Revolution aus dem Mikrokosmos
Residenz (Verlag)
978-3-7017-3612-6 (ISBN)
Braukessel statt Bauernhof? Damit könnten wir den katastrophalen Einfluss unserer Ernährung auf Umwelt und Klima drastisch reduzieren. Durch Fortschritte in der Biotechnologie erfährt die jahrtausendealte Tradition der Fermentation eine Renaissance. Pionier*innen wollen mit Bioreaktoren echten Käse ohne Kuh, echtes Ei ohne Huhn und vieles mehr auf unsere Teller bringen. Viel mehr Nahrung auf viel weniger Nutzfläche, so die Vision. Wie funktioniert die Herstellung dieser neuen Produkte? Was bedeuten sie für uns und was wird aus der Landwirtschaft? Sind wir überhaupt bereit für eine Revolution durch Fermentation? Um Antworten zu finden, hat sich Martin Reich auf eine Reise gemacht durch Labore, Brauereien und die Gedankenwelt von Forscher*innen, Kritiker*innen und Träumer*innen.
Martin Reich, geboren 1984, war Referent beim Bioökonomierat, lebt und arbeitet als Biologe in Berlin und ist als Redakteur und Kommunikator im Bereich Naturwissenschaften und Bioökonomie tätig. Zuletzt erschienen "Revolution aus dem Mikrokosmos" (2024).
Urs Niggli wurde 1953 in der ländlichen Idylle des Schweizer Mittellandes geboren, die heute zu einer hektischen Hauptachse zwischen den drei Zentren Zürich, Basel und Bern geworden ist. Er studierte Agrarwissenschaften und leitete von 1990 bis März 2020 das Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL). Das FiBL ist unter seiner Leitung zu einem wichtigen Think-Tank für den Biolandbau, die artgerechte Haltung von Tieren und die Nachhaltigkeit geworden. Er ist Mitglied der Scientific Group des Ernährungsgipfels 2021 der Vereinten Nationen und engagiert sich für die Agrarökologie. Bei Residenz erscheint 2020: „Alle satt? Ernährung sichern für 10 Milliarden Menschen“.
PROLOG (Martin Reich, Revolution aus dem Mikrokosmos) Es ist etwa ein Jahr her, dass ich das Fermentieren von Speisen und Getränken für mich entdeckt habe, doch bereits jetzt hat das neue Hobby sichtbare Spuren in meiner Küche hinterlassen. Eine der Ablagen neben dem Küchenfenster wird von inzwischen sechs Glasgefäßen unterschiedlicher Formen und Größen eingenommen. Sie sind mit Stoffservietten abgedeckt, die ich mit Gummis befestigt habe, weil das, was dort braut, Luft benötigt: Kombucha-Tee. Das größte der Gläser steht auf einem Metallständer und hat einen kleinen Zapfhahn. Ich nehme ein Glas, zapfe etwas von der teefarbenen Flüssigkeit ab und probiere einen Schluck. Noch zu süß? Schon zu sauer? Genau richtig! Was vor einigen Tagen nur leicht nach schwarzem Tee roch, duftet nun nach dem für Kombucha-Tee charakteristischen, komplexen Gemisch von Säuren. Hätte ich vor einer Woche aus dem Gefäß gezapft, hätte ich einfach nur schwarzen Tee mit Zucker in meinem Glas gehabt. Denn den habe ich, nachdem ich ihn abgekocht hatte, damals in das Gefäß gegossen. Doch jetzt schmeckt die Flüssigkeit nur noch halb so süß, dafür aber angenehm säuerlich. Hätte ich noch einige Tage länger gewartet, wäre sie mir zu sauer zum Trinken geworden. Ich zapfe den Inhalt des Gefäßes fast komplett in eine Bügelflasche ab, und stelle sie kalt. Ein perfektes Sommergetränk. In einem der anderen Gläser lasse ich es für eine längere Zeit arbeiten, bis die Flüssigkeit so sauer ist, dass ich sie als Essig benutzen kann. Doch was arbeitet da überhaupt? In jedem der Gefäße schwimmt an der Oberfläche ein weißliches Gebilde, das man Scoby nennt. Scoby steht für symbiotic colony of bacteria and yeast, die englische Bezeichnung für die symbiotische Mikrobengemeinschaft aus Bakterien und Hefen, die für die wundersame Verwandlung des Zuckers in etwas ganz neues verantwortlich ist. Nach der „Ernte“ einer Charge Kombucha-Tee lasse ich den Scoby aus seinem Gefäß auf einen sauberen Teller plumpsen. Er fühlt sich an wie Gummi und ist erstaunlich fest. Lage für Lage wächst die symbiotische Kolonie übereinander, sodass man sie leicht voneinander trennen, auf andere Gefäße verteilen und an Freunde, Bekannte oder Nachbarn weitergeben kann, die sich auch einmal daran versuchen möchten (auf diese Weise bin ich an meine eigene Kultur gelangt). Nun wasche ich den Scoby liebevoll unter lauwarmem Wasser, mache auch sein Gefäß sauber und gebe ihn dann zusammen mit der übriggebliebenen Flüssigkeit, die ich aufbewahrt habe, zurück an seine Heim- und Wirkungsstätte. Dann koche ich Wasser mit ordentlich Zucker auf und lege zwei Beutel schwarzen Tee dazu. Nach dem Abkühlen gieße ich diese Nährlösung zum Scoby und die kleinen, fleißigen Mikroorganismen machen sich erneut an die Arbeit. Und das ist nicht alles. Im Kühlschrank schlummert eine weitere Mikrobenkolonie, in Form von Sauerteig. Auch sie will gepflegt werden, damit sie mir regelmäßig frisches Sauerteigbrot beschert. In einem Einmachglas unter einem Tuch fermentiert seit einigen Tagen Rotkohl, der Sauerkrauttopf aus Keramik war dafür zu groß. Er steht bereit, jedoch momentan ungenutzt in einer anderen Ecke der Küche. Auch die koreanische Variante fermentierten Kohls, genannt Kimchi, steht auf zwei weitere Einmachgläser verteilt im Kühlschrank. In all diesen Gefäßen sind, für unser Auge unsichtbar, unterschiedliche Arten von nützlichen Mikroorganismen am Werk. Mich fasziniert, dass diese Methode der Verarbeitung von Lebensmitteln bereits viele Tausende Jahre alt, jedoch gleichzeitig erst seit kurzer Zeit bekannt ist, was da biologisch und chemisch eigentlich genau passiert. Wenn ich meine eigene Regel des digitalen Detox, die ich mir für meine Zeit in der Küche verordnet habe, wieder einmal breche und zum Smartphone greife, dann bricht die Außenwelt in diese kleine Oase ein. Statt den ganz kleinen, drängen sich die ganz großen Dinge in den Fokus. Beunruhigende Wetterextreme als Folgen des Klimawandels, Ernteausfälle, Hunger. Schwindende Ökosysteme, verschmutzte Meere, bedrohte Artenvielfalt. Dass diese von Wissenschaftlern vor Jahrzenten vorausgesagten Dinge nun für alle sichtbar eintreten, ist bedrückend und die kleinen Experimente mit Fermentation in meiner Küche erscheinen mir im Vergleich dazu plötzlich sehr banal, entrückt und unbedeutend. Doch vielleicht ist das ein Trugschluss. Denn Wissenschaftler sagen auch, dass das, was in unseren Küchen passiert, mit diesen großen Entwicklungen in direktem Zusammenhang steht. Mit dem, was wir in unseren Schränken und auf unseren Tellern haben, verbrauchen wir unterschiedlich viel Tiere, Landfläche, Wasser und andere begrenzte Ressourcen, stoßen Treibhausgase aus und verschmutzen Ökosysteme. Hinterlassen einen Fußabdruck, der zu groß ist. Doch in diesem Buch geht es nicht nur um die Probleme. Es geht auch darum, wie wir das Ruder noch herumreißen könnten. Die Rettung kommt von unerwarteter Seite, denn es ist die Wiederentdeckung der jahrtausendealten Tradition der Fermentation, die die Zukunft der Ernährung revolutionieren und radikal nachhaltiger machen könnte. Indem sie Mikroorganismen und neuestes Wissen aus der Biologie nutzen, um Kuhmilch ohne Kuh, Palmöl ohne Palme und Hühnereiweiß ohne Huhn zu brauen. Mit Fermentation die Welt retten? Oder zumindest unsere Ernährung nachhaltiger machen? Darüber will ich mehr erfahren und ich hoffe, Sie auch. Um Antworten zu finden, habe ich mich auf eine kleine Reise begeben, durch die Literatur, Museen, Brauereien, Labore und die Gedankenwelten von Menschen, die unsere Vergangenheit ergründen, unsere Gegenwart kritisch beäugen oder von einer Revolution träumen. Einer Revolution aus dem Mikrokosmos.
Erscheinungsdatum | 13.03.2024 |
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Vorwort | Urs Niggli |
Zusatzinfo | Illustrationen |
Verlagsort | Salzburg |
Sprache | deutsch |
Maße | 140 x 215 mm |
Einbandart | gebunden |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Natur / Ökologie |
Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft | |
Naturwissenschaften ► Biologie | |
Schlagworte | Bioreaktor • Biotechnologie • Ernährung • Fermentation • Landwirtschaft • Mikrokosmos • nachhaltig • Nachhaltigkeit |
ISBN-10 | 3-7017-3612-X / 370173612X |
ISBN-13 | 978-3-7017-3612-6 / 9783701736126 |
Zustand | Neuware |
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