Eine Hochzeit in der Provinz -  Emma Rothschild

Eine Hochzeit in der Provinz (eBook)

Die Spuren der Familie Aymard über zwei Jahrhunderte europäischer Geschichte
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2022 | 1. Auflage
512 Seiten
Theiss in der Verlag Herder GmbH
978-3-8062-4481-6 (ISBN)
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Marie Aymard war eine analphabetische Witwe, die in der Provinzstadt Angoulême im Südwesten Frankreichs lebte, einem Ort, an dem scheinbar nie etwas passierte. Dennoch hinterließ sie 1764 mit einem Ehevertrag für ihre Tochter mit 83 Unterschriften ihre flüchtige Spur in der Geschichte. Die berühmte Wirtschaftshistorikerin Emma Rothschild folgt den Spuren dieser Unterzeichner und ihrer Nachkommen über Generationen hinweg und entfaltet so eine faszinierend andere Geschichte Frankreichs vom Ancien Régime auf dem Weg in die Moderne. Eine Geschichte von unten über ganz alltägliche, wissbegierige, kontaktfreudige, abenteuerlustige Individuen, die mit Marie Aymards Ur-Ur Enkelin Anfang des 20. Jahrhunderts endet. Es ist eine weitläufige Erzählung, die den Sozialromanen von Balzac ähnelt, eine Erzählung, die eine große, so normale wie ungewöhnliche Familie in den Blick nimmt.

Emma Rothschild ist Professorin für Geschichte an der Harvard University, wo sie das Center for History and Economics leitet. Die britische Wirtschaftshistorikerin studierte in Oxford und am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und lehrte sowohl in Cambridge als auch an der École des Hautes Études en Sciences Sociales. Ihr Buch »Eine Hochzeit in der Provinz« gewann den PROSE Award für Europäische Geschichte und steht auf der Shortlist des Cundill History Prize.

KAPITEL 1: DIE WELT DER MARIE AYMARD


Was die Quellen sagen


Marie Aymard kam 1713 in Angoulême zur Welt und starb 1790 in ihrer Heimatstadt.1 Sie war ein Einzelkind. Ihre Eltern hatten bei ihrer Heirat 1711 angegeben, sie könnten ihre Namen nicht schreiben. Ihre Mutter war die Tochter eines Schusters, der aus einem kleinen Ort südwestlich von Angoulême in die Stadt gekommen war; ihr Vater wurde als ein Ladenbesitzer oder Kaufmann bezeichnet, als marchand.2 Er starb noch während Maries früher Kindheit, und als sie fünf Jahre alt war, heiratete ihre Mutter erneut, einen verwitweten Zimmermeister.3 Im Jahr 1735 heiratete Marie selbst, und zwar den Schreinerlehrling Louis Ferrand. Anlässlich ihrer Heirat erklärte auch sie – wie später noch bei vielen anderen Gelegenheiten –, dass sie nicht imstande sei, ihren Namen zu schreiben – in der historischen Forschung sagt man: Sie war nicht signierfähig. Ihr Bräutigam, der seine Unterschrift im Heiratsregister leisten konnte, war als Zugezogener in die Stadt gekommen; sein Vater war ein Holzschuhmacher aus dem Bistum Tours, rund 200 Kilometer – oder mehrere Tagesmärsche – nördlich von Angoulême.4

Im Lauf der folgenden vierzehn Jahre brachte Marie Aymard acht Kinder zur Welt, von denen zwei früh starben. Es ist zwar möglich, aber eher unwahrscheinlich, dass sie Angoulême jemals verlassen hat. Sie und ihr Ehemann zogen häufig um, jedoch stets innerhalb der Mauern ihrer kleinen Stadt; während der sechs Jahre von 1738 bis 1744 gebar Marie sechs Kinder in vier verschiedenen Pfarrgemeinden, die alle im alten Stadtkern von Angoulême lagen.5 Louis blieb ein Außenseiter; in dem Taufvermerk für sein jüngstes Kind Jean (oder Jean-Baptiste) wird er beschrieben als Ferrand dit tourangeau – „Ferrand, genannt der Tourainer“ oder „Mann aus Tours“.6 Aber er wurde schließlich Schreinermeister, und 1744 begegnet er uns als sindic, als „Syndikus“ oder gewählter Repräsentant der kleinen Schreinergilde oder -innung von Angoulême.7 Die Bekannten oder Verwandten, die er und Marie als Paten für ihre acht Kinder auswählten, gehörten demselben Milieu ihrer Heimatstadt an: ein Zimmermann, ein Hutmacher, gleich drei verschiedene Schlosser, eine Küfersgattin sowie die Frau noch eines weiteren Schlossers.8

Im Juni 1753 ereignete sich im Leben der Familie Großes. In der Stadt Angoulême gab es eine berühmte höhere Schule, zur damaligen Zeit ein Jesuitenkolleg, an der begabte Söhne der Stadt kostenlosen Unterricht erhalten konnten. Und 1753 tat nun Gabriel, der älteste Sohn der Eheleute Aymard, den ersten Schritt in Richtung einer späteren Priesterweihe, indem er die Tonsur empfing – jene spezifische Haartracht, die ihn als Angehörigen des (katholischen) Klerus auswies. Er war fünfzehn Jahre alt.9 Im Dezember desselben Jahres machte sich Louis Ferrand auf, um sein Glück zu suchen und seiner Familie ein Vermögen zu gewinnen. Er und ein weiterer, der Zimmermann war, unterschrieben eine Vereinbarung, in der sie sich zu einer zweijährigen Arbeitszeit als Vertragsknechte (engagés) auf der Karibikinsel Grenada verpflichteten, wofür sie 500 Livres pro Mann und Jahr erhalten sollten, dazu freie Kost, Logis und Wäsche „in Gesundheit und in Krankheit“. Ihr Vertragspartner war ein aufstrebender Plantagenbesitzer namens Jean-Alexandre Cazaud, der auf Guadeloupe geboren war und sich in Angoulême niedergelassen hatte, wo er die Tochter eines ortsansässigen Seidenhändlers heiratete; für Cazaud zeichnete den Arbeitsvertrag dieser Schwiegervater, der später einer der Protagonisten (der wichtigste „Kapitalist“) in dem berüchtigtsten Justiz- und Finanzskandal der Stadt werden sollte – oder eben in der kommerziellen „Revolution“ von Angoulême, die 1769 begann.10

Zum Zeitpunkt der Abreise ihres Mannes hatte Marie Aymard sechs minderjährige Kinder, die zwischen vier und fünfzehn Jahren alt waren. Ihr eigener Stiefvater starb zwei Jahre darauf, 1755, und ihre Mutter im Jahr 1759; der Zimmermann, der mit Louis nach Grenada aufgebrochen war, starb ebenfalls.11 Und dann, es muss irgendwann vor dem Mai 1760 gewesen sein, erhielt Marie die schreckliche Nachricht vom Tod ihres Mannes. In einer Vereinbarung mit ihrem Sohn Gabriel, die von einem Notar aufgesetzt wurde, dessen „übler Charakter“ allgemein bekannt war – und das in einer Stadt, in der die Anzahl praktizierender Notare „derart übermäßig“ war, dass die französische Krone regulierend eingriff –; in dieser Vereinbarung also wurde sie als die „Witwe des Louis Ferrand“ bezeichnet.12

Gabriel war zu diesem Zeitpunkt kein Kleriker mehr und befand sich auch nicht auf dem Weg zur Priesterweihe. Aber das Notarsdokument setzt mit einer Nacherzählung seiner – zugegebenermaßen imponierenden – Pläne ein: „Der besagte Ferrand hatte zuerst den Entschluss gefasst, den Grad eines Magister Artium zu erlangen, um der Jugend Unterricht erteilen zu können, und beschloss dann, einen Haushalt zu gründen … in dem er noch heute lebt und den er auf eigene Kosten eingerichtet hat.“ Dann lieferte Gabriel eine Geschichte seiner Ansichten und Gefühle. Er kenne wohl die „strengen Verpflichtungen der Kinder gegenüber jenen, denen sie ihr Dasein verdankten“, und wolle seiner Mutter nun beweisen, dass „sein Empfinden darauf abzielt, sie zu trösten, so weit es in seiner Macht steht, und ihr Leben weniger hart zu machen“. „Da er seine Mutter in einer Lage erblickt hat, in der sie nicht länger imstande war, zu leben und sich ohne seine Hilfe selbst zu versorgen“, habe er sie dringend gebeten, zu ihm zu ziehen.13

Marie Aymards Antwort – in den Worten, die sie oder ihr Sohn diktiert hatten oder der Notar selbst formulierte – war eher kühl. „Da sie von dem guten Herzen ihres Sohnes nutznießen will“, heißt es da, und „unter der Annahme, dass sein Wohlwollen ihr gegenüber anhalten und er sie nicht jenem schlimmen Schicksal überlassen wird, in das ihr trauriges Los sie ohne Zweifel bringen würde“, habe sie ihrerseits entschieden, sein Angebot anzunehmen und in seinen Haushalt zu ziehen. Ihre Möbel sowie ihren sonstigen Hausrat brachte sie mit, und auch diese werden in der Notarsurkunde benannt und beschrieben: zwei alte hölzerne Betten mit einem schon stark verschlissenen Bezug aus grünem Sergestoff; zwei Halbkommoden oder Schränkchen aus Pappelholz; ein „abgenutzter“ Tisch mitsamt „zehn alten, schlechten Stühlen“; zwölf Teller, sechs Löffel aus schlichtem Zinn, sechs Gabeln aus Blech und sechs Bettlaken. Die „beiden Parteien“ – Marie Aymard und ihr Sohn – vereinbarten, dass der Wert des mütterlichen Besitzes 130 Livres betrug und dass sie aufgrund des Umzugs „keinerlei Gemeinschaft oder Vereinigung begründe[te]n, weder direkt noch indirekt, weder stillschweigend noch aus Gewohnheitsrecht“.14

Doch auch in dem neuen Haushalt, der keine Gemeinschaft oder Vereinigung war, blieb das Leben wohl hart, und als Gabriel im Oktober 1763 heiraten wollte – und zwar Marie Adelaide Devuailly, die einer Tuchfärberfamilie aus Amiens entstammte und sich erst kürzlich in Angoulême niedergelassen hatte –, da gab er an, dass seine Mutter „zum jetzigen Zeitpunkt über keinerlei Besitz, Mobiliar oder Grundeigentum verfügt“.15 Einige Wochen darauf tauchten Marie Aymards Möbel schon wieder in einer notariellen Urkunde auf. Im Januar 1764 erschienen Gabriel und seine Mutter vor einem anderen Notar, Jean Bernard mit Namen, von dem es hieß, er habe „zahlreiche Schriftstücke für die kleinen Leute gemacht“. Bei dieser Gelegenheit wurde Gabriel als „Schreibemeister“ oder „Meisterschreiber“ bezeichnet.16 Und auch dieses Mal erzählten Gabriel Ferrand und Marie Aymard eine Geschichte. In den Jahren seit 1760, so legten sie dar, hatte Gabriel sich mehrfach gezwungen gesehen, Zahlungen an eine Reihe von Gläubigern seiner Mutter zu leisten, und zwar „aus eigenen Mitteln“, denn jene hätten sonst „das besagte Mobiliar“ gepfändet. Marie hatte Schulden bei einem Schuster; einem Produzenten von Pottasche (die als Waschmittel verwendet wurde); einer Person, die Kochfett verkaufte; und einem Tuchhändler. Insgesamt beliefen sich ihre Schulden auf 290 Livres.17

Um wenigstens einen Teil seiner Aufwendungen zurückzuerhalten, erklärte Gabriel, habe er bereits mit dem Gedanken gespielt, eine amtliche Verfügung gegen seine Mutter zu erwirken, damit er selbst das Mobiliar einziehen und gerichtlich versteigern lassen könne. Jedoch habe Marie ihm versichert, dass schon die Kosten einer solchen Zwangsversteigerung den Wert der Möbel fast zur Gänze aufzehren würden. Deshalb schlug sie vor, das Konvolut ihm zu verkaufen, „a la miable“: zu einem Freundschaftspreis; so hatte er 1763 das gesamte Mobiliar für 130 Livres erstanden.18 Am Tag...

Erscheint lt. Verlag 22.7.2022
Übersetzer Tobias Gabel, Jörn Pinnow
Sprache deutsch
ISBN-10 3-8062-4481-2 / 3806244812
ISBN-13 978-3-8062-4481-6 / 9783806244816
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