Circuito grande (eBook)
268 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7519-4801-2 (ISBN)
Duanna Mund Birgit Winkler: geboren 1960 in Graz; wohnhaft in Lieboch, Weststeiermark / Österreich; Mutter zweier Kinder; Ausbildung: Studium an der Karl-Franzens-Universität und Kunstuniversität Graz; Berufliche Tätigkeit: Lehrerin an einem Grazer Gymnasium (Musik und Geografie/ Wirtschaftskunde); Hobbies: Musik (Klavierspiel, Querflöte, Gesang), Reisen, künstlerische Fotografie. 2010: erste literarische Veröffentlichungen; Bis 2019: Fertigstellung und Veröffentlichung unterschiedlicher Textgattungen (Roman, Lyrik, Essay, Reiseführer und Jugendliteratur) Die Autorin setzt in ihren literarischen Werken einen gesellschaftspolitischen Schwerpunkt. Der Subtext ihrer Romane ist wesentlicher Motor ihrer Inspiration. In ihrer zutiefst persönlichen Ausdrucksweise setzt sie das Wort als Klangmittel ein, dessen Metaebene sich dem Lesenden mitteilt, ohne sich ihm aufzudrängen. In gereimten, freirhythmischen und experimentellen Gedichten findet die Autorin eine Ausdrucksform, die der poetischen Seite ihres Wesens entspricht. Für die schreibende Musikerin ist die Lyrik mit ihren Sprachmelodien, Rhythmen und Klängen die geeignete Ausdrucksform, Unaussprechliches auszusprechen. Ein weiteres kreatives Betätigungsfeld der Autorin ist die Reisefotografie. Zahlreiche Multimedia-Shows bilden eine eindrucksvolle und lebendige Symbiose aus Bild, Musik und Erzählkunst. Birgit Winkler ist Mitglied des Vereins Steirische Autoren, des Grazer Literaturclubs; des Turmbunds / Innsbruck sowie der IG Autoren. Website: www.birgitwinkler.at
Auf Stahlflügeln ins Land der Kondore
Santiago 1
Reisefieber? Freudige Erwartung? Endlich-so-weit-Gefühle? Wären wir in der Lage, uns auf den Schwingen des Kondors zu erheben, um in Richtung Anden aufzubrechen, gelänge es wohl, den Moment zu würdigen, in dem ein Jahr akribischer Vorbereitung und Wunschdenkens in reales Erleben übergehen. Die Wirklichkeit des Aufbruchs ist immer ernüchternd und von unbequemen Sachzwängen beherrscht. Die ineinander verzahnten Anschlussflüge in Frankfurt und Sao Paulo klappen wie am Schnürchen. Nach mehr als 12 Stunden Anreise überfliegen wir das weite Längstal zwischen Küstenkordillere und Andenhauptkette. Letztere gipfelt im Südosten von Santiago im 6.961 Meter hohen Aconcagua. Unter uns liegt die einem Kraken mit unzähligen Fangarmen gleichende Hauptstadt. Der bunte Flickenteppich des Häusermeeres wird nur von den Glasklötzen des Business-Distrikts unterbrochen. Wir lassen die Einreiseformalitäten in Santiago de Chile über uns ergehen und werden mit der PdI, einem Dokument der Policía de Investigaciones, in die südamerikanische Freiheit entlassen. Mit dem öffentlichen Flughafenbus und der U-Bahn geht es zu unserem Appartement Miguel Claro 730 in der Remodelacion San Borja, einem ruhigen Wohnbezirk nahe der Innenstadt.
Schon auf dem 10-minütigen Fußweg von der U-Bahn-Station zu unserer Wohnung fällt auf, dass sich die Stadt in einem Ausnahmezustand befindet. Die Glasscheiben der Geschäfte sind mit Blech und Spanplatten zugenagelt. Lediglich mannshohe und –breite Eingangsschlitze bleiben frei, um das Geschäft zwar am Laufen zu halten, die Verkaufsräume aber augenblicklich abzuriegeln, sobald die Aufstände gegen das Regime losgehen. Überall zerschmolzene Mistkübel, die offensichtlich in Brand gesetzt wurden, heruntergerissene Stromleitungen, zerschlagene Straßenlampen. Drei U-Bahnstationen im Innenstadtbereich sind geschlossen.
Weil auf den Straßen vorerst alles friedlich zu sein scheint, beschließen wir, die Vormittagsstunden zu nützen und brechen in Richtung Zentrum auf. Wir spazieren den Paseo Ahumada entlang, lassen uns vom Geschiebe der Menschen tragen. Eine artistische Gruppe von Perkussionisten sorgt für ohrenbetäubende Unterhaltung. Die jungen Männer stauen mit ihren umgeschnallten Trommeln ausgeklügelte Choreografien aus Schrittkombinationen und atemberaubenden Drehbewegungen den Menschenstrom. Etwas verunsichert umklammern wir unsere Fotoapparate.
Die Plaza de Armas ist ein weiter, viereckiger Platz mit prächtigen Blauglockenbäumen, europäisch anmutenden Häusern aus der Gründerzeit und einem Standbild des Stadtgründers Pedro de Valdivia. Eine weitere Statue zeigt als Allegorie der indigenen Völker Chiles ein indianisches Haupt. Die Catedral Metropolitana sowie die Hauptpost Correo Central fügen sich in das mondän wirkende Gesamtbild. Nahezu alle zentralen Plätze der lateinamerikanischen Städte weisen einen rechteckigen Grundriss auf, sind raumfüllend und tragen den Namen Plaza de Armas. Ausladende Baumkronen spenden Schatten und sorgen im Frühling mit ihrem Blütenkleid für hübsche Farbakzente.
Straßenverkäufer gehen in der Calle Puente ihrem Schattengewerbe nach, stets bereit, vor der Polizei Reißaus zu nehmen. Weil Wachbeamte wegen der Demonstrationen an jeder Ecke zu finden sind, ist die Stimmung spürbar nervös. Der Mercado Central enttäuscht. Statt des erwarteten Marktgeschehens finden wir eine Fressmeile mit aufdringlichen Kellnern vor, die uns in ihre Lokale lotsen wollen. Erst als wir so tun, als gehörten wir zu einer Reisegruppe, können wir in Ruhe die luftige Eisenkonstruktion der Halle bestaunen, die im Jahr 1872 errichtet wurde. Gleich nebenan steht die noch beeindruckendere Eisen- und Glasarchitektur des ehemaligen Bahnhofs, der Estación Mapocho. Über die hübsche Cal-y-Canto-Brücke gelangen wir zum linksseitigen Ufer des Mapocho. Das lehmfarbene Rinnsal hinterlässt in seinem überdimensionalen, betonierten Flussbett einen kläglichen Eindruck.
Wir folgen dem Rat der Beamtin des Tourismusbüros, am Nachmittag das Regierungsviertel und die Innenstadt zu meiden, und halten uns nun im Künstlerviertel Bellavista auf. Hier sollten wir nicht Gefahr laufen, in eine der Demonstrationen hineingezogen zu werden. Die kunstvollen Graffitis an den Hausfassaden der Santa Filomena begeistern uns. Weil das Stadthaus Pablo Nerudas, die „La Chascona“, geschlossen ist, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns mit einem Erinnerungsfoto von der Straße aus zu begnügen. Schade, denn im Haus befinden sich etliche Originale seiner Werke! Der Name La Chascona bezieht sich übrigens auf die Haare seiner dritten Frau Mathilde Urrutia und bedeutet Strubbelkopf. Nach dem Tod Nerudas wurde das Haus von Pinochets Militär verwüstet und die untere Etage geflutet. Wir trösten uns mit der Aussicht auf die Besichtigung einer der prunkvollen Villen des Dichters in Valparaiso und Isla Negra.
Auf dem Heimweg auf der Avenida Maria kommen uns tausende Fahnen schwingende Demonstranten entgegen. Wenngleich sie ihrem Zorn in Sprechchören Luft machen, wirken sie nicht sonderlich gewaltbereit. In der Zusammensetzung erinnert der Menschenstrom an die aktuellen Fridays-for-future-Demos zu Hause – viele junge Gesichter aber auch Männer und Frauen, die nun bereits seit Monaten nach Dienstschluss auf die Straßen gehen und gegen Neoliberalismus und die Auswüchse einer globalisierten Wirtschaft kämpfen.
Chile despertó!
Santiago 2
Bereits der zweite Tag unserer Reise verläuft anders als erwartet. Weil wir den Vormittag dazu benötigen, uns vom staatlichen Anbieter WOM den Internetzugang freischalten zu lassen, ist es anschließend zu spät, eines der Ausflugsziele des Umlandes anzufahren. Zähneknirschend beschließen wir, den Nachmittag über in der Hauptstadt zu bleiben.
Mit dem Vorsatz, vorsichtig zu sein, besuchen wir erneut die Innenstadt. Die Iglesia San Francisco ist ein steinerner Bau in der Form eines lateinischen Kreuzes. Die kunstvoll geschnitzte Decke aus Holzintarsien bildet den schönsten Schmuck des im Übrigen schlicht wirkenden Gotteshauses. Der Kirche angeschlossen befindet sich ein ehemaliges Kloster, das heute zum Museo de Arte Colonial umgestaltet ist. Ein Kreuzgang führt um den Innenhof, der eher einem verwunschenen, tropischen Dschungel denn einer gepflegten Gartenanlage gleicht. In einem der klösterlichen Räumen kann man die Virgen del Socorro bestaunen, eine kleine Marienstatue, die der Stadtgründer Pedro de Valdivia stets am Sattelknauf seines Pferdes mit sich getragen haben soll. Ob deshalb seine kriegerischen Eroberungszüge vor seinem Christengott Vergebung fanden?
Ein weiterer Raum beherbergt die Nobelpreisurkunde der chilenischen Lyrikerin Gabriela Mistral aus dem Jahr 1945. Wie zeitlos Lyrik ist, zeigt sich an einem ihrer Gedichte, lässt diese sich doch problemlos auf die aktuelle Situation ihres Heimatlandes übertragen. In einfachen Worten, die einem Kinderlied entnommen sein könnten, sehnt sich die Dichterin in eine Welt, die, in einen paradiesischen Urzustand zurückgekehrt, allen gehört. Ich gebe die Zeilen in der deutschen Übertragung von Albert Theile wieder.
Bitteres Lied
Spielen wir, komm, mein Kind,
König und Königin!
Dies grüne Feld ist dein.
Wem soll es sonst gehören?
der wogende Klee,
für dich muss er sich wiegen.
Dies ganze Tal ist dein.
Wem sollt’ es sonst gehören?
Damit wir sie genießen,
werden Äpfel honigsüß im Hain.
Nein, nicht wahr ist’s,
dass du frierst wie das Kind von Bethlehem,
dass deiner Mutter Brust
vor Schmerz versiegt!
Dem Schäfchen wächst die Wolle.
Für dich wird man spinnen das Vlies.
Dein sind die Herden, die Schafe.
Wem sollten sie sonst gehören?
Und die Milch im Stalle,
die in den Eutern fließt,
und die Garben des Korns −
wem sollten sie sonst gehören?
Nein, nicht wahr ist’s,
dass du frierst wie das Kind von Bethlehem,
dass deiner Mutter Brust
vor Schmerz versiegt!
Ja, spielen wir, Kind,
König und Königin!
Gabriela Mistral
Die Nationalbibliothek an der stark befahrene Avenida Bernado O´Higgins, von den Städtern auch Alameda genannt, ist verbarrikadiert, der Sockel mit martialisch anmutenden Parolen beschmiert. ‚Sin justicia no paz’ (‚Ohne Gerechtigkeit kein Friede’) prangt es in roten Lettern vom Sockel des Gebäudes, gleich daneben Schmähschriften gegen Piñera, den Regierungschef, in denen ihm der Tod an den Hals gewünscht wird. Das Hochhaus auf der gegenüber liegenden Straßenseite zeigt deutlich die Spuren...
Erscheint lt. Verlag | 25.6.2020 |
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Sprache | deutsch |
ISBN-10 | 3-7519-4801-5 / 3751948015 |
ISBN-13 | 978-3-7519-4801-2 / 9783751948012 |
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