Alex Kay

Das Reich der Vernichtung (eBook)

Eine Gesamtgeschichte des nationalsozialistischen Massenmordens

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
456 Seiten
Theiss in der Verlag Herder GmbH
978-3-8062-4605-6 (ISBN)
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Diese erste integrative, umfassende Geschichte des nationalsozialistischen Massenmordens zeigt, wie entscheidend die Völkermordpolitik für die Kriegsstrategie des Regimes war. Das nationalsozialistische Deutschland tötete ungefähr 13 Millionen Zivilisten und andere Nichtkombattanten durch vorsätzliche Massenmordpolitik, überwiegend während der Kriegsjahre. Fast die Hälfte der Opfer waren Juden, die im Holocaust systematisch vernichtet wurden. Alex Kay argumentiert, dass der Völkermord am europäischen Judentum im breiteren Kontext des nationalsozialistischen Massenmords untersucht werden kann. Erstmals werden Europas Juden neben allen anderen großen Opfergruppen betrachtet: gefangenen Soldaten der Roten Armee, der sowjetischen Stadtbevölkerung, unbewaffneten zivilen Opfern von präventivem Terror und Repressalien, geistig und körperlich Behinderten, den europäischen Roma und der polnischen Intelligenzschicht. Kay zeigt, wie systematischer, staatlich organisierter Massenmord die Grundlage des nationalsozialistischen Regimes war, um seine Ideologie durchzusetzen und den Krieg zu gewinnen.

Alex J. Kay ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Universität Potsdam, seit 2022 Habilitationsstipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und wurde 2016 zum Fellow auf Lebenszeit der Royal Historical Society gewählt. Er hat fünf hochangesehene Bücher über das nationalsozialistische Deutschland veröffentlicht, darunter »The Making of an SS Killer« und zuletzt das preisgekrönte »Empire of Destruction: A History of Nazi Mass Killing«, das nun bei der wbg erstmals auf Deutsch vorliegt.

Kapitel 1


Die Tötung der Kranken im Deutschen Reich und in Polen

Der Erste Weltkrieg war ein Wendepunkt für den Berufsstand der deutschen Psychiater. Viele Ärzte beklagten den verheerenden Eindruck, den der Tod von Millionen gesunder junger Männer an den Fronten des Krieges auf die deutsche Nation machte, während jene, die körperlich weniger gesund und leistungsfähig waren, in der Heimat überlebt hätten. Diese Argumentation ignorierte wissentlich den Tod von mindestens 70 000 Patienten in deutschen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1914 und 1918 durch Hunger und Krankheiten, deren Ursache Unterernährung war. Dabei handelte es sich nicht um ein zentral initiiertes und geleitetes Tötungsprogramm, sondern um das unbeabsichtigte Ergebnis einer Reduzierung der täglichen Essensrationen für die wehrlosen Psychiatriepatienten und die Umwandlung vieler Einrichtungen in Militärlazarette. Diese Maßnahmen und ihre verheerenden Folgen wurden von der Öffentlichkeit und den Angehörigen der psychiatrischen Berufe gleichermaßen als notwendiges Opfer in Kriegszeiten weithin akzeptiert.1

Die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die erlittenen Verluste an Menschenleben, vor allem unter den Jungen und den Gesunden, entfachten im Nachkriegsdeutschland eine hitzige Debatte über die Legitimität der Beseitigung angeblich wertlosen Lebens und schienen sie zu rechtfertigen. Diese Debatte war symptomatisch für die Art und Weise, wie im Gefolge des Krieges anerkannte menschliche Werte einer Neubewertung unterzogen wurden, wobei die Sorge um das größere Kollektiv die Rechte und den Wert des Individuums in den Hintergrund drängte. Obwohl die Konzepte der Eugenik und „Rassenhygiene“ sich nicht auf Deutschland beschränkten, gab es eine solche Debatte in keinem anderen der am Krieg beteiligten Länder, sodass wir im Fall Deutschlands hier bereits eine besondere Radikalisierung feststellen können. Selbst im neutralen Schweden, das 1922 als erstes Land ein Institut für Rassenbiologie gründete, existierte kein Pendant zu der deutschen Diskussion über Euthanasie. Wenngleich die Debatte Mitte der 1920er-Jahre ein wenig abebbte, kam sie zur Zeit der Weltwirtschaftskrise und der mit ihr einhergehenden Massenarbeitslosigkeit erneut auf, wobei der Blick sich vor allem auf Möglichkeiten der Kostensenkung in Pflegeanstalten und Krankenhäusern richtete. Noch bevor die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Deutschland spürbar waren, erklärte hingegen der Führer der NSDAP, Adolf Hitler, in seiner Abschlussrede auf dem Reichsparteitag in Nürnberg im August 1929, fast dreieinhalb Jahre vor seiner Ernennung zum Reichskanzler: „Würde Deutschland jährlich eine Million Kinder bekommen und 700 000 bis 800 000 der Schwächsten beseitigt, dann würde am Ende das Ergebnis vielleicht sogar eine Kräftesteigerung sein.“2

Obwohl das Jahr 1933 keine entscheidende Zäsur für die deutsche Ärzteschaft bedeutete, „wurden die Hindernisse für vom Staat zugelassene grob unmenschliche Maßnahmen beinahe über Nacht beseitigt“, so Ian Kershaw. Was zuvor als kaum mehr denn Fantasiedenken erschienen war, rückte plötzlich in den Bereich des Möglichen. Am 14. Juli, Hitler war noch keine sechs Monate Reichskanzler, wurde durch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ die Rechtsgrundlage für die Zwangssterilisation geschaffen. Nach diesem Gesetz, das am ersten Tag des Jahres 1934 in Kraft trat, konnte jemand ohne seine Einwilligung sterilisiert werden, wenn „mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden“. Zwischen 1934 und 1945 wurden mehr als 300 000 Männer und Frauen in Deutschland und Österreich – wo das Gesetz am 1. Januar 1940 in Kraft trat – auf Anordnung der eigens zu diesem Zweck eingerichteten Erbgesundheitsgerichte zwangssterilisiert. Etwa 5000 von ihnen, hauptsächlich Frauen, überlebten die Operation nicht. Es war nicht ungewöhnlich, dass Menschen vor oder nach dem Eingriff Selbstmord begingen. In einem sich entfaltenden politischen Klima, in dem großer Wert auf eugenisch gesunde, gebärfreudige Mutterschaft gelegt wurde, galt dies besonders für Frauen. Die Sterilisationsmaßnahmen standen für eine wachsende Bereitschaft, Gewalt gegen Menschen anzuwenden, die als genetisch mangelhaft galten. Ganz offensichtlich war Hitler weiterhin ein Vertreter jener Ansichten, die er im August 1929 öffentlich geäußert hatte. Dies zeigte sich deutlich nicht nur in dem Tempo, mit dem das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet wurde, sondern auch, und nicht zuletzt, in seinen Äußerungen gegenüber Reichsärzteführer Gerhard Wagner im September 1935, abermals anlässlich eines Reichsparteitags der NSDAP. Er beabsichtige, so Hitler, im Fall eines zukünftigen Krieges die „unheilbar Geisteskranken zu beseitigen“.3

Spätestens von diesem Zeitpunkt an war die massenhafte Ermordung der geistig und körperlich Behinderten keine Frage des Ob mehr, sondern nur noch des Wann. Im Anschluss an seine Unterredung mit Hitler im September 1935 ließ Wagner im Kreis von Parteiärzten wiederholt verlauten, Hitler plane im Kriegsfall „die Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Paul Nitsche beispielsweise, der Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein in Pirna, in der Folge eines der Hauptmordzentren, behauptete später, im März 1937 über Wagner von Hitlers „Euthanasie“-Plänen erfahren zu haben. Bereits am 5. April 1937, vier Tage nach seiner Ernennung zum Dezernenten für Anstaltswesen in Hessen-Nassau, machte Fritz Bernotat seinen Standpunkt zum Thema während einer Tagung von Anstaltsleitern auf Schloss Dehrn deutlich: „Wenn ich ein Arzt geworden wäre, ich würde diese Kranken umlegen.“ Dies war vonseiten Bernotats keine isoliert geäußerte Mordabsicht. Bei anderer Gelegenheit drängte er Ärzte und Pflegepersonal: „Schlagt sie doch tot, dann sind sie weg!“ Auf einer Tagung von Sachbearbeitern, die für die Verwaltung psychiatrischer Anstalten zuständig waren, kam ein Referent im Jahr 1938 in weniger rüden, aber nicht weniger tödlichen Wendungen zu dem Schluss, dass „die Lösung der Irrenpflege einfach sei, wenn man die Leute beseitige“. Die Realisierung dieser „Lösung“ ließ nicht lange auf sich warten.4

Kinder-„Euthanasie“


Die Vorbereitungen für den Mord an den schwächsten und wehrlosesten aller NS-Opfer – behinderte Kinder – begannen vor Ausbruch des Krieges. Anfang 1939 wurde der Fall eines schwerbehinderten Säuglings namens Gerhard Kretschmar in dem Dorf Pomßen bei Leipzig an Professor Werner Catel, den Direktor der Universitätskinderklinik in Leipzig, herangetragen. Catel bewog die Eltern, Hitler über die Kanzlei des Führers (KdF) ein schriftliches Gesuch um die Gewährung eines Gnadentods – der nach herrschendem Recht strafbar war – zu unterbreiten. Diese Vorgehensweise war keineswegs ungewöhnlich; die Kanzlei des Führers erhielt täglich 2000 solcher Bitten. Nach Eingang des elterlichen Ersuchens, deren Sohn („dieses Monster“) zu töten, beauftragte Hitler seinen Begleitarzt Karl Brandt damit, den Fall zu prüfen. Nachdem er im Juli die Eltern aufgesucht hatte, ordnete Brandt an, das Kind zu töten; ein paar Tage später führte Catel persönlich die Tötung durch. Wohl aufgrund der besonderen Schwere und Vielzahl der Behinderungen des Jungen erregte der Fall von Gerhard Kretschmar offenbar die Aufmerksamkeit der NS-Funktionäre und veranlasste Hitler daraufhin, Brandt und den Leiter der Kanzlei des Führers, Philipp Bouhler, mündlich zu ermächtigen, in ähnlichen Fällen genauso zu verfahren. Dies bedeutete den Übergang von der Tötung ungeborenen Lebens, die im Juni 1935 im Fall von Erbkrankheiten legalisiert worden war, hin zur Ermordung von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen, die zynisch als Kinder-„Euthanasie“ bezeichnet wurde.5

Um zu verhindern, dass die Beteiligung der Kanzlei des Führers – deren Hauptaufgabe es in der Tat war, Gesuche und Eingaben zu bearbeiten, die von Angehörigen der deutschen Öffentlichkeit an Hitler gerichtet wurden – und damit auch die Hitlers publik wurde, gründeten die Planer eine Tarnorganisation für das Programm der Kinder-„Euthanasie“, den sogenannten Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden. Philipp Bouhler betraute seinen Stellvertreter und Oberdienstleiter des Hauptamtes II der Kanzlei des Führers („Angelegenheiten betr. Staat und Partei“), Viktor Brack, mit der Gesamtorganisation des „Euthanasie“-Mordprogramms. Brack wiederum übertrug die laufende Verwaltung der Kinder-„Euthanasie“ Hans Hefelmann, dem Leiter des Amtes IIa innerhalb von Bracks Hauptamt II, das zuständig war für „Angelegenheiten betr. die Reichsministerien; auch Gnadengesuche“. Die kleine Planungsgruppe arbeitete zügig, denn schon am 18. August 1939 verschickte das Reichsministerium des Innern...

Erscheint lt. Verlag 15.12.2022
Übersetzer Thomas Bertram
Sprache deutsch
ISBN-10 3-8062-4605-X / 380624605X
ISBN-13 978-3-8062-4605-6 / 9783806246056
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