Regeln (eBook)
432 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77785-5 (ISBN)
Regeln ordnen fast jeden Aspekt unseres Lebens. Sie legen unsere Arbeitszeiten fest, bestimmen unser Verhalten im Straßenverkehr und ob es angebracht ist, zur Begrüßung die Hand zu geben oder die Wange hinzuhalten. Regeln organisieren die Riten des Lebens von der Geburt bis zum Tod. Nicht alle Regeln, die wir haben, mögen uns gefallen, und manche, die uns abgehen, sehnen wir herbei. Doch keine Kultur kann ohne sie auskommen.
In ihrem reich bebilderten Buch zeichnet die Historikerin Lorraine Daston nach, wie sich Regeln in der westlichen Tradition seit der Antike entwickelt haben. Sie dokumentiert deren verwirrende Vielfalt anhand einer Fülle von Beispielen - von juristischen Traktaten über Militärhandbücher bis hin zu Kochrezepten -, entdeckt aber auch, dass es nur wenige Grundarten gibt, die über die Zeiten Bestand hatten: Algorithmen, Gesetze und Modelle. Und sie zeigt, wann Regeln funktionieren, wie sie sich verändern können und warum einige philosophische Fragen zu Regeln so alt sind wie die Philosophie selbst, andere hingegen so modern wie Rechenmaschinen. Ein souverän geschriebenes, fesselndes Buch über die Zwänge, die uns leiten - ob wir es wissen oder nicht.
<p>Lorraine Daston, geboren 1951, war bis zu ihrer Emeritierung 2019 Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.</p>
111
Einleitung
Die verborgene Geschichte der Regeln
Hinweise auf eine verborgene Geschichte
Dies ist ein kurzes Buch über ein umfangreiches Thema. Wir alle sind ständig und überall eingebunden in ein Netz aus Regeln, das uns Hilfestellung bietet und Beschränkungen aufbürdet. Regeln legen Anfang und Ende des Arbeitstags und des Schuljahrs fest, lenken das Auf und Ab der Verkehrsströme auf den Straßen, bestimmen, wer wen und in welcher Weise heiraten darf, weisen der Gabel den Platz rechts oder links des Tellers zu, bewerten die Tore und Fouls beim Fußball, zähmen die Debatten in Meetings und Parlamentssitzungen, geben an, was man im Handgepäck mit ins Flugzeug nehmen kann, verfügen, wer wo wählen darf, gliedern die Grammatik eines Satzes, leiten Kunden im Supermarkt in die richtige Warteschlange, sagen Hundebesitzern, ob ihre Hunde willkommen sind oder nicht, explizieren Metrum und Rhythmus eines Petrarca-Sonetts und ordnen an, welche Rituale bei Geburt und Tod zu vollziehen sind. Und das sind nur einige Beispiele expliziter Regeln, wie wir sie auf Schildern und in Gebrauchsanleitungen, Handbüchern, heiligen Schriften und Gesetzestexten finden. Berücksichtigen wir dazu noch die impliziten Regeln, erweist sich das Netz als derart dicht gewebt, dass kaum eine menschliche Aktivität durch die Maschen schlüpft: Es gibt ungeschriebene Regeln, die bestimmen, ob die Menschen einander mit Handschlag oder zwei Wangenküssen à la française (oder nur einem à la belge) begrüßen, wie viele Stundenkilometer über einer Geschwindigkeitsbegrenzung toleriert werden, bevor ein Strafzettel fällig wird, welches Trinkgeld in einem Restaurant als angemessen gilt, wann es erlaubt oder angebracht ist, in einem Ge12spräch die Stimme zu heben (oder zu senken), wer wem die Tür aufhalten sollte, wie oft und wie laut eine Opernaufführung durch Beifallsbekundungen oder Buhrufe unterbrochen werden darf, wann man zu einem Abendessen zu erscheinen und wann wieder zu gehen hat, und wie lang ein Epos sein muss. Kulturen unterscheiden sich hinsichtlich der Inhalte ihrer Regeln, doch keine Kultur kommt ohne Regeln aus – und zwar ohne sehr viele Regeln. Ein Buch über all diese Regeln wäre fast schon eine Geschichte der Menschheit.
Regeln sind so allgegenwärtig, unverzichtbar und achtunggebietend, dass sie als selbstverständlich gelten. Wie sollte es jemals eine Gesellschaft ohne Regeln, eine Zeit vor den Regeln gegeben haben? Aus der Universalität der Regeln folgt indessen nicht deren Gleichförmigkeit, weder im Vergleich zwischen Kulturen noch innerhalb geschichtlicher Traditionen. Regeln zeigen nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Form eine schwindelerregende Vielfalt. Die Inhalte waren von jeher Mahlgut für die Mühlen von Reisenden und Ethnographen, seit Herodot (um 484-um 425 v. Chr.) aus altgriechischer Perspektive berichtete, in Ägypten sei alles genau umgekehrt (wenn auch nicht weniger regelmäßig): Die Männer blieben zu Hause und webten, während die Frauen auf den Markt gingen; die Frauen urinierten im Stehen, die Männer dagegen im Sitzen; selbst der Nil fließe andersherum, von Süden nach Norden.1 Die Formen gehören zur langen Liste der Arten, aus denen die Gattung der Regeln besteht: Gesetzen, Maximen, Prinzipien, Leitlinien, Instruktionen, Rezepten, Vorschriften, Aphorismen, Normen und Algorithmen, um hier nur einige zu nennen. Die Vielfalt dieser Arten von Regeln bringt uns auf die Spur einer verborgenen Geschichte dessen, was eine Regel ist und tut.
Seit der griechisch-römischen Antike umschreiben drei semantische Hauptgruppen die Bedeutung von Regeln (siehe Kapitel 2): Werkzeuge zur Messung und Berechnung; Vorbilder beziehungsweise Modelle oder Paradigmen; und Gesetze. Die nachfolgende Geschichte der Regeln ist eine der Vermehrung und Verknüpfung, die immer mehr Arten von Regeln und von jeder Art immer mehr Exemplare hervorbrachte. Das Ergebnis ist eine schier unüberschaubare Vielfalt, die fast ebenso komplex ist wie die Kultur selbst. Von den drei 13Urbedeutungen von »Regel« gehen indessen rote Fäden aus, die sich seit Jahrtausenden durch das Labyrinth der Geschichte ziehen. Aus der Perspektive der longue durée und unter Verwendung von Regeln aus zahlreichen unterschiedlichen Quellen – Klosterregeln und Kochbüchern, Militärhandbüchern und juristischen Abhandlungen, Rechenalgorithmen und Gebrauchsanleitungen – zeichnet dieses Buch die lange Karriere dieses antiken Dreigestirns in den gelehrten und vernakulären Traditionen nach, die auf griechisch-römische Wurzeln zurückgehen und sich gemeinsam im Verlauf von zwei Jahrtausenden entwickelten. Kapitel 2 und 3 rekonstruieren, wie Regeln von der Antike bis zum 18. Jahrhundert als flexible Modelle oder Vorbilder funktionierten; Kapitel 4 und 5 beschreiben, wie Rechenalgorithmen von der Antike bis zum Aufstieg der Algorithmen und der mechanischen Rechenmaschinen im 19. und 20. Jahrhundert in der Praxis eingesetzt wurden. Für die Zeit vom 13. bis zum 18. Jahrhundert vergleichen Kapitel 6 und 7 äußerst spezielle Regeln in Gestalt grundlegender Vorschriften mit sehr allgemeinen Regeln nach Art olympischer Naturgesetze. Kapitel 8 untersucht, wie vom 16. bis zum 20. Jahrhundert moralische, rechtliche und politische Regeln angesichts widerspenstiger Ausnahmen gebeugt und gebrochen wurden.
Die lange Geschichte der Regeln wird von drei Gegensätzen strukturiert. Regeln können füllig oder schlank in der Formulierung, flexibel oder starr in der Anwendung und allgemein oder spezifisch hinsichtlich ihres Geltungsbereichs sein. Diese Gegensätze können sich überschneiden, und manche sind, je nachdem, welcher der drei Arten von Regeln sie angehören, relevanter als andere. Regeln im Sinne von Vorbildern oder Modellen sind eher füllig in der Formulierung und flexibel in der Anwendung (siehe Kapitel 2 und 3). Eine füllige Regel ist gespickt mit Beispielen, Vorbehalten, Beobachtungen und Ausnahmen. Sie geht von beträchtlichen Variationen in den Umständen aus und bedarf daher einer geschmeidigen Anpassung. Regeln im Sinne von Algorithmen sind dagegen eher schlank in der Formulierung und starr in der Anwendung, wenngleich auch sie zuweilen füllig sein können (siehe Kapitel 4 und 5). Ein Algorithmus muss zwar nicht kurz sein, ist aber nur selten für außergewöhnliche oder 14einfach nur unterschiedliche Fälle gedacht. Da schlanke Regeln implizit eine vorhersagbare, stabile Welt voraussetzen, in der sich alle Möglichkeiten vorhersehen lassen, laden sie nicht zur Berücksichtigung von Unterschieden ein. Das ist unproblematisch, solange sie sich auf die Lösung von Lehrbuchbeispielen beschränken – zum Beispiel in der elementaren Arithmetik. Doch die Annalen der Computeralgorithmen sind inzwischen voller warnender Geschichten über Programme für alles, von der Gesichtserkennung bis zur Bezahlung Ihrer Steuern, die allzu schlank gestaltet und allzu starr angelegt wurden, um einer vielfältigeren Realität gerecht zu werden.
Sowohl füllige als auch schlanke Regeln können entweder sehr speziell sein – zum Beispiel die Anleitung zur Herstellung eines Tischs aus einem ganz bestimmten Holz, ein Algorithmus zur Berechnung der Fläche eines ganz bestimmten unregelmäßigen Vielecks – oder aber äußerst allgemein. Regeln im Sinne von Gesetzen reichen möglicherweise von speziellen Parkvorschriften auf dieser Straße an Sonntagen bis hin zur Allgemeinheit der Zehn Gebote oder des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik (siehe Kapitel 6 und 7). Sowohl spezifische als auch allgemeine Gesetze lassen sich entweder starr oder flexibel anwenden. Regeln, in denen es von spezifischen Bestimmungen nur so wimmelt, wie etwa die in Kapitel 6 behandelten Bekleidungsvorschriften, bedürfen bei ihrer Anwendung einer gewissen Dehnbarkeit, und sei es nur, weil die Besonderheiten sich so rasch ändern. Und selbst die denkbar allgemeinsten Gesetze, die als ewige und universell gültige göttliche Gebote gelten, werden gelegentlich gebeugt (siehe Kapitel 8).
Diese Gegensätze sollten eher als die äußeren Enden eines Spektrums von Möglichkeiten verstanden werden denn als Komplemente im strengen Sinne. Die...
Erscheint lt. Verlag | 29.10.2023 |
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Übersetzer | Michael Bischoff |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Rules. A Short History of What We Live By |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Geschichte |
Naturwissenschaften | |
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ISBN-10 | 3-518-77785-8 / 3518777858 |
ISBN-13 | 978-3-518-77785-5 / 9783518777855 |
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Größe: 15,1 MB
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