Im Spiegel des Kosmos (eBook)
336 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12202-2 (ISBN)
Neil deGrasse Tyson, geboren 1958 in New York City, ist ein US-amerikanischer Astrophysiker und vielen aus Serien wie den Simpsons und The Big Bang Theory bekannt. Darüber hinaus ist er Direktor des Hayden-Planetariums, Mitglied der American Academy of Arts and Sciences und hostet den Emmy-nominierten Podcast StarTalk. Mit 21 Ehrendoktorwürden ausgezeichnet und einem eigens nach ihm benannten Asteroiden zählt er zu den einflussreichsten Persönlichkeiten unserer Zeit.
Neil deGrasse Tyson, geboren 1958 in New York City, ist ein US-amerikanischer Astrophysiker. Er ist Direktor des Hayden-Planetariums und Mitglied der American Academy of Arts and Sciences. Er zählt zu den einflussreichsten Persönlichkeiten unserer Zeit.
Ouvertüre
Wissenschaft & Gesellschaft
Wenn die Leute in unserer komplizierten Welt aus Politik, Religion und Kultur unterschiedlicher Meinung sind, sind die Ursachen dafür einfach, die Lösungen sind es mitnichten. Wir alle tragen unterschiedliche Bestände an Wissen mit uns herum. Wir haben unterschiedliche Werte, unterschiedliche Prioritäten und ein unterschiedliches Verständnis von allem, was sich um uns herum entfaltet. Jeder Einzelne von uns sieht die Welt nur mit seinen Augen, und damit konstruieren wir Stämme oder Sippen auf der Grundlage dessen, wer ähnlich aussieht wie wir, wer die gleichen Götter anbetet und wer dem gleichen Moralkodex folgt wie wir. Angesichts der über lange Zeit gegebenen paläolithischen Isolation innerhalb unserer Spezies darf uns wohl nicht überraschen, was die Evolution da hervorgebracht hat. Dieses Gruppendenken könnte, auch wenn es sich vernünftigem Denken entzieht, unseren Vorfahren Überlebensvorteile gebracht haben.[1]
Gehen wir dagegen auf Abstand zu allem, was uns trennt, finden wir vielleicht eine gemeinsame, einende Sicht auf die Welt. Wenn dem so ist, passen Sie auf, wo Sie sich hinbegeben. Diese neue Sichtweise liegt nicht nördlich oder südlich, nicht östlich oder westlich von Ihrem eigenen Standpunkt. In Wirklichkeit existiert dieser Ort nirgendwo auf dem Kompass. Sie müssen schon die Erdoberfläche hinter sich lassen, um dorthin zu gelangen – um die Erde und alles, was auf ihr kreucht und fleucht, auf eine Weise zu sehen, die Sie immun macht gegen provinzielle Interpretationen der Welt. Bei dieser Transformation sprechen wir vom »Overview-Effekt«, wie ihn üblicherweise Astronauten erleben, die schon einmal die Erde umkreist haben. Betrachten Sie nun diesen Effekt zusammen mit den Entdeckungen der modernen Astrophysik, der Mathematik, der Naturwissenschaften und der Technologie, die die Erforschung des Weltalls erst hervorbrachten, und ja, die kosmische Perspektive steht im wahrsten Sinne des Wortes über allem anderen.
So ziemlich jeder Gedanke, jede Meinung und jeder Ausblick, die ich zum Weltgeschehen artikuliere, wird beeinflusst – informiert und aufgeklärt – von dem Wissen um unseren Platz auf der Erde und unseren Platz im Universum. Die Methoden, Werkzeuge und Entdeckungen der Wissenschaft sind alles andere als ein kaltes, empfindungsfreies Unterfangen, ja, vielleicht existiert kaum etwas Menschlicheres als diese. Sie formen die moderne Zivilisation. Und was ist denn die Zivilisation, wenn nicht das, was wir Menschen um uns herum aufgebaut haben, als Mittel, um urtümliche Triebe zu überwinden, und als Landschaft, in der wir leben, arbeiten, spielen?
Wie steht es also um unsere kollektive und fortdauernde Uneinigkeit? Ich kann Ihnen nur eines versprechen: Ganz gleich, welchen Ansichten Sie gegenwärtig anhängen, ein Schuss Wissenschaft und rationales Denken kann diesen Ansichten zumindest eine tiefere und solidere Grundlage geben. Dieser Weg vermag auch unbegründete Sichtweisen oder unangebrachte Gefühle bloßzulegen, die Sie vielleicht mit sich herumschleppen.
Man sollte realistischerweise nicht erwarten, dass die Leute in der gleichen Weise streiten, wie das Wissenschaftler untereinander tun. Das liegt daran, dass Wissenschaftler nicht hinter der Meinung ihrer Kolleginnen und Kollegen her sind. Wir interessieren uns bloß für die Daten der jeweils anderen. Selbst im Meinungsstreit werden Sie vielleicht überrascht sein, wie schlagkräftig eine rationale Perspektive sein kann. Wenn Sie diese Erleuchtung erfahren haben, werden Sie rasch erkennen, dass die Erde nicht viele Volksstämme beheimatet, sondern nur einen einzigen – die Gesamtheit der Menschen. Das ist der Punkt, an dem sich viele Unstimmigkeiten abmildern, während sich andere einfach in Wohlgefallen auflösen, und es bleibt auf einmal gar nichts mehr übrig, worüber man geteilter Meinung sein müsste.
Die Wissenschaft unterscheidet sich von allen anderen menschlichen Unterfangen durch ihr Potenzial, das Verhalten der Natur auf einer Ebene zu erkunden und zu verstehen, auf der wir die Auswirkungen von Vorgängen in der Natur präzise vorhersagen, wenn nicht sogar steuern können. Wissenschaftliche Erkenntnisse vermögen oft die Sicht auf alle möglichen Dinge zu erweitern und zu vertiefen. Insbesondere trägt die Wissenschaft zu unserer Gesundheit, unserem Wohlstand und unserer Sicherheit bei – unter allen drei Aspekten geht es den Menschen auf der Erde heute besser als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Geschichte.
Die wissenschaftliche Methode, die diese Errungenschaften untermauert, wird oftmals in formellen Begriffen vermittelt, die auf Induktion, Deduktion, Hypothese und Experiment verweisen. Doch sie lässt sich auch in einem einzigen Satz zusammenfassen, in dem es ausschließlich um Objektivität geht:
Vermeide unter allen Umständen, dir selbst vorzumachen, etwas sei wahr, obwohl es falsch ist, oder etwas sei falsch, obwohl es wahr ist.
Diese Herangehensweise an das Wissen hat ihre Wurzeln im 11. Jahrhundert, in Worte gefasst vom arabischen Gelehrten Ibn al-Haytham (965–1040), auch bekannt unter dem Namen Alhazen. Insbesondere warnte er die Wissenschaftler vor der Gefahr der Voreingenommenheit: »Er sollte auch sich selbst stets hinterfragen, wenn er seine kritischen Untersuchungen anstellt, um nicht dem Vorurteil oder der Nachlässigkeit zu verfallen.«[2] Jahrhunderte später, zur Zeit der Renaissance in Europa, war Leonardo da Vinci ganz dieser Meinung: »Die größte Täuschung, die Menschen erleiden, ist ihre eigene Meinung.«[3] Im 17. Jahrhundert, kurz nach den beinahe gleichzeitigen Erfindungen des Mikroskops und des Teleskops, stand die wissenschaftliche Methode in voller Blüte, vorangetrieben durch die Arbeiten des Astronomen Galileo und des Philosophen Sir Francis Bacon. Kurz gesagt heißt das: Überprüfe deine Hypothese durch Experimente, und nimm die Stichhaltigkeit deines Beweises als Maßstab für dein Vertrauen in die Richtigkeit deiner Ergebnisse.
Seitdem lernten wir, eine neu entdeckte Wahrheit erst dann anzuerkennen, wenn die Mehrzahl der Wissenschaftler zu übereinstimmenden Ergebnissen kommt. Dieser Verhaltenskodex zeitigt beachtliche Folgen. Es gibt kein Gesetz gegen das Veröffentlichen falscher oder voreingenommener Ergebnisse. Wenn du es aber tust, zahlst du einen hohen Preis. Wenn Kollegen deine Forschungen überprüfen und niemand dabei deine Resultate reproduzieren kann, wird die Integrität deiner zukünftigen Forschung immer unter einem Verdachtsvorbehalt stehen. Wenn du ganz offen betrügst – also wissentlich Daten fälschst – und spätere Forscher auf dem Fachgebiet diesen Betrug aufdecken, bedeutet die Enthüllung das Ende deiner Karriere.
Dieses selbstregulierende System innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde ist vielleicht einzigartig unter allen Berufszweigen, und damit es funktioniert, braucht es keine Öffentlichkeit, keine Presse und keine Politiker. Dennoch kann es faszinierend sein, dieser Maschinerie bei der Arbeit zuzuschauen. Man beobachte einfach den Fluss der Forschungsarbeiten, die die Seiten der fachkundig geprüften wissenschaftlichen Journale (»Peer-Reviews«) zieren. Diese Brutstätte der Entdeckung ist auch, zumindest gelegentlich, ein Schlachtfeld der wissenschaftlichen Kontroverse. Betreibt man dagegen zur Verfolgung kultureller, ökonomischer, religiöser oder politischer Ziele Rosinenpickerei in Forschungsergebnissen, über die noch kein allgemeiner wissenschaftlicher Konsens besteht, untergräbt dies das Fundament einer informierten Demokratie.
Und nicht nur das: Einmütigkeit ist in der Wissenschaft geradezu ein Fluch für den Fortschritt. Die ständigen Vorwürfe, wir würden es uns in unserer Einhelligkeit gemütlich machen, stammen von Leuten, die noch nie eine wissenschaftliche Konferenz von innen gesehen haben. Stellen Sie sich solche Versammlungen am besten als eine Art Tag der offenen Tür vor, bei dem alle Teilnehmenden ihre Ideen vorbringen dürfen, unabhängig von ihrem Status oder Renommee. Das tut unserer Branche nur gut. Die guten Ideen halten jeder Überprüfung stand, die schlechten gehen über Bord. Auch Wissenschaftler, die in ihrer Karriere vorwärtskommen wollen, haben für Einmütigkeit nur ein müdes Lächeln übrig. Die beste Möglichkeit, zu Lebzeiten berühmt zu werden, besteht darin, eine Idee zu verfechten, die konträr zur überwiegenden Ansicht in der Wissenschaft steht und die sich eine andauernde Bestätigung durch Beobachtung und Experiment erarbeitet. Ein gesunder Dissens ist geradezu der natürliche Zustand an der Schwelle zur Entdeckung.
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Im Jahr 1660, ganze achtzehn Jahre nach Galileos Tod, wurde die Royal Society of London gegründet, und sie ist als älteste unabhängige wissenschaftliche Akademie der Welt bis heute aktiv. Seit jeher werden dort neue und fortschrittliche wissenschaftliche Ideen diskutiert, inspiriert durch das wunderbar unverblümte Motto der Akademie, »Nullius in verba« (etwa: Glaube niemandem aufs Wort). 1743 gründete Benjamin Franklin die American Philosophical Society zur Förderung »nützlichen Wissens«. Sie wirkt bis heute zu genau diesem Zweck, mit Mitgliedern, die alle Gebiete akademischen Strebens in den Natur- und den Geisteswissenschaften abdecken. Und im Jahr 1863, als er mit Sicherheit dringlichere Angelegenheiten zu erledigen hatte, unterzeichnete Abraham Lincoln – der erste republikanische Präsident der USA – die Gründungsurkunde der National Academy of Sciences (NAS) auf der Grundlage eines vom Kongress verabschiedeten Gesetzes. Dieses ehrwürdige Gremium sollte der Nation, deren Gründung noch keine hundert Jahre zurücklag, bei allen Fragen von Wissenschaft und Technologie mit...
Erscheint lt. Verlag | 13.1.2024 |
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Übersetzer | Hans-Peter Remmler |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Weltraum / Astronomie |
Naturwissenschaften ► Physik / Astronomie ► Astronomie / Astrophysik | |
Schlagworte | Asteroid 13123 Tyson • Astronomie • Astronomie verstehen • Astrophysik • Blauer Planet • Buch • Bücher • Das Universum für Eilige • Die Simpsons • Galileo Galilei • Geschenke für Männer • Geschenk für Mann • gesellschaftliche Krisen • Identitätsdebatte • Kopernikus • Kosmologie • Kosmos • Kurze Antworten • Milchstraße • Nasa • Naturwissenschaft • Neuerscheinungen 2024 • Neue Sachbücher 2024 • Neues Sachbuch • Physik • Physiker • Quantenphysik • Rassismus • Rationalismus • Simpsons • Star Talk • Stephen Hawking • The Big Bang Theory • Wissenschaft Buch 2024 • Zukunftsvision • Zwerggalaxien |
ISBN-10 | 3-608-12202-8 / 3608122028 |
ISBN-13 | 978-3-608-12202-2 / 9783608122022 |
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