Bilder, die ich mir machte -  Eberhard Tschepe

Bilder, die ich mir machte (eBook)

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2019 | 1. Auflage
284 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7504-4644-1 (ISBN)
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Eberhard Tschepe erzählt von seinem Leben östlich der Neiße, der heutigen die Grenze zu Polen und der Flucht nach Bayern. Er ging in Kulmbach, Langenau bei Ulm und Bamberg zur Schule. Dort machte er eine Fotografenlehre. Danach arbeitete er zehn Sommer lang als Strandfotograf auf ostfriesischen Nordseeinseln und im Winter als Ball- und Sportfotograf in Zürs, Zermatt, Garmisch-Partenkirchen und im Kleinwalsertal. Er studierte zwei Semester am Deutschen Institut für Film und Fernsehen in München. 1963 lebte er zum ersten Mal für drei Monate in Jerusalem, wo seine Frau neun Monate lang mit einer Gruppe der Aktion Sühnezeichen arbeitete. Später hatten Tschepes dort achtzehn Jahre lang eine eigene Wohnung. Ab 1965 arbeitete er dreißig Jahre lang als Kameramann beim SDR/SWR in Stuttgart. In dieser Zeit produzierte er ebenso eigene Filme wie davor und danach. Für Steven Spielbergs Survivors Of The Shoah Visual History Foundation nahm er oft stundenlange Gespräche mit Überlebenden der Schoah auf. Bilder, die er machte, entstanden mit Foto- und Filmkameras, manche nur in seinem Kopf, und die reichten - neben sehr persönlichen Geschichten - von Antisemitismus bis Zionismus.

Es gibt Situationen im Leben, an die man sich so genau erinnert, dass man noch nach vielen Jahren weiß, wo man an diesem Tag war und was man zu dieser Stunde tat. Für viele Menschen in Deutschland, die das Ende des zweiten Weltkrieges erlebten, sind das vielleicht ähnliche Momente wie bei mir.

Der 13. April 1945 ist für mich solch ein Tag. Vier Monate vor meinem neunten Geburtstag marschierten Soldaten des 63rd Armored Infantry Battalion ins oberfränkische Kulmbach ein. Mir ist dieser sonnige Frühlingstag so lebhaft in Erinnerung wie wenige andere Tage meiner Kindheit. Ich saß in einem Bus der deutschen Wehrmacht, der mit roten Kreuzen als Sanitätsfahrzeug gekennzeichnet war. Der deutsche Soldat am Steuer des Busses reihte seinen Wehrmachtbus hinter den ersten drei Fahrzeugen in die amerikanische Panzer-Kolonne ein.

Oder die entscheidende Stunde des Tages, an dem die deutsche Fußballnationalmannschaft am 4. Juli 1954 zum ersten Mal Fußballweltmeister wurde. Das verpasste ich bei einer Schiffsreise über den Bodensee. Als ich mit einem Freund in Friedrichshafen abfuhr, stand es 2:0 für Ungarn. Als wir eine Stunde später in einer Schweizer Jugendherberge ankamen, erzählte ein Junge, Deutschland habe 2:3 gewonnen, und wir glaubten, er wolle uns einen Bären aufbinden.

Und als am 13. August 1961 die Berliner Mauer gebaut wurde, hörte ich das kurz nach fünf Uhr morgens im Radio. Ich lag im Bett und glaubte, im Halbschlaf etwas falsch verstanden zu haben. Als die Mauer achtundzwanzig Jahre später fiel, erfuhr ich das auf einem Schiff in der Nähe von Kreta. Dieses Mal glaubte ich es wirklich nicht. Ich stand in einer Reihe mit Passagieren, um Abendbrot vom Büfett zu holen. Ich hatte mir gerade das Tablett dafür genommen, da hörte ich, wie ein Engländer hinter mir zu einem Mitreisenden sagte:

„The Berlin wall is broken!“

Ich lächelte ihn an und dachte, wie kann der solche Märchen erzählen. Vielleicht hat irgendein Spinner versucht, ein Stück aus der Mauer zu brechen. Was wirklich geschah, war für mich auch deswegen unvorstellbar, weil ich die Nachrichten der letzten Tage verpasst hatte. Es gab kein Fernsehen an Bord, auch keine Radio-Nachrichten. Und ein Telefon, mit dem man als Schiffsreisender von hoher See aus hätte telefonieren können, gab es 1989 auch nicht.

Neben diesen Ereignissen, die in die Weltgeschichte eingingen, bestimmten zwei private Ereignisse mein Leben. Das erste erlebte ich in der Silvesternacht von 1944 auf 1945.

Ich war acht Jahre, vier Monate und acht Tage alt und durfte auch deswegen nicht lang auf bleiben, weil meine Mutter Besuch hatte. Es war ein Soldat in SS Uniform. Im Wohnzimmer brannte Licht. Das störte mich. Ich lag lange wach auf der Seite des Ehebettes, die meinem Vater gehörte, der irgendwo im Osten „im Felde stand“. Nicht die Silvesternacht hielt mich wach, sondern der Mann im anderen Zimmer. Ich wusste, der gehörte nicht dorthin. Sehr spät schlief ich ein und wachte mitten in der Nacht auf. Noch halb schlafend bemerkte ich, dass sich neben mir etwas bewegte, im Bett meiner Mutter. Ich hörte Geflüster. Entsetzt erkannte ich den Grund der Unruhe, wollte nicht glauben, nicht wahr haben, was ich vermutete. Sicher war dies nur ein Traum. Ich drehte mich vom Bett meiner Mutter weg und riss die Augen weit auf. Soweit es die Dunkelheit zuließ, sah ich neben mir ganz deutlich den Nachttisch und die Tür zum Wohnzimmer. Dort brannte kein Licht mehr. Ich wusste, es war kein Traum und ich wollte auf keinen Fall zum Bett meiner Mutter hinschauen. Ich besah mir den Fußboden neben dem Nachttisch und entdeckte einen Abgrund. Direkt neben meinem Bett war das Haus abgebrochen. Deutlich erkannte ich einzelne Steine und Balken.

Als es hell wurde, merkte ich, dass das Haus nicht zerstört war. Teppichmuster, in denen ich nachts Steine und Balken sah, hatten mir den vermeintlichen Abgrund vorgegaukelt. Ich stand auf und schlich aus dem Zimmer, ohne zu meiner Mutter zu schauen, denn ich wusste, dass der fremde Mann auch dort lag.

Noch heute, mehr als siebzig Jahre später, versuche ich, wenn ich die letzten Zeilen noch einmal lese, so schnell wie möglich die Gedanken daran zu vergessen.

Irgendwann, viel später, wurde mir klar, dass ich seit dieser Silvesternacht Frauen immer zu zuallererst danach einschätzte, wie sie es wohl mit der Treue hielten.

Das zweite Ereignis, das ich besonders deutlich in Erinnerung habe, war zunächst überhaupt nicht aufregend für mich. Am 20. Mai 1958 verließ ich den kleinen Bahnhof der ostfriesischen Insel Juist. Der Platz vor dem Bahnhof war voller Urlauber, die es sich auf dieser Nordseeinsel zur Gewohnheit gemacht hatten, neu ankommenden Feriengäste immer dieselben Worte entgegen zu rufen:

“Oh wie blaaass, oh wie blaaass!“

Als ich die Stufen hinunter ging, die auf den Platz mit dem Pavillon der Kurkapelle führten, bemerkte ich inmitten der eng gedrängt herumstehenden Menschen, dass mich ein Mädchen anschaute. Als sie sah, dass ich ihren Blick erwiderte, drehte sie sich schnell zur Seite, mit einer Bewegung und einem Gesichtsausdruck, die sagen sollten: Es war ein Versehen, dich anzuschauen, du interessierst mich überhaupt nicht!

Eine Stunde später sah ich das Mädchen wieder, in dem Haus, in dem ich zusammen mit zwanzig anderen für vier Monate leben würde, als Saisonarbeiter in einem Fotogeschäft.

Meike hieß sie und war zusammen mit einer Kollegin zum Bahnhof gekommen, um sich den neuen Strandfotografen anzuschauen, der mit dem letzten Schiff ankommen sollte.

Woran sie mich wohl erkennen wollten?

Meikes dunkles, welliges Haar war ziemlich kurz, sehr kurz ihre roten Shorts, die mir schon im Gewühl vor dem Bahnhof auffielen. Solche Mini-Shorts für Frauen würden erst Jahre später richtig in Mode kommen und dann Hotpants heißen.

Als ich in den 1960er Jahren von Deutschland aus telefonisch ein Telegramm nach Jerusalem aufgeben wollte, fragte die Frau am anderen Ende der Leitung:

„Welches Jerusalem?“

Die Frage überraschte mich so, dass ich nicht gleich antworten konnte. All die anderen Jerusalems auf der Erde sind nach der einen Stadt benannt, die ich meinte.

Nur kleine, christliche Kinder können mit leuchtenden Augen fragen „du fährst in den Himmel?“, wenn sie erfahren, dass jemand nach Jerusalem reist. Das christliche, das „Neue Jerusalem“ liegt für sie im Himmel. „Mein“ Jerusalem ist eine reale Stadt, neunhundert Meter hoch in den Bergen Judäas, eine Autostunde entfernt vom Mittelmeer. Zum Toten Meer in der Jordansenke fährt man eine halbe Stunde. Jerusalem liegt an der Nahtstelle zwischen der mediterranen Landschaft im Westen und der Wüste im Osten.

Aber hier prallen nicht nur das milde Mittelmeerklima und die sengende Hitze der Wüste aufeinander, sondern auch drei Weltreligionen, die sich auf denselben Gott berufen. Dessen Größe, Gerechtigkeit und Liebe priesen zuerst die Juden im Tanach, Jahrhunderte später die Christen in ihrem Neuen Testament. Jerusalem ist deren Heilige Stadt. Im Koran der Moslems ist von Jerusalem nicht die Rede, aber Moslems nennen die Stadt El Kuds, die Heilige.

„Tot ist nur, wer vergessen ist“ las ich auf einem jüdischen Grabstein. Erklärt das, warum Menschen schreiben, malen, Häuser bauen, Kinder zur Welt bringen, fotografieren, filmen?

„Nie darf man die Erschlagenen, Ermordeten, Vergasten der Schoah vergessen, denn erst wenn niemand mehr an sie denkt, sind sie endgültig tot.“

Mit diesem Satz beendete ich einen Film, den ich gedreht hatte, und bekam missbilligend von meiner Frau zu hören:

„Sie sind tot, auch wenn der eine oder andere noch an sie denkt!“

Trotzdem blieb ich bei diesem Filmschluss, weil ich glaube, dass er Wahres enthält. Wenn man die Ermordeten vergisst, ist es für mich, als würden sie noch einmal sterben.

Das klingt schon wie ein Ende, aber ich will erzählen, wie es bei mir nach der Silvesternacht weiter ging und beginne mit einer Geschichte, die mir meine Mutter lachend erzählte. Als sie mich einige Tage nach der Entbindung in das Haus meiner Großeltern trug, habe sie das Bündel, in dem ich eingewickelt war, beim Betreten ihres Elternhauses verkehrt herum gehalten, mit dem Kopf nach unten.

Mir erschien das als ein symbolträchtiges Bild dafür, was meine Mutter mit mir später alles verkehrt machen würde.

Die Erinnerungsbilder an meine frühe Kindheit sind für mich wie aus einer mir fremd gewordenen Welt. Das Haus, in das meine Mutter mich Ende August 1936 trug, lag in der Bösitzerstraße von Guben an der Neiße. Als Kind dachte ich später, dass die Straße so hieß, weil mein Großvater der „Bösitzer“ dieses Hauses war.

Dieses recht große Haus, in dem auch meine Eltern mit mir wohnten, sehe ich deutlicher als das kleine Haus der Eltern meines Vaters, wohin wir nur selten am Wochenende zu Besuch gingen. Dort trafen wir Geschwister meines Vaters und deren Familien. Mein Vater hatte einen Bruder und vier Schwestern. Sein Vater sah so aus wie mein Vater dreißig Jahre später aussehen würde. Dieser...

Erscheint lt. Verlag 31.12.2019
Sprache deutsch
ISBN-10 3-7504-4644-X / 375044644X
ISBN-13 978-3-7504-4644-1 / 9783750446441
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