Eine Geschichte Russlands (eBook)
448 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11972-5 (ISBN)
Orlando Figes, geboren 1959 in London, lehrt als Professor für Geschichte am Birkbeck College in London. Er zählt zu den bedeutendsten Historikern Großbritanniens und ist Verfasser international hochgelobter Werke zur russischen Geschichte. Seine Bücher wurden in über 30 Sprachen übersetzt und für sein bahnbrechendes Werk 'Die Tragödie eines Volkes' erhielt er 1997 den renommierten Wolfson History Prize.
- Spiegel Bestseller: Sachbuch / Hardcover (Nr. 08/2023) — Platz 18
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Orlando Figes, geboren 1959 in London, lehrt als Professor für Geschichte am Birkbeck College in London. Er zählt zu den bedeutendsten Historikern Großbritanniens und ist Verfasser international hochgelobter Werke zur russischen Geschichte. Seine Bücher wurden in über 30 Sprachen übersetzt und für sein bahnbrechendes Werk "Die Tragödie eines Volkes" erhielt er 1997 den renommierten Wolfson History Prize.
Einleitung
An einem kalten, grauen Novembermorgen im Jahr 2016 versammelte sich eine kleine Menschenmenge auf einem vom Schnee frei geräumten Platz vor dem Moskauer Kreml. Sie waren gekommen, um der Enthüllung eines Denkmals für den Großfürsten Wladimir beizuwohnen, Herrscher der Kiewer Rus, »der erste russische Staat«, von 980 bis 1015. Die wichtigsten religiösen Oberhäupter Russlands – der Patriarch von Moskau und der ganzen Rus, der katholische Erzbischof von Moskau, der Großmufti, der Oberrabbiner und das Oberhaupt der buddhistischen Sangha – waren allesamt in ihren farbenprächtigen Roben anwesend. Der Legende nach wurde Wladimir auf der Halbinsel Krim getauft, damals Teil des Byzantinischen Reichs, und leitete damit die Bekehrung seines Volkes zur östlichen Orthodoxen Kirche ein.
Die Bronzestatue, mit einem Kreuz in der einen und einem Schwert in der anderen Hand, ragte gut zwanzig Meter hoch auf. Es war das letzte einer langen Reihe gigantischer Denkmäler für Wladimir, die allesamt seit dem Sturz des Kommunismus im gleichen kitschigen »russischen« Nationalstil aus dem 19. Jahrhundert gestaltet wurden. Andere russische Städte – Belgorod, Wladimir, Astrachan, Bataisk und Smolensk – hatten mit staatlichen Mitteln und öffentlichen Spenden bereits Denkmäler für den Großfürsten aufgestellt. Die Moskauer Statue wurde vom Kultusministerium, einer Gesellschaft für Militärgeschichte und einem Motorradclub finanziert.[1]
Ein anderer Wladimir, Präsident Putin, hielt die Eröffnungsansprache. Sogar beim Sprechen schaffte er es, gelangweilt zu wirken. Allem Anschein nach wollte er die Zeremonie so schnell wie möglich hinter sich bringen – womöglich hatte sie aus diesem Grund früher als geplant begonnen –, als der russische Filmregisseur Fjodor Bondartschuk, der lautstark die kürzlich erfolgte russische Annexion der ukrainischen Krim begrüßt hatte, Wladimir Wladimirowitsch ans Mikrofon bat. Mit eintöniger Stimme las Putin von seinem Blatt ab und wies auf den Symbolcharakter des Datums der Enthüllung hin, den 4. November: Russlands Tag der nationalen Einheit. Der Großfürst habe, verkündete er, »die Ländereien Russlands gesammelt und verteidigt, indem er einen starken, vereinten und zentralisierten Staat gründete und auf diese Weise unterschiedliche Völker, Sprachen, Kulturen und Religionen in eine riesige Familie aufnahm«. Laut Putin gehörten die drei heutigen Länder, die ihre Ursprünge auf die Kiewer Rus zurückführen können – Russland, Belarus und die Ukraine –, dieser Familie an. Sie waren demnach ein einziges Volk oder eine Nation, mit den gleichen christlichen Grundsätzen, der gleichen Kultur und Sprache. Diese Aussage wurde von Patriarch Kyrill, der als Nächster sprach, wiederholt. Wenn Großfürst Wladimir beschlossen hätte, ein Heide zu bleiben oder nur selbst konvertiert wäre, dann »gäbe es kein Russland, kein großrussisches Reich, kein heutiges Russland«.
Natalja Solschenizyn, die Witwe des Schriftstellers, hielt die dritte und letzte Rede, eine kurze Ansprache in einer anderen Tonlage. Die traumatische Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert habe, sagte sie, das Land gespalten, und »von allen unseren Meinungsverschiedenheiten ist keine stärker entzweiend als unsere Vergangenheit«. Sie schloss mit einem Aufruf, »unsere Geschichte zu achten«, was keineswegs lediglich hieß, stolz auf sie zu sein, sondern »aufrichtig und mutig das Böse zu verurteilen, es nicht zu rechtfertigen oder unter den Teppich zu kehren, um es zu verheimlichen«.[2] Putin wirkte gequält.
Die Ukrainer waren empört. Sie haben eine eigene Statue des Großfürsten Wolodymyr, wie sie ihn nennen. Sie wurde im Jahr 1853 aufgestellt, hoch über dem rechten Ufer des Dnjepr mit Blick auf Kiew, die ukrainische Hauptstadt. Nur wenige Minuten nach dem Ende der Zeremonie in Moskau postete der offizielle Twitter-Account der ukrainischen Regierung ein Bild der Kiewer Statue mit folgendem Tweet auf Englisch: »Don’t forget what [the] real Prince Volodymyr monument looks like.« Also eine Erinnerung an das »echte« Monument für Fürst Wolodymyr. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, der im Zuge der Maidan-Revolution 2014 gewählt worden war, warf dem Kreml vor, sich die Geschichte der Ukraine anzueignen und verglich dessen »imperiales« Verhalten mit der russischen Annexion der Krim, eines Teils der souveränen Ukraine, kurz vor seiner Wahl.[3]
Kiew und Moskau stritten sich bereits seit mehreren Jahren um die Figur Wolodymyrs/Wladimirs. Das Denkmal in Moskau sollte ursprünglich einen Meter höher als das in Kiew sein. Während Putin und sein nationalistisches Regime Wladimir als den Gründer des modernen russischen Staates in Beschlag nahmen, erklärten die Ukrainer Wolodymyr zu ihrem eigenen Gründer, dem »Schöpfer des mittelalterlichen europäischen Staates Rus-Ukraine«, wie Poroschenko den Großfürsten in einem Erlass von 2015 zur Tausendjahrfeier von dessen Tod genannt hatte (die Tatsache, dass der Begriff »Ukraine« in schriftlichen Quellen erst Ende des 12. Jahrhunderts auftauchte – und selbst dann nur im Sinne von okraina, einem alten russischen Wort für »Peripherie« oder »Grenzland« –, wurde kurzerhand übergangen). Wenige Monate später fügte Poroschenko hinzu, Wolodymyrs Entscheidung, die Kiewer Rus taufen zu lassen, sei »nicht nur eine kulturelle oder politische Entscheidung, sondern eine europäische Entscheidung« gewesen, durch die Kiew in die Sphäre der christlichen Zivilisation von Byzanz eingetreten sei.[4] Die Botschaft war klar: Die Ukraine wollte Teil Europas sein, keine russische Kolonie.
Beide Seiten beriefen sich auf die Geschichte der Kiewer Rus – ihre gemeinsame Geschichte –, um Narrative der nationalen Identität, die sie für ihre eigenen nationalistischen Zwecke nutzen konnten, neu zu illustrieren. Historisch gesehen hat es selbstverständlich wenig Sinn, im 10. Jahrhundert (oder genaugenommen zu einem beliebigen Zeitpunkt im Mittelalter) von einem »Russland« oder einer »Ukraine« als Nation oder Staat zu sprechen. Somit handelt es sich bei dem Streit um Wolodymyr/Wladimir nicht um einen echten historischen Streit, sondern um zwei miteinander unvereinbare Gründungsmythen.
Die Version des Kreml – dass die Russen, die Ukrainer und die Weißrussen alle ursprünglich eine Nation gewesen seien – wurde heraufbeschworen, um den eigenen Anspruch auf eine »natürliche« Interessensphäre (gleichbedeutend mit einem Recht auf Einmischung) in der Ukraine und in Weißrussland zu untermauern. Wie viele Russen seiner Generation, die die sowjetische Sichtweise der Geschichte eingetrichtert bekamen, erkannte Putin die Unabhängigkeit der Ukraine nie wirklich an. Noch im Jahr 2008 sagte er dem US-Präsidenten, die Ukraine sei »kein richtiges Land«, sondern ein historischer Teil Großrusslands, eine Grenzregion, die das Moskauer Kernland vor dem Westen schütze. Nach dieser imperialen Logik hatte Russland das Recht, sich gegen westliche Vorstöße in die Ukraine zu wehren. Russlands Annexion der Krim, der Beginn eines langen Krieges gegen die Ukraine, leitete sich von dieser zweifelhaften Deutung der Landesgeschichte ab. Die Invasion war Russlands Antwort auf den »Putsch« in Kiew, wie der Kreml die Maidan-Revolution nannte, der als Volksaufstand gegen die prorussische Regierung Viktor Janukowitschs begonnen hatte. Denn Janukowitsch hatte die Verhandlungen mit der Europäischen Union um ein Assoziierungsabkommen auf Eis gelegt. Unterdessen benutzte Poroschenko seinerseits den Mythos einer »europäischen Entscheidung« der Ukraine, um den Volksaufstand zu legitimieren, der ihn an die Macht gebracht hatte, sowie die spätere Unterzeichnung des Abkommens mit der EU. Das Volk der Ukraine hatte mit dem »Euromaidan« seine »europäische Entscheidung« getroffen.
»Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft. Wer...
Erscheint lt. Verlag | 19.11.2022 |
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Übersetzer | Norbert Juraschitz |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Regional- / Landesgeschichte |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Naturwissenschaften ► Geowissenschaften ► Geografie / Kartografie | |
Schlagworte | Asien • Bestseller • Bolschewismus • Breschnew • Europa • Gorbatschow • GULAG • Imperialismus • Imperien • Kiew • Lenin • Leninismus • Moskau • Putin • Russische Revolution • Russland • Sachbuch • Slawen • Slawentum • Solschenizyn • spiegel bestseller • Spiegel Bestseller Autor • Stalin • Ukraine Krieg • Verfolgte im Stalinismus • Zarenreich |
ISBN-10 | 3-608-11972-8 / 3608119728 |
ISBN-13 | 978-3-608-11972-5 / 9783608119725 |
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