Komplexität und Systemisches Denken im Geographieunterricht (eBook)
218 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-4715-0 (ISBN)
Beate Ratter
Komplexität und Integrative Geographie – Warum lineares Denken in einer nicht-linearen Welt gefährlich ist
Systeme, verstanden als zusammengesetzte Entitäten, sind mentale Konstrukte, die helfen, komplizierte Zusammenhänge einer maßstabsverschachtelten, vernetzten Welt zu entwirren. Die Komplexitätstheorie adaptiver Systeme begreift Systeme als dynamisch, nicht-linear und aus einzelnen interagierenden Elementen bestehend, die den Systemverlauf (mit)bestimmen. Kleine Veränderungen in den Ausgangsbedingungen können im Verlauf der Systementwicklung zu großen Unterschieden führen. Diesem Verständnis von Komplexität folgend, wird das Verhalten des jeweiligen Systems selbst und nicht seine Struktur als komplex bezeichnet. Das Systemverhalten kann also nicht über das Verstehen der einzelnen Elemente erklärt werden. Drei Aspekte sind in diesem Zusammenhang wichtig: Die Unterscheidung in Struktur- und in Verhaltenskomplexität, die Berücksichtigung von Agenten und deren Interaktion sowie die Überprüfung des noch immer vorherrschenden mentalen Bilds von Systemen. Ihre Relevanz in der Komplexitätstheorie wird in diesem Beitrag untersucht.
„Das Wichtigste, was man über Komplexität wissen muss, ist ganz einfach:
Es kommt immer noch was nach.“
WOLF LOTTER (2006, S. 46)
1. Einleitung
Noch ein Text über Komplexität. Echt jetzt? Dabei sind doch schon ganze Bibliotheken mit Artikeln, Büchern und Zeitschriftensammlungen vollgeschrieben, die erklären, was Komplexität bedeutet, bedeuten könnte oder bedeuten soll. Es lässt sich nichts fundamental Neues über diesen Begriff schreiben, der in unserer Welt so omnipräsent ist. Warum also noch einmal erklären, dass die Komplexitätstheorie adaptiver Systeme aus der Chaostheorie entwickelt wurde? Warum noch einmal schreiben, dass komplex nicht einfach nur noch komplizierter als kompliziert bedeutet und dass lineares Denken bei der Analyse nicht-linearer, dynamischer Systeme nicht wirklich weiterhilft? Warum nochmal die Wissenschaftsgeschichte der Systemtheorien nachzeichnen, um zu verdeutlichen, dass, wie schon Aristoteles gesagt hat: das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile?
In der Geographie haben wir die Tendenz als WissenschaftlerInnen an Altem festzuhalten. Egal welche Paradigmenwechsel sich in der theoretischen Wissenschaftsgeschichte vollziehen, noch immer lernen (und lehren) wir, noch immer betrachten wir die Welt als ein aus Einzelelementen zusammengesetztes System, deren Verbindungen – als Wirkungspfeile dargestellt – das System zusammenhalten und es gleichzeitig von seiner umgebenden Umwelt unterscheiden helfen soll. Man spricht von Gesellschaftssystemen und vom Politischen System, man liest von Fluss- und Küstensystemen oder vom Ökosystem, man hört von systemischen Risiken oder vom Mensch-Natur-System. Unser Blick auf die Welt der Geographie ist von Systemen beherrscht. Dabei sind Systeme nichts anderes als Hilfskonstrukte – eine Denkrichtung –, um die Welt in möglichst kleine Einzelteile zu zerlegen. Systemdenken ist eine Heuristik. Und diese Heuristik ist überholt, soweit sie in der Idee eines linearen, deterministischen, aus einzelnen Teilen zusammengesetzten Rationals verharrt, und sofern sie nicht-lineare, dynamische Systeme beschreiben oder erklären möchte. GERNOT ERNST geht sogar so weit zu behaupten, dass „[…] die wissenschaftlichen Fakten, die im Schulunterricht vermittelt werden, […] meist auf Ergebnissen und Weltbildern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts [beruhen]. Dazu kommen stereotype Darstellungen in den Medien, … nüchtern gesehen, hat also ein großer Teil der Bevölkerung einen Kenntnisstand von vor 1900 mit einigen modernen, aber nicht verstandenen Versatzstücken“ (ERNST 2009, S. 8).
Trotzdem ist bis heute die klassische Systemtheorie in der Geographie eine der dominanten Heuristiken, mit der man sich einer Erklärung der Welt nähert. Dabei hat sich nicht nur die Welt weiterentwickelt – auch die Systemtheorien haben sich weiter ausdifferenziert. Die Überraschungen, das Unvorhersehbare, die Sprünge im Systemverlauf haben uns längst – teilweise schmerzhaft – erfahren lassen, dass nicht-lineare Wechselwirkungen in multi-komponenten (Vielteilchen-)Systemen Synergien und Effekte zeigen, die sich weder auf einzelne Ursachen zurückführen noch längerfristig vorhersagen lassen (MAINZER 2009, S. 223).1 Wissenschaftlich ist es inzwischen längst anerkannt, dass viele unserer ökologischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Probleme globaler, komplexer und nicht-linearer Natur sind.2 Aber eben nur theoretisch.
Es gibt also doch noch einen guten Grund, einen weiteren Text über Komplexität zu schreiben. Mein Ziel ist es, das Bild in unseren Köpfen mal kräftig durcheinander zu rütteln und anzuregen, dass bei jedem einzelnen Mal, wenn von komplex die Rede zu sein scheint, provokant zurückzufragen: Welche Komplexität ist hier eigentlich gemeint?
Deshalb werde ich hier aber nicht die Geschichte der Systemtheorien (sic! Mehrzahl) nacherzählen, das lässt sich vortrefflich an anderer Stelle nachlesen (SIMON, TRETTER 2015; SIMON 2011). Ich werde nicht die Vielfalt der Komplexitätstheorien diskutieren und versuchen zu erklären, was LEWIN von GELL-MANN, was KAUFFMANN von WALDROP oder HOLLAND, was CASTI oder VESTER von LUHMANN unterscheidet.3 Auch darüber wurde an vielen anderen Stellen bereits geschrieben (EGNER 2008a; GARE 2000; MANSON 2001; RATTER 2006; ROPOHL 2012; TURNER, BAKER 2019). Ich lege den Fokus meines Beitrags ganz bewusst auf drei Aspekte, die aus meiner Sicht in Bezug auf die Komplexitätstheorie verstanden als Theorie komplexer adaptiver Systeme zentral sind:
1. Die Unterscheidung zwischen Struktur- und Verhaltenskomplexität, 2. Die Relevanz von Agenten für einen sich verändernden Systemverlauf sowie 3. Die Pfeile zwischen den Kästchen, da sie das Entscheidende sind und nicht die Kästchen. Vielleicht schaffe ich es darzustellen, dass lineares Denken in einer nicht-linearen Welt gefährlich sein kann und dass eine reflektierte Anwendung der Komplexitätstheorie im Kontext der Integrativen Geographie und der Analyse von Mensch-NaturInteraktionen gewinnbringend ist.
2. Unterscheidung zwischen Struktur- und Verhaltenskomplexität
Die Komplexitätstheorie adaptiver Systeme hat in den vergangenen Jahrzehnten in einer ganzen Reihe von unterschiedlichen Disziplinen, auch jenseits der Mathematik, Physik und Informatik, zum Beispiel in der Medizin, der Hirnforschung, Biologie, Ökonomie und den Rechtwissenschaften die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Nach zwei Jahrhunderten des Gleichgewichtsparadigmas stehen die Bildung von neuen Strukturen, die Entfaltung überraschender Muster sowie die Dynamik in natürlichen und in sozialen Systemen im Fokus des Forschungsinteresses. In der klassischen Systemtheorie werden Systeme als „… a set of interacting units or elements that form an integrated whole intended to perform some function” (SKYTTNER 1996, S. 35) verstanden. Konzeptionell betrachtet ist der klassische Systemansatz durch das Konzept des Reduktionismus gekennzeichnet. Einfach betrachtet ist sein Rational dadurch bestimmt, dass er ein System untersucht, indem er seine konstituierenden Elemente trennt und versucht, diese Teile funktionell zu verstehen. Aber komplexe Systeme können nicht durch das Verstehen der einzelnen Elemente verstanden werden. Komplex, aus dem anglophonen Sprachgebrauch übernommen, wird meist umgangssprachlich dafür genutzt, den Aspekt des ‚noch komplizierter als kompliziert‘ auszudrücken. Dieser komparative Superlativ hat mit der Wortbedeutung in der Komplexitätstheorie adaptiver Systeme wenig gemein. Komplex ist nicht bloß komplizierter als kompliziert. Komplex beschreibt mehr – aber welches Mehr?
Eine wichtige und grundlegende Unterscheidung beim Thema Komplexität ist die Unterscheidung in Verhaltens- und Strukturkomplexität. Sowohl in der Natur als auch in Gesellschaften haben wir es mit nicht-linearen, dynamischen VielteilchenSystemen zu tun. Ein System wird hier definiert als ein Ensemble von Elementen mit einer Gesamtheit von (Wirkungs-)Beziehungen, über deren Intensität sich auch eine Abgrenzung zur Umwelt ergibt. In dieser funktionellen Vorstellung entscheidet nicht die Identität eines Elements darüber, ob es als einem System zugehörig betrachtet wird, sondern seine wechselseitigen Beziehungen zu anderen Elementen definieren die Konstruktion eines Systems und dessen Abgrenzung oder Unterscheidung (Differenz) zu anderen Systemen bzw. zu seiner Umwelt.
Dieser systemische Ansatz wird typischerweise in der klassischen Geo-, Landschafts-, Ökosystemforschung für die Zerlegung (Gliederung, Strukturierung) eines Forschungsgegenstands in einzelne Systeme genutzt, die sich überwiegend auf die Elemente und deren Zuteilung zu einzelnen Teil- oder Subsystemen bezieht. Nach LESER, einem der wohl prominentesten Vertreter der (landschafts-)ökologischen Systemforschung, versteht man unter Komplexität den Aspekt der ‚Zusammengesetztheit‘. Der...
Erscheint lt. Verlag | 8.8.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Naturwissenschaften ► Geowissenschaften ► Geografie / Kartografie |
ISBN-10 | 3-7597-4715-9 / 3759747159 |
ISBN-13 | 978-3-7597-4715-0 / 9783759747150 |
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