Iran verstehen -  Gerhard Schweizer

Iran verstehen (eBook)

Geschichte, Gesellschaft , Religion
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
800 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12328-9 (ISBN)
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»Man kann jedem, der sich um­fassend über die Hintergründe der Entwicklung im Nahen Osten ­informieren will, dieses Buch nur empfehlen.«Die Zeit Mit profunder Kenntnis schildert der Kulturwissenschaftler Gerhard Schweizer Höhen und Tiefen iranischer Geschichte, vom antiken Persien, über Zarathustra bis zur Islamischen Republik, und schenkt Kultur wie Politik gleichermaßen Aufmerksamkeit. Gerhard Schweizer ­verknüpft seinen historischen Rückblick mit der Analyse von Zeit­­geschichte und Politik. Unmittelbar und authentisch gelingen ihm Einblicke in die neuesten Entwicklungen des Iran, der seit islamistisch regiert wird. Das iranische Staatssystem versteht sich als Vorbild für alle »rechtgläubigen« Muslime, scheitert aber an seinen inneren Widersprüchen. Es ist ein Dilemma, das den Iran auch in den kommenden Jahren zu einem Brennpunkt der Weltpolitik machen wird.

1. Also sprach Zarathustra


Eine Sternstunde der Religionsgeschichte


Die Geschichte des Iran begann bei Baktra. Heute heißt die Stadt Balch und liegt in einer fruchtbaren Ebene des nördlichen Afghanistan, rund 20 Kilometer von der schiitischen Pilgerstadt Mazar-e Scharif entfernt. In Balch leben rund 87 000 Einwohner (so die Zahl im Jahr 2012), es gibt eine große Moschee, außerdem vorislamische Mauerreste, zwischen Erdhügeln halb verschüttet und unkrautüberwuchert. Die heute unscheinbar wirkende, durch Landflucht rasch gewachsene Stadt hatte vor 2500 Jahren als Handelszentrum an der sogenannten Seidenstraße überragende Bedeutung. Aber: Noch bevor dort ein Statthalter im Namen der ersten persischen Gottkönige regierte, lebte dort ein Mann, der wie kaum ein anderer entscheidend für den Nachruhm der persischen Kultur werden sollte. Er war ein Religionsstifter und hat Persien, das zu seinen Lebzeiten noch eine unbedeutende Provinz war, den geistigen Halt gegeben. Mehr noch: Er hat ein Weltbild geschaffen, das selbst auf unsere Kultur eingewirkt, ja sie in wichtigen Teilen mitgeformt hat. Dieser Mann war Zarathustra.

Im Iran leben heute noch an die 40 000 Anhänger seiner Religion, in Indien sind es dreimal so viele – eine mehr als bescheidene Schar, die nicht einmal mit der Einwohnerzahl einer mittleren Großstadt konkurrieren kann. Wer mag da schon an die welthistorische Bedeutung ihres Begründers denken? Als die Araber Persien eroberten und den Islam verbreiteten, verschwand die altiranische Religion fast gänzlich aus ihrem Kernland, weshalb Zarathustra für die Nachwelt lange Zeit nur als ein Prophet galt, dessen Lehre von gewichtigeren Religionsstiftern – Jesus Christus, Mohammed, Buddha – übertroffen und verdrängt wurde. Ein Mann also, den die Geschichte unwiderruflich überrollt hat. Aber manche wegweisenden Ideen, deren Ursprung wir bislang bei jüdischen Propheten suchten, sind bereits in Zarathustras Schriften vorgeformt. Das ist Grund genug, zu fragen, ob die jüdische Religion – und in der Nachfolge das Christentum und der Islam – nicht wesentlich von ihm beeinflusst wurden.

Über den Menschen Zarathustra wissen wir nach wie vor wenig. Lange genug stritten sich die Historiker, wann er geboren wurde, wo er gelebt und gewirkt hat. Verlässliche Hinweise gibt es kaum, denn fast alle Lehren wurden erst Jahrhunderte nach seinem Tod schriftlich gefasst – mit Ausnahme der Gathas, der Verspredigten, die man Zarathustra selbst zuschreibt; aber auch sie schildern nur in vagen Umrissen die Lebensgeschichte des Propheten. In späteren Schriften regiert die Legende. Stützt man sich auf sie, so muss Zarathustra irgendwann zwischen 1000 und 500 vor unserer Zeitrechnung gelebt haben und irgendwo im östlichen Teil des Iran geboren worden sein. Damit bleibt die Gestalt mehr in mythisches Dunkel getaucht als selbst so legendenumwobene Religionsstifter wie Jesus oder Buddha. Heute – nach mühsamen Sprachstudien und Textvergleichen aller altiranischen Schriften – sind die meisten Forscher zu dem Schluss gekommen, Zarathustra müsse um das Jahr 630 vor unserer Zeitrechnung bei Baktra geboren worden sein.

Er war demnach kein Perser, sondern Baktrier, wie man damals die Bewohner seines Landstrichs nannte. Aber er gehörte wie die Perser zu den Ariya, einem großen Stammesverband, der seit dem dritten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung aus den Steppen Innerasiens unaufhaltsam nach Süden vorgerückt war. Ariya war ein Name, den sich diese kriegerischen Nomaden selbst gegeben hatten, er bedeutet so viel wie »die Edlen« und sollte den Abstand deutlich machen, mit dem sie sich von den unterworfenen Völkern absetzen wollten. Einige Stämme waren um das Jahr 1900 vor unserer Zeitrechnung nach Indien eingedrungen und hatten dort im Verlauf der nächsten zehn Generationen die Kastenordnung der Hindus errichtet, andere waren zur selben Zeit in die fast menschenleeren Hochebenen mit ihren Steppen, Wüsten, Gebirgen und fruchtbaren Tälern geströmt, die sie schließlich »Iran«, »Land der Arier«, nannten.

Als Zarathustra 630 vor unserer Zeitrechnung bei Baktra geboren wurde, waren 1500 Kilometer westlich die Meder zum mächtigsten Stamm der Iraner aufgestiegen. Sie herrschten von den gebirgigen Hochebenen südwestlich des heutigen Teheran bis an die Grenzen des Zweistromlandes von Euphrat und Tigris, im Süden dehnten sie ihre Herrschaft bis in die dünnbesiedelte Steppe aus. Sie hatten auch die Gebiete um das heutige Schiras unterworfen und deren Bewohner – den iranischen Stamm der Perser – zu Vasallen gemacht. Nichts deutete zu jener Zeit darauf hin, dass nur noch acht Jahrzehnte zu vergehen brauchten, bis der persische Provinzfürst Kyros einen Stamm nach dem andern unterwarf und so die Herrschaft Persiens bis Baktra ausdehnte.

Die Iraner lebten damals überwiegend in unscheinbaren Lehmdörfern oder gar noch in Nomadenzelten, die meisten trieben Ackerbau und Viehzucht. Städte gab es allein in ein paar fruchtbaren Hochebenen des sonst kahlen Steppen- und Wüstenlandes. Einige von ihnen besaßen allerdings schon ein hohes zivilisatorisches Niveau, besonders Ekbatana, die Residenz der Meder, die nach dem Vorbild babylonischer und assyrischer Metropolen gebaut war.

Wie Baktra zu Lebzeiten des Zarathustra ausgesehen hat, wissen wir nicht. Zu weit entfernt von Babylon, Ninive und Ekbatana lag dieser Ort, als dass man dort in ähnlicher Art gebaut haben dürfte. Das Industal mit seinen uralten Lehmziegelstädten lag näher. Baktra war wohl eine Siedlung nach indischem Muster, allerdings viel bescheidener in den Ausmaßen, ein Handelszentrum eben, das den Vorzug hatte, an der belebten Karawanenstraße von Ostasien nach dem Vorderen Orient zu liegen. Es wird etliche große Karawansereien gegeben haben, in denen Kaufleute aus Indien und China ebenso nächtigten wie solche aus Babylon und Damaskus. Eine weltoffene Stadt also, in die mit den vielen Fremden immer wieder neue Ideen gelangten und die Baktrier beschäftigten. Und doch war Baktra auch wieder eine sehr ländliche, bäuerliche Siedlung, denn in der fruchtbaren Ebene lebten vor allem Bauern und viehzüchtende Nomaden. Zarathustras Name deutet darauf hin, dass er selber aus einer Familie reicher Viehzüchter stammte, er lautet übersetzt: »Der, der mit Kamelen zu tun hat«. Sein Vater hieß Porushaspa, »Der mit Falben-Rossen«, so berichten uns die noch erhaltenen Bruchstücke des Awesta, der zarathustrischen Bibel. Wenn man der legendären Überlieferung aus dem Awesta glauben möchte, dann kam Zarathustra als dritter Sohn von fünf Kindern zur Welt, Spross einer damals sehr angesehenen Adelsfamilie, der Spitama. Der Vater scheint Priester eines Stammes von viehzüchtenden Nomaden gewesen zu sein, die keinen Tempel kannten, sondern unter dem freien Himmel der Steppe ihre Opferriten vollzogen. Große Viehherden, Nomadenzelte, Weideland, Berge – dies dürfte der vertraute Anblick für den heranwachsenden Zarathustra gewesen sein. Und immer wieder besuchte er das nahe Baktra mit seinen weitgereisten Kaufleuten. Geistig von der Nomadentradition seines Stammes und dem Stadtleben Baktras geprägt, war er schon sehr früh dazu ausersehen, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und ebenfalls Priester zu werden. Priester aber welcher Religion?

Schriftliche Überlieferungen aus dieser Zeit finden sich nur spärlich, aber sie genügen, um uns ein ungefähres Bild zu machen. Die Iraner – von den Baktriern über die Meder bis zu den Persern – teilten ihre Götter in zwei Klassen: in erhabene Lichtgestalten, die im Kosmos wohnten, Ahuras, und in niedere Geisterwesen, die in der Erde, im Wind, im Wasser und im Feuer hausten, Daevas. Aber kein Mensch fühlte sich in der Lage, das Walten dieser Götter zu durchschauen, man empfand sie das eine Mal ohne erkennbaren Grund als freundlich und helfend, das andere Mal als grausam und vernichtend. Noch fehlte der Prophet, der mit seiner Botschaft eine tiefer greifende, erklärende Ordnung hätte stiften können. Die Iraner konnten nur darauf hoffen, die rätselhaften, unheimlichen Götter durch Lobgesänge und Opfergaben gnädig zu stimmen. Bei diesen kultischen Feiern musste reichlich das Blut von Stieren zu Ehren höherer Wesen fließen, um die Angst vor dem unberechenbaren Schicksal zu dämpfen. Priester und Volk tranken zu bestimmten Anlässen ein berauschendes Getränk, das sie nach dem Namen ihres Ekstasegottes Haoma nannten, und steigerten sich durch endlosen rhythmischen Tanz in Trance, um wenigstens für kurze Momente wie die Götter das beglückende Gefühl der Unsterblichkeit zu haben.

Zarathustra empfand schon sehr früh ein Ungenügen an diesen Ritualen und ihrem Sinn, denn – so berichtet uns knapp eine Textstelle aus den Gathas, seinen Verspredigten – im Alter von zwanzig Jahren verließ er seine Heimat und wanderte in die Einsamkeit. Er, der sich selber einen Zaotar, einen sakralen Dichter und Prediger, nannte, kehrte dem Priesterberuf den Rücken. Zehn bis zwanzig Jahre dürften die Wanderjahre des religiösen Suchers gedauert haben. Wie und wo er meditierte, ob er fastete und sich meist von den Menschen fernhielt, ob er ins nahe afghanische Bergland zog oder in der turkmenischen Ebene blieb, wissen wir nicht. Im Awesta heißt es nur, schließlich habe sich ihm am Fluss Daitya ein Engel offenbart. Dies...

Erscheint lt. Verlag 26.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Naturwissenschaften Geowissenschaften Geografie / Kartografie
ISBN-10 3-608-12328-8 / 3608123288
ISBN-13 978-3-608-12328-9 / 9783608123289
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