Geschichte Indiens (eBook)
260 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962335-1 (ISBN)
John Zubrzycki ist ein australischer Historiker. Als Diplomat und Auslandskorrespondent hat er längere Zeit in Indien gelebt. Karin Hielscher, geb. 1969, ist freie Übersetzerin. Für Reclam hat sie zuletzt Benjamin Carter Hetts Eskalationen. Wie Hitler die Welt in den Krieg zwang übersetzt.
John Zubrzycki ist ein australischer Historiker. Als Diplomat und Auslandskorrespondent hat er längere Zeit in Indien gelebt. Karin Hielscher, geb. 1969, ist freie Übersetzerin. Für Reclam hat sie zuletzt Benjamin Carter Hetts Eskalationen. Wie Hitler die Welt in den Krieg zwang übersetzt.
[7]Einleitung
»Was immer sich berechtigterweise über Indien sagen lässt, dessen Gegenteil trifft ebenso zu.«
Die britische Wirtschaftswissenschaftlerin Joan Robinson
Am frühen Morgen des 9. August 1942 wurden der Vorsitzende des Indischen Nationalkongresses Jawaharlal Nehru und neun seiner Mitstreiter am Victoria-Bahnhof in Bombay in einen Zug verfrachtet. Das Ziel des Gefangenentransports war die Festung Ahmadnagar in den schwülheißen Hügeln des heutigen Maharashtra. In der Festung war im Jahr 1707 der letzte Großmogul Aurangzeb gestorben, und der Moment seines Todes war mit einem Wirbelsturm zusammengefallen, der »so heftig war, dass er alle Zelte des Lagers umwarf. […] Dörfer wurden zerstört und Bäume umgestürzt.« Unter den Briten war die Feste Ahmadnagar in ein Hochsicherheitsgefängnis verwandelt worden. Nehrus Inhaftierung dort sollte zwei Jahre und neun Monate dauern – der längste seiner insgesamt neun Aufenthalte als Gefangener des britischen Kaiserreichs Indien, des sogenannten Raj. Sein Verbrechen bestand darin, dass er die »Quit India!«-(›Verlasst Indien!‹-)Bewegung ins Leben gerufen hatte, ein verzweifelter Versuch der Kongresspartei, im Austausch für die indische Unterstützung der geplanten britischen Kriegsanstrengungen im Zweiten Weltkrieg Großbritannien die sofortige Unabhängigkeit abzuringen. Als er entlassen wurde, war der Krieg schon beinahe vorbei.
Indiens zukünftiger Premierminister wählte das Höhlengleichnis, um Ahmadnagar zu beschreiben: ein Gefängnis, dessen Insassen wie in Platons bekannter Parabel nur Schatten von dem sehen können, was um sie herum vorgeht. Trost fand er [8]lediglich im Anblick des Himmels über seinem Gefängnishof mit den »flauschigen und farbenfrohen Wolken am Tag und […] den von strahlenden Sternen erhellten Nächten«. Innerhalb der Mauern des Forts zeigte sich eine andere Art von Kosmos: Nehrus kleine Gruppe von Mitgefangenen repräsentierte einen Querschnitt durch die in Politik und Wissenschaft vertretene indische Gesellschaft. Zusammengenommen sprachen sie vier der klassischen indischen Sprachen – Sanskrit, Pāli, Arabisch und Persisch – sowie mehr als ein halbes Dutzend moderner Sprachen, darunter Hindi, Urdu, Bengali, Gujarati, Marathi und Telugu. »Ich konnte aus all diesem Reichtum schöpfen, die einzige Einschränkung bestand in meiner eigenen Fähigkeit, daraus Nutzen zu ziehen«, sinnierte Nehru. Die Gefangenen legten in der langen Zeit, die sie irgendwie füllen mussten, einen Garten an, hielten improvisierte Seminare ab und spekulierten darüber, was im Rest des Landes vor sich ging. Wie schon während seiner früheren Gefängnisaufenthalte nutzte Nehru die Gelegenheit, um seinen unersättlichen Bildungshunger zu stillen. Er vertiefte sich in die Lektüre klassischer Werke über Geschichte und Politik und übertrug dort entdeckte Ideen in seine eigenen Schriften.
Das an vielen langen, heißen Tagen verfasste Werk, die Entdeckung Indiens (englisch 1946, deutsch 1959), sollte sein bekanntestes werden. Nehru bezeichnete es lediglich als ein »Sammelsurium von Ideen« – eine Reise durch die Vergangenheit, auf der er auch »einen Blick in die Zukunft« warf. Und ein Großteil des Werks ist auch genau das: ein mäandernder Gedankenstrom. Aber er beginnt sein Buch mit einer grundlegenden Frage: Was ist dieses Indien, abgesehen von seinen physischen und geographischen Aspekten? Im letzten Kapitel traut er sich eine Antwort zu: Indien ist »eine kulturelle Einheit inmitten von Mannigfaltigkeit, ein von starken, aber unsichtbaren Fäden zusammengehaltenes Bündel von Widersprüchen. […] Es ist ein [9]Mythos und eine Idee, ein Traum und eine Vision und doch sehr real und präsent und allgegenwärtig.«
Nehrus Schlussfolgerung mag sich frustrierend vage und widersprüchlich anhören, wenn man gerade beginnt, sich mit der Geschichte Indiens zu beschäftigen. Doch wer den Subkontinent als Idee wie als konkretes Gebilde in den Blick nehmen will, kommt nicht umhin, sich klarzumachen, dass Indien seit Tausenden von Jahren Bestand hat und dabei Heimat einer Vielfalt von Religionen, Kulturen, Sprachen, Ethnien und Kasten war. »Indien blickt auf eine lange Tradition der Synthese zurück«, sagte Nehru 1953 in einer Rede und fügte hinzu: Es war »Strömungen ausgesetzt, Fluten an Menschen haben sich hinein ergossen und sich mit dem Ozean vermischt, der Indien ist – was zweifellos zu Veränderungen geführt hat; gleichermaßen haben sie Einfluss auf [Indien] genommen und sind von [Indien] beeinflusst worden.«
Für Nehru lag auf der Hand, dass die Zeit für die »Entdeckung Indiens« gekommen war. Doch für viele Außenstehende ist die »Suche nach Indien«, um den Titel eines Romans von E. M. Forster zu zitieren, eine Herausforderung. Die kulturelle wie sprachliche Komplexität des Landes, die extreme Kluft zwischen Reichtum und Armut, das vielfältige Nebeneinander von Religionen und Ritualen sowie Indiens verworrene, zunehmend umstrittene Geschichte verlangen allen, die sich für das Land interessieren, einiges ab. Es mag unmöglich erscheinen, die sich überlagernden kulturellen, politischen und sozialen Strömungen in einer kohärenten und umfassenden Erzählung zusammenzubringen. Wie der bengalische Schriftsteller und Kulturwissenschaftler Nirad Chaudhuri (1897–1999) bereits in den 1950er Jahren schrieb, ist Indien »so groß und so bevölkerungsreich, dass die Individuen, die die Ausnahmen bilden, durchaus in die Millionen gehen können«.
[10]Ungeachtet der Hürden, die Indiens Komplexität nicht etwa nur den Studierenden der indischen Geschichte, sondern auch den Fachhistorikern in den Weg legt, wäre es töricht, die weitreichenderen Lehren zu ignorieren, die die Vergangenheit und Gegenwart dieses Landes zu bieten hat. Indien ist die älteste Zivilisation der Welt und die größte Demokratie auf unserem Globus. Der Dreh- und Angelpunkt zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil Asiens ist eine selbstbewusste Macht im Indischen Ozean. Das Land verändert sich gerade schnell, während es die letzten Überreste des sozialistischen Experiments über Bord wirft, das seine Wirtschaft jahrzehntelang beherrscht hat, und sich an eine neue Weltordnung anpasst, in der seine Rhetorik der Neutralität – Indiens Weigerung, sich dezidiert auf die Seite der einen oder anderen Supermacht zu stellen – immer weiter in den Hintergrund gerät.
Indien ist noch nicht so weit, dass es China mit dessen glänzenden Hochgeschwindigkeitszügen, glitzernden Mega-Städten oder riesigen, für technikbegeisterte Verbraucher in aller Welt Laptops und Smartphones produzierenden Fabriken nacheifern könnte. Das Potential Indiens hat sich noch immer nicht voll entfalten können, die demokratisch gewählte Führung hat es ein ums andere Mal versäumt, sich in dieser Hinsicht um das Land verdient zu machen. Indien ist reich an natürlichen Ressourcen und verfügt über ein riesiges Reservoir an hochqualifizierten, global einsetzbaren Arbeitskräften. Bis 2025 werden die Inder ein Fünftel der Weltbevölkerung im erwerbsfähigen Alter stellen, und eine Milliarde Inder werden über Smartphones miteinander und mit der Welt verbunden sein. Bevölkerungsexperten hatten erwartet, Indien werde China 2027 überholen, wenn in beiden Ländern die 1,5-Milliarden-Grenze fällt, doch die indische Bevölkerungszahl ist bereits 2023 höher ausgefallen als die chinesische. Spätestens bis 2030 werden die fünf größten Städte [11]Indiens eine vergleichbare Wirtschaftskraft haben wie heute ganze Länder mit mittlerem Bruttonationaleinkommen, beispielsweise Serbien oder Bulgarien. Vor der Covid-19-Pandemie war Indien, gemessen an den börsennotierten Wechselkursen, auf dem besten Weg, bereits 2031 die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt zu werden – nach China und den USA.
Im Gegensatz zur Geschichte Chinas, in der die Yuan-, die Ming- und die Qing-Dynastie direkt aufeinanderfolgen, lässt sich Indiens Vergangenheit mit ihren divergierenden und konkurrierenden Machtzentren nicht so sauber in Perioden einteilen. Selbst auf dem Höhepunkt ihrer imperialen Ausdehnung kontrollierten die drei großen indischen Imperien – das Maurya-, das Gupta- und das Mogul-Reich – nicht den gesamten Subkontinent. Auch Großbritannien konnte erst nach der Niederlage der Marathen im Jahr 1818 diesen Anspruch erheben. Und selbst dann behielten die Fürstentümer, die zwei Fünftel der indischen Landmasse umfassten und in denen ein Drittel der indischen Bevölkerung lebte, noch eine gewisse nominelle Unabhängigkeit.
Die Regentschaft jedes einzelnen Herrschers auf dem Subkontinent, die Geschicke aller großen und kleinen Dynastien sowie die...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2024 |
---|---|
Übersetzer | Karin Hielscher |
Verlagsort | Ditzingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Regional- / Landesgeschichte |
Naturwissenschaften ► Geowissenschaften ► Geografie / Kartografie | |
Schlagworte | Alexander der Große • Bangladesch • Bollywood • Britisches Empire • Buddha • East India Company • Harappān • Kaschmir • Kolonialismus • Mahatma Gandhi • Mogulreich • Narendra Modi • Pakistan • Unabhängigkeit |
ISBN-10 | 3-15-962335-1 / 3159623351 |
ISBN-13 | 978-3-15-962335-1 / 9783159623351 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 12,0 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich