175 Jahre 1848 -

175 Jahre 1848 (eBook)

Liberalismus in Wien von 1848 bis heute
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
233 Seiten
Böhlau Verlag
978-3-205-22039-8 (ISBN)
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Das Jahr 1848 ist für die Geschichte Österreichs von zentraler Bedeutung. Trotz ihrer brutalen Niederschlagung wurden viele Ideen der '1848er' doch in den folgenden Jahrzehnten umgesetzt: Der Erlass von Verfassungsgesetzen, die Gleichberechtigung der Völker und Konfessionen, Schutzrechte der Bürger:innen gegenüber dem Staat, Parlamentarismus sowie ein öffentliches Schulwesen. Diese Errungenschaften wurden maßgeblich von liberalen Akteur:innen geprägt, weswegen 1848 auch für den österreichischen Liberalismus eine wichtige Wegmarke darstellt. In Beiträgen von Wissenschaftler:innen und Wegbegleiter:innen wird der Geschichte dieses Liberalismus seit 1848, sowie den Herausforderungen an den Liberalismus heute nachgegangen.

Pieter M. Judson

Die Bedeutung der österreichischen Liberalen


Das Jahr 1848 und sein Erbe


Die Revolutionen von 1848 in Österreich wurden weder durch die Bemühungen bürgerlicher Liberaler allein ausgelöst, noch sind sie allein durch diese entstanden. Ein Großteil der Gewalt – oder der Gewaltandrohung –, die die Revolutionen vorantrieb und den Zusammenbruch des Metternich-Regimes verursachte, wurde von Aktivisten aus der Arbeiterklasse, dem Handwerk und der Bauernschaft initiiert.1 Dennoch waren es vor allem die österreichischen Liberalen, die im Rahmen der formellen und informellen Politik, den revolutionären Ereignissen eine größere Bedeutung verliehen, indem sie diese Ereignissen mit spezifischen liberalen Wünschen wie der Forderung nach einer Verfassung, nach politischer Partizipation und nach einem Ende der Zensur verknüpften. Die Arbeit der Liberalen in den Jahren 1848–49 sah neue Institutionen, neue politische Praktiken und neue Werte vor, die einen enormen Einfluss auf die späteren Entwicklungen in Österreich hatten. Die Revolutionen von 1848 setzten entscheidende und einflussreiche Ereignisse für das moderne Österreich in Gang, die alle Österreicherinnen und Österreicher kennen sollten, insbesondere heute, wo Politiker und politische Parteien in ganz Europa die Relevanz liberaler politischer Werte in Frage stellen. In einigen Staaten Europas werden die liberalen politischen Werte des Konstitutionalismus und der Bürgerrechte stark in Frage gestellt. Dennoch werden der liberale Charakter und das Erbe der Revolution von 1848 heute in der österreichischen Öffentlichkeit kaum diskutiert.2

Die Männer und Frauen von 1848 haben die nachfolgenden österreichischen Verfassungen, die Kataloge der Bürgerrechte und die Formen der Staatsbürgerschaft, die im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert entwickelt wurden, stark beeinflusst. Die heutige österreichische Gerichtspraxis lässt sich direkt auf die liberalen Reformen zurückführen, die 1848 diskutiert und später in den 1860er und 1870er Jahren umgesetzt wurden. Dasselbe gilt für das entscheidende Engagement der Liberalen im Jahr 1848, allen Österreichern eine säkuläre, wissenschaftlich fundierte Bildung zugänglich zu machen. Mit den 1869 verabschiedeten Bildungsgesetzen war Österreich beispielsweise den meisten anderen europäischen Staaten weit voraus. Das liberale Beharren darauf, allen Österreichern 1848 eine Reihe grundlegender Bürgerrechte zu gewähren, führte schließlich im Laufe des Jahrhunderts zu einer Reihe wichtiger fortschrittlicher Reformen. Einige dieser Reformen waren im europäischen Vergleich einzigartig, vor allem wenn es um die Schaffung einer verantwortungsvollen Zivilverwaltung oder um das Recht ging, im öffentlichen Leben die eigene Sprache zu verwenden.

Wenn heute nur wenige Österreicher über die Bedeutung von 1848 für ihr Rechtssystem und ihre Bürgerrechte Bescheid wissen, gibt es meiner Meinung nach drei Hauptgründe, die erklären, warum die liberalen Vermächtnisse von 1848 aus dem Gedächtnis der österreichischen Öffentlichkeit verschwunden sind. Der erste Grund ist, dass viele zeitgenössische Beobachter und die meisten späteren Historiker der Ansicht waren, dass die Revolutionen gescheitert waren. Oberflächlich betrachtet kann man leicht erkennen, warum dies der Fall sein könnte. In Wien zum Beispiel endete die Revolution mit einem spektakulär gescheiterten Aufstand und der gewaltsamen Rückeroberung der Stadt durch die Kräfte der Reaktion. Diejenigen Revolutionäre, die nicht inhaftiert oder hingerichtet wurden, flohen ins bittere Exil, oft nach Amerika, wo sie liberale Projekte verfolgten und die reaktionäre politische Wende in Europa ablehnten. Das Regime des neuen Kaisers Franz Josef (1830–1916) demontierte auch viele der größten politischen Errungenschaften der Revolution. Im März 1849 beendete Franz Josef beispielsweise die Bemühungen des österreichischen Parlaments in Kremsier/Kroměříž, eine Verfassung für das Reich auszuarbeiten, und schickte die gewählten Abgeordneten nach Hause. Er setzte daraufhin seine eigene, größtenteils von Graf Franz Stadion (1806–1853) verfasste „oktroyierte“ Verfassung durch, die doch einige der Neuerungen der Parlamentsverfassung beibehielt. Kaum zwei Jahre später, im Dezember 1851, gab Franz Josef jedoch auch diese „Stadion-Verfassung“ auf und regierte stattdessen als absoluter Monarch. Zumindest oberflächlich betrachtet kann man mit Fug und Recht fragen: Was ist eigentlich von der Revolution geblieben? Kann man nach 1849 oder 1851 von einem positiven revolutionären Erbe sprechen?

Ein zweiter Grund, warum die liberalen Errungenschaften in Österreich in Vergessenheit geraten sind, liegt darin, dass viele Historiker die Revolutionen als Geburtsstunde des modernen politischen Nationalismus interpretieren, einer mächtigen politischen Kraft, die das Geschehen für mehr als ein Jahrhundert beeinflussen sollte. Die Märzaufstände von 1848 wurden als „Völkerfrühling“ bezeichnet. Diese Bezeichnung bestätigt die allgemeine Auffassung, dass der Aufstieg des sprachlichen oder ethnischen Nationalismus die Hauptgeschichte des Jahres 1848 war. Der Nationalismus entwickelte sich in jenem Jahr in Mitteleuropa zweifellos zu einer politischen Kraft, und für viele Aktivisten im März 1848 war der Nationalismus untrennbar mit dem politischen Liberalismus verbunden. Er war ein wesentlicher Bestandteil des liberalen Gesamtprogramms. Der liberale bürgerliche und studentische Aktivismus des März 1848 in Wien, Graz, Prag, Venedig oder Mailand war stark beeinflusst und ermutigt durch den Einfluss der liberalen und nationalistischen Revolution, die im benachbarten Ungarn stattfand, insbesondere durch den Aktivismus und die Reden des populären Lajos Kossuth (1802–1894). Die liberale Revolution war auch mit dem Nationalismus in Venedig verbunden, wo Revolutionäre unter Daniele Manin (1804–1857) die kurzlebige Republik von San Marco ausriefen.

Viele liberale deutschsprachige Österreicher unterstützten 1848 auch die österreichische Beteiligung an den Verhandlungen zur Schaffung eines geeinten Deutschlands. Einige österreichische Liberale wurden in das Frankfurter Parlament gewählt, das 1848/49 für die Schaffung eines vereinigten Deutschland kämpfte. Der beliebte habsburgische Erzherzog Johann (1782–1859) wurde im Sommer 1848 zum Reichsverweser dieses geplanten vereinigten deutschen Reiches gewählt, und der liberale Österreicher Anton Ritter von Schmerling (1805–1893) diente im Herbst 1848 als Leiter der provisorischen deutschen Regierung in Frankfurt. Der Mährer Karl Giskra (1820–1879) und der Steirer Karl Stremayr (1823–1904) gehörten zu den beiden österreichischen Liberalen, die in das Frankfurter Parlament gewählt wurden und später als Minister in den liberalen Regierungen der 1860er und 1870er Jahre tätig waren.

Doch was bedeutete der Nationalismus im Hinblick auf die politischen Programme der damaligen Zeit? Es wurde zum Beispiel bald klar, dass die Schaffung eines vereinten Deutschlands kein so einfaches oder populäres Projekt war, wie es sich seine frühen Befürworter vorgestellt hätten. Aktivisten, die andere Sprachgruppen oder Nationen vertraten, lehnten die Idee ab, dass sich Österreich einem vereinigten Deutschland anschließen sollte. Viele beantragten beim Hof in Wien neue Rechte, die auf dem Sprachgebrauch beruhten und es unmöglich machten, dauerhaft Teil eines vereinigten Deutschlands zu werden, auch wenn viele Delegierte in Frankfurt andere nationale Gruppen zunächst als „brüderlich“ betrachteten.3 Am bekanntesten ist der böhmisch-tschechische nationalistische Historiker František Palacký (1798–1876), der im Frühjahr 1848 eine Einladung zur Teilnahme am Frankfurter Vorparlament als Vertreter Böhmens ablehnte. Stattdessen formulierte Palacký eine überzeugende Vision der Habsburgermonarchie, die die kleinen slawischen Nationen unter ihren Einwohnern vor deutschen und russischen Gebietsansprüchen schützen sollte. Palackýs Ablehnung Deutschlands war jedoch nur die berühmteste unter vielen.4

Im Herbst 1848 begannen aber auch viele liberale deutsche Politiker zu verstehen, dass nationalistische Konflikte unter den angeblich brüderlichen Völkern Europas die Entwicklung einer liberalen neuen Ordnung in Österreich gefährden könnten. Sie lernten auch, dass der Nationalismus ein illiberales Gewand annehmen und den Interessen reaktionärer Kräfte dienen konnte. Sie begannen, sich davon zu lösen. Darüber hinaus gibt es wichtige Elemente des Nationalismus von 1848, die heute oft missverstanden werden. Zum einen war der Nationalismus nicht gegen das Fortbestehen des Kaiserreichs gerichtet. Viele Nationalisten und Liberale wollten das Kaiserreich reformieren, nicht zerstören. Mit einigen wenigen berühmten Ausnahmen – Ungarn – wollten die meisten Nationalisten Österreich nicht durch unabhängige Nationalstaaten ersetzen, sondern vielmehr einen anerkannten Platz für sich selbst innerhalb Österreichs schaffen. Selbst die meisten österreichischen deutschnationalen...

Erscheint lt. Verlag 15.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte
Naturwissenschaften Geowissenschaften Geografie / Kartografie
ISBN-10 3-205-22039-0 / 3205220390
ISBN-13 978-3-205-22039-8 / 9783205220398
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