Mitten im Land der Mitte -  Achim Höfling

Mitten im Land der Mitte (eBook)

Anekdoten, Abenteuer und andere Geschichten aus China von einem, der da war
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
182 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7504-5510-8 (ISBN)
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Vor sechs Jahren zog Achim Höfling aus dem beschaulichen Unterfranken in die chinesische Zehnmillionenstadt Wuhan. Vom ersten Kulturschock ließ er sich jedoch nicht beirren, stattdessen lernte er unerschrocken Mandarin und versuchte herauszufinden, wie Land und Leute ticken. Wenn ihm das mal wieder zu viel wurde, machte er kurzerhand eine Reise. Am Ende hatte er - zu seiner eigenen Überraschung - das ganze Land bereist (und damit sind wirklich alle 34 chinesischen Provinzen gemeint!). In 65 knackig-kurzen Kapiteln präsentiert dieses Buch die schönsten Erlebnisse, unvergesslichsten Erfahrungen und interessantesten Erkenntnisse des Autors. Wer ein Handy besitzt, kann sogar die 280 handverlesenen Farbfotos betrachten, die sich - bei den jeweiligen Kapiteln - hinter den abgedruckten QR-Codes verstecken.

Chinesische Schulen


9. Chinesische Schulen

Als ich einer chinesischen Bekannten mal erzählte, dass ich aus einem Ort in Deutschland mit 1.300 Einwohnern komme, rief sie: „So klein? Meine Grundschule war größer!“. Ich war ein kleines bisschen beleidigt, konnte ihr aber nicht böse sein, denn tatsächlich sind fast alle Schulen in China – zumindest in den Städten – riesig.

An meiner Schule beispielsweise, der Fremdsprachenschule Wuhan, gibt es in jeder Jahrgangsstufe neun bis zehn Parallelklassen und in jeder Klasse sind normalerweise so um die 50 Schüler. Das macht allein am Oberstufen-Campus, wo die Jahrgangsstufen 10 bis 12 unterrichtet werden, fast 1.500 Schüler. Am anderen Standort der Schule befindet sich die Unterstufe (7. - 9. Klasse) und eine Grundschule (1. - 6. Klasse) mit zusammen nochmal 3.500 Schülern. Macht insgesamt über 5.000 Schüler! Als einmal ein Betriebsausflug für alle Lehrer und Beschäftigten organisiert wurde, brauchten wir sechs Busse.

Es geht aber auch eine Nummer größer: Eine Schule in der Provinzhauptstadt Jinan, an der ich drei Tage lang Deutschprüfungen abnahm, hat 10.000 Schüler an drei Standorten! Ich bezweifle, dass der Direktor alle 900 Lehrer kennt.

Nicht nur in der Größe, auch bei der Architektur unterscheidet sich die typische chinesische Schule von denen in Deutschland. Zuerst einmal gibt es in der Regel nur einen Eingang zum Schulgelände. Dort gibt es ein rund um die Uhr besetztes Pförtnerhäuschen und die Pförtner – stets in schicker Uniform – achten darauf, dass keine Fremden auf das Schulgelände spazieren. Auf dem Gelände finden sich typischerweise ein großer Sportplatz, Schüler-Wohnheime, eine zentrale Mensa, ein Gebäude mit Büros für die Schulverwaltung und alle Lehrer, sowie natürlich das Gebäude mit den Klassenzimmern. Die sahen auch in allen von mir besuchten Schulen gleich aus: Es gibt einen großen Innenhof und auf zwei gegenüberliegenden Seiten befinden sich nebeneinander die Klassenzimmer, etwa sechs auf jeder Seite. Da diese Unterrichtsgebäude mindestens vier bis sechs Stockwerke hoch sind, gibt es überall definitiv genug Räume für alle – egal wie viele Tausend Schüler eine Schule hat.

10. Schule in China: die kleinen Unterschiede

Darauf hatte ich mich schon gefreut: Die hundert Kleinigkeiten, die in China anders organisiert sind als bei uns. Nicht unbedingt besser oder schlechter, sondern einfach anders. Ich mag es, wenn Dinge, die ich bislang für zwingend hielt, auf einmal nur zu einer Möglichkeit unter vielen werden. Hier eine Auswahl aus der Schule:

  • Ungewohnt: Die Schüler stehen nicht etwa zur Begrüßung auf, sondern jedes Mal wenn sie eine Frage beantworten.
  • Überraschend: Selbst im kleinsten Klassenzimmer gibt es einen PC, einen Beamer an der Decke und Lautsprecher an der Wand – nichts ist top-modern, aber alles funktioniert! Overhead-Projektoren gibt es dafür keine.
  • Weltoffen: Das Klassenzimmergebäude ist auf zwei Seiten offen. Das gilt auch für das Erdgeschoss. Man kann das Gebäude also weder abschließen, noch im Winter heizen (die einzelnen Räume natürlich schon).
  • Irreführend: die Nummerierung der Klassenzimmer. So liegen Klassenzimmer 35 und 501 nebeneinander, die meisten haben gar keine Nummer.
  • Irritierend: Lehrer, die auf dem Weg von einem Klassenzimmer zum anderen eine Zigarette rauchen (und die Kippe dann auf die Fliesen schnippen!)
  • Staubig: In den Klassenzimmern gibt es keine Waschbecken. Dementsprechend werden die Tafeln ausschließlich trocken gewischt und meine Hände und Hosen sind stets voller Kreidestaub.
  • Vertrauensvoll: Als Lehrer habe ich keine Schlüssel für die Klassenzimmer. Die schließt immer ein Schüler auf. Aus jeder Klasse hat einer den Schlüssel.
  • Unüblich: sich melden. Wenn ich der Klasse eine Frage stelle, tut sich in der Regel gar nichts. Ich muss schon jemanden namentlich aufrufen, wenn ich eine Antwort will. Nach einigen Wochen erkannten manche Schüler meine Verzweiflung und begannen, die Antwort reinzurufen. Ein Teilerfolg.

Für Fotos vom chinesischen Schulsystem QR-Code scannen (oder https://mittenimlanddermitte.de/10/ aufrufen):

11. Alltag für chinesische Schüler

Man kann ja auch in Deutschland immer wieder mal lesen, wie hoch die Arbeitsbelastung und die Unterrichtszeiten für die chinesischen Schüler sind – und das kann ich nur bestätigen.

Das liegt zum einen daran, dass Schule in China immer Ganztagsschule ist. Der normale Unterricht an meiner dauert von 8.20 Uhr bis 16.35 Uhr. Aufgelockert wird der Tag aber durch viele Pausen: zwischen jeder Stunde sind mindestens 10 Minuten Luft, mittags zwei Stunden. Somit hat ein Schüler bis zum Nachmittag nur sieben reguläre Unterrichtsstunden à 45 Minuten. So weit, so gut.

Daneben haben die Schüler aber jeden Tag vor dem Unterricht bzw. am Abend noch die sogenannte 'Morgenstunde' (von 7.55 bis 8.15 Uhr) und 'Abendstunde' (von 19.00 bis 20.20 Uhr). Das ist so eine Art Übungsstunde, und zwar jeden Wochentag für ein anderes Fach: am Mittwoch ist beispielsweise Mathe dran, am Donnerstag die Fremdsprache. Die Schüler, die unter der Woche im Wohnheim der Schule schlafen, haben von 20.30 bis 22.00 noch eine beaufsichtigte Arbeitszeit – schließlich müssen sie ja irgendwann ihre umfangreichen Hausaufgaben machen. Wahlkurse finden in der Mittags- oder Nachmittagspause statt. Ab der 9. Klasse ist auch am Samstag vormittag Unterricht.

Was sagen die Eltern?

Ich vermute in Deutschland würden die Eltern den Politikern oder Schulleitern, die solche Unterrichtszeiten einführen wollen, aufs Dach steigen. In China ist das anders, hier unterstützen die Eltern die lange Lernzeit aus vollem Herzen. Viele wünschen sich sogar noch mehr und melden ihre Kinder am Wochenende und in den Schulferien für zusätzlichen privaten Unterricht an. Ein paar Beispiel: An einem Samstag mittag um halb eins (also nach Unterrichtsschluss und Mittagessen) begegnete ich mehreren Schülerinnen der 10. Klasse auf der Straße, die gerade von der Schule zu ihrem privaten Englischunterricht gingen. Und eines Sonntag nachmittags gegen halb drei sprach ich mit einem 7. Klässler, der auf seinen Vater wartete, damit ihn dieser zum privaten Chinesischunterricht fährt. Wo wartete der Schüler? Vor einer anderen Nachhilfeschule, wo er gerade Englischunterricht hatte. Er erzählte mir auch, dass er jeden Samstag extra-Matheunterricht besucht. In der Oberstufe gibt es sogar Schüler, die an einzelnen Abenden nach dem Unterricht (also um neun Uhr abends!) außerhalb der Schule noch eineinhalb Stunden Mathe oder Chemie haben.

Diese Kurse lassen sich nur begrenzt mit unserem Nachhilfeunterricht vergleichen. Denn während in Deutschland die schlechten Schüler zur Nachhilfe gehen, sind es in China die besonders ehrgeizigen (bzw. die mit besonders ehrgeizigen Eltern).

Was sagen die Schüler?

Wenn man die Schüler selbst fragt, kritisieren sie vor allem die vielen Hausaufgaben. Hier wünschen sich praktisch alle ein erträglicheres Maß. Weitgehend hingenommen wird hingegen die hohe Stundenzahl. Das Argument, mit dem diese von den Schülern gerechtfertigt wird, ist der gute Abschluss, den man braucht, um einen Studienplatz an einer guten Universität zu bekommen.

Wie sind die Schüler?

Wer jetzt glaubt, dass die chinesischen Schüler bedauernswerte Lernzombies sind, die ein völlig freudloses Leben fristen, der täuscht sich. Denn lebensfroher als die Schüler hier können Jugendliche kaum sein! Natürlich gilt das nicht für jeden einzelnen, aber obwohl sie kaum Freizeit haben, wirken die chinesischen Jugendlichen insgesamt ein ganzes Stück glücklicher als die deutschen. Dieser Widerspruch hat mich jahrelang beschäftigt.

Der Grund liegt glaube ich im Umgang der chinesischen Jugendlichen untereinander. In Deutschland ist die Pubertät davon geprägt, sich über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe selbst zu definieren (z.B. als Nerd, Sportler, Hip-Hopper, Fashion Victim, usw.) und sich so von anderen abzugrenzen. Zu welcher Peer-Gruppe man gehört, entscheidet darüber, welche Kleidung man trägt, welche Musik akzeptabel ist, welche YouTube-Videos man kennen muss und mit wem man befreundet sein darf. Diese ganzen Gruppenzwänge zu navigieren und sich selbst noch treu zu bleiben, macht das Aufwachsen in Deutschland ganz schön schwierig. In China wird man als Jugendlicher von seinen Gleichaltrigen jedoch viel mehr so akzeptiert, wie man ist, was einen ganz großen Stressfaktor aus dem Leben streicht.

Ein Beispiel: In meiner allerersten Stunde in einer 8. Klasse gab es einen Schüler, der ein bisschen abseits saß. Und als er beim Deutsch Sprechen einen Fehler machte, lachten ihn die anderen aus. Ich schimpfte alle anderen und wusste, dass...

Erscheint lt. Verlag 7.1.2020
Sprache deutsch
ISBN-10 3-7504-5510-4 / 3750455104
ISBN-13 978-3-7504-5510-8 / 9783750455108
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