Afghanistan verstehen (eBook)

Geografie, Geschichte, Glaube, Gesellschaft
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
224 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11896-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Afghanistan verstehen -  Rainer Hermann
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Afghanistan beschäftigt die Weltgemeinschaft seit Jahrzehnten: Rainer Hermann, einer der besten Kenner des Nahen Ostens, schildert und erklärt Geschichte, Gesellschaft, Glaube und Geopolitik einer von Kriegen erschütterten Weltregion. Eine prägnante Überblicksdarstellung in zugänglicher Sprache, die das erforderliche Wissen vermittelt, um die Vorgänge in Afghanistan einordnen und verstehen zu können. Afghanistans Geschichte ist eine Abfolge von Kriegen und Gewalt. Immer wieder wollten ausländische Mächte das Land wegen seiner strategischen Lage zwischen großen Kulturkreisen als Pufferzone ihrer Einflusssphäre einverleiben. Seit Alexander dem Großen erlebten die fremden Eroberer jedoch, dass sie das Land zwar rasch besetzen können. Noch nie ist es einer Macht aber gelungen, sich dauerhaft gegen den Freiheitswillen der Afghanen festzusetzen. Die Afghanen waren sich immer nur im Kampf gegen die Eindringlinge einig, und gescheitert sind alle Versuche, das Land nach fremden Vorbildern zu modernisieren. Als Objekt der Begierde fremder Mächte und aufgrund der inneren Zerrissenheit hat sich das Land am Hindukusch nie entwickelt und ist vor allem in den ländlichen Gebieten rückständig geblieben. Eindringlich zeigt der Autor, warum die Geschehnisse in Afghanistan uns alle etwas angehen und wir uns nicht mit einer passiven Zuschauerrolle begnügen können. Zugleich entwirft der Autor Szenarien möglicher Entwicklungen in Afghanistan und zeigt Optionen für den Westen auf.

Rainer Hermann, geboren 1956, studierte Islamwissenschaft und Volkswirtschaft in Freiburg, Rennes, Basel und Damaskus. Als Korrespondent der Bundesstelle für Außenhandelsinformation wurde er 1990 in Kuwait Augenzeuge des irakischen Einmarsches. Von 1991 bis 2008 berichtete er aus Istanbul über die Türkei und die arabische Welt, 2008 übersiedelte er nach Abu Dhabi, 2012 kehrte er nach Deutschland zurück und ist in der politischen Redaktion der »FAZ« vor allem für den Nahen Osten und die Türkei zuständig.

Rainer Hermann, geboren 1956, studierte Islamwissenschaft und Volkswirtschaft in Freiburg, Rennes, Basel und Damaskus. Als Korrespondent der Bundesstelle für Außenhandelsinformation wurde er 1990 in Kuwait Augenzeuge des irakischen Einmarsches. Von 1991 bis 2008 berichtete er aus Istanbul über die Türkei und die arabische Welt, 2008 übersiedelte er nach Abu Dhabi, 2012 kehrte er nach Deutschland zurück und ist in der politischen Redaktion der »FAZ« vor allem für den Nahen Osten und die Türkei zuständig.

2.  Der lange Weg zur Unabhängigkeit


Durchzugsland: Von Alexander dem Großen bis Ahmad Schah, der »Perle unter Perlen«


Afghanistan war bereits in der Antike Schauplatz der Geschichte. In Balch, zwischen dem Hindukusch und dem Fluss Amudarya gelegen, lebte und starb Zarathustra (630 bis 553 v. Chr.). Nachdem Alexander der Große 328 v. Chr. Baktrien und dessen Hauptstadt Balch eingenommen hatte, vermählte er sich mit der baktrischen Prinzessin Roxane, deren legendäre Schönheit die Phantasie der Menschen noch lange anregte. Fünf Jahre später endete Alexanders in der Weltgeschichte einzigartiger Eroberungszug,[1] als er in Babylon im Alter von erst 33 Jahren mutmaßlich dem West-Nil-Fieber erlag.

Wie eng Afghanistan und Iran kulturell miteinander verbunden sind, zeigt sich ebenfalls in Balch, das als eine Wiege der iranischen Zivilisation gilt. Als der persische Achämenidenkönig Dareios der Große (reg. 522 bis 486 v. Chr.) Baktrien erobert hatte, war die Region bereits bewohnt von iranischen Völkern und den Reiternomaden der Saken, die auch als Skythen bekannt sind. Das Weltreich seiner Dynastie erstreckte sich von der Ägäis bis zum Himalaya, die Staatsreligion war der Zoroastrismus. Die frühen arabischen Geographen gaben Balch den Beinamen »Mutter der Städte«. Dort wurde 1207 der große Mystiker und Dichter Dschalal al-Din Rumi geboren, einer der bedeutendsten persischsprachigen Dichter. Er starb 1273 in der anatolischen Stadt Konya, wo er den Orden der Mevlevi-Derwische gegründet hatte.

Die Achämeniden herrschten weniger als zwei Jahrhunderte über Baktrien. Erst brachte ihnen Alexander der Große 331 v. Chr. in Gaugamela (dem heutigen Erbil im Irak) eine verheerende Niederlage bei, dann eroberte er auf seinem Marsch nach Osten das heutige Afghanistan. Bei Kandahar, Herat, Kabul und Bagram gründete er jeweils Städte, in denen er Soldaten zurückließ; sie sollten auch nach seinem Weiterzug für Ordnung sorgen. Von diesen Gründungen hat sich keine gehalten. Teilweise intakt ist noch die Zitadelle, die er 330 v. Chr. in Herat bauen ließ, das damals die Hauptstadt der Provinz Aria war.

Nach Alexanders Tod wurde der riesige Osten seines gewaltigen Reichs seinem Feldherrn Seleukos übertragen. Dieser siedelte in Baktrien weitere Griechen an, die als Verwalter eingesetzt wurden. Zeitweise befand sich das ganze heutige Afghanistan unter griechischer Herrschaft; die griechische Kultur reichte bis zum Hindukusch, sogar noch weiter bis hinab zum Indus. Das gräko-baktrische Königreich war wohlhabend und hatte drei Jahrhunderte lang fern der hellenistischen Welt Bestand. Ein weiteres griechisches Reich behauptete sich in Gandhara um die heutige Stadt Peschawar. Die hellenistische Kunst befruchtete auch die buddhistische Kunst jener Zeit.

Einige archäologische Stätten legen Zeugnis der griechischen Kultur in Afghanistan ab; die bekannteste unter ihnen ist Ai Khanoum am Amudarya im äußersten Nordosten nahe Tadschikistan. Französische Archäologen legten dort von 1964 an Reste einer Stadt frei, bei der es sich mutmaßlich um das antike Eukratideia handelt, die Hauptstadt des letzten gräko-baktrischen Königs Eukratides. Griechische Siedler hatten die Stadt 290 v. Chr. als seleukidische Kolonie gegründet. Belege gibt es für Kulte des Zeus und der Artemis, ein Text des Aristoteles wurde gefunden.[2] Die Taliban schütteten die als »unislamisch« verteufelte Ausgrabungsstätte im Jahr 2000 aber mit Erdmaterial zu. Bis zu ihrer Islamisierung praktizierten die Bewohner der schwer zugänglichen Gebirgswelt im Nordosten Afghanistans eine polytheistische Religion mit Elementen der griechischen Mythologie.[3]

Die griechischen Reiche gingen unter, als im 2. Jahrhundert v. Chr. aus den zentralasiatischen Steppen die nomadischen Reitervölker der Saken und Yüe-tschi eindrangen. Sie überrannten das Land am Hindukusch geradezu und streiften ihm eine neue Kultur über. Die Kuschan, einer der fünf Stämme der Yüe-tschi, übernahmen die Herrschaft. Da sie reich an Lasttieren waren, erlebte die Seidenstraße einen Aufschwung. Der Fernhandel führte zu einem Wohlstand, wie ihn die Menschen zuvor nicht gekannt hatten. Afghanistan verband nun China mit dem Mittelmeer. Im Reich der Kuschan entstand eine bunte synkretistische Kultur mit Elementen des Zoroastrismus, der griechischen und hinduistischen Gottheiten sowie des Buddhismus. Während der Kuschan-Herrschaft wurden bei Bamiyan die 53 beziehungsweise 35 Meter hohen Buddha-Statuen aus dem Felsen geschlagen, die die Taliban am 12. März 2001 sprengen sollten.

Parallel zum Niedergang des Kuschan-Reichs stiegen in Persien die Sassaniden zu den neuen Herrschern auf. Im 3. Jahrhundert eroberten sie im heutigen Afghanistan Baktrien und Gandhara; damit zog wieder die persische Kultur ein. Die Sassanidenherrschaft währte indes nicht lange, denn neue Nomadenvölker, die turkstämmigen Hunnen und die indoeuropäischen Weißen Hunnen, fielen in Afghanistan ein. Auch sie stellten nur eine dünne Oberschicht und wurden bald wieder vertrieben. Danach kehrten die Sassaniden noch einmal kurz zurück.

Während die meisten Eroberer bislang aus dem Norden und aus Zentralasien gekommen waren, musste man nun den Blick nach Westen und nach Süden richten. Von dort drangen arabische Armeen ein und mit ihnen der Islam. Die islamischen Truppen hatten sich auf dem Weg nach Osten die persische Kultur angeeignet, die sie ab der Mitte des 7. Jahrhunderts auch nach Afghanistan brachten, wo es zu einer glanzvollen Synthese der persischen Kunst mit dem Islam kommen sollte.

Kleinere, aber blühende islamische Reiche entstanden, wie das der Samaniden mit der Hauptstadt Balch. Ghazni, die Hauptstadt der Dynastie der Ghaznawiden, die von 977 bis 1186 regierten, stieg zu einer der bedeutendsten Städte der islamischen Welt auf. Ihre Herrscher bauten prächtige Paläste und gründeten die erste islamische Universität, sie zogen die größten Naturwissenschaftler der Zeit an ihren Hof und den bedeutendsten persischen Dichter, Firdousi (940 bis 1020). In Ghazni schrieb Firdousi das Nationalepos der persischsprachigen Welt, das Schahname (»Buch der Könige«).

Ausgelöscht wurde diese Hochkultur, als die mongolischen Reiterhorden von Dschingis Khan (1155 bis 1227) vom Jahr 1220 an aus dem Norden einfielen. Sie zerstörten, was ihnen fremd war – und das war fast alles. Ihrem Wüten konnten sich die Nomaden entziehen, nicht aber die Städte.[4] Und so verwüsteten die Mongolen die prächtigsten Städte jener Zeit wie Balch, Ghazni und Herat. Sie äscherten ganze Landstriche ein und löschten die Bevölkerung aus. In Herat soll das systematische Massaker sieben Tage gedauert haben.

Als sich die Mongolen nach dem Tod Dschingis Khans zurückzogen, hinterließen sie verbrannte Erde und Anarchie. Erst nach Jahrhunderten sollten sich die zerstörten Regionen erholen. Manche Städte, vor allem in der südlichen Region Helmand, wurden nie wieder aufgebaut. Im Hindukusch ließen die Mongolen einige Besatzungstruppen mit einer Mannstärke von jeweils Tausend zurück, die Vorfahren der heutigen Minderheit der Hazara. Hazar ist das persische Wort für ming, mongolisch für »tausend«.

Die Dynastie der Timuriden, die auf die Mongolen zurückgehen, brachte dem Westen des heutigen Afghanistan eine neue kulturelle und wirtschaftliche Hochzeit. Der Mongolenherrscher Timur Lenk (1336 bis 1405), der sich auf eine Abstammung von Dschingis Khan berief, verhalf zwar Samarkand dank der Künstler, die er an seinen Hof zog, zu einer kulturellen Blüte, die noch heute zu bestaunen ist. Er zerstörte 1381 jedoch abermals Herat und in den Ebenen Sistans südlich von Herat auch die ausgeklügelten Bewässerungsanlagen, die Qanate.

Sein Sohn und Nachfolger Schah Ruch (1377 bis 1447) baute Herat dann zu einer der schönsten Städte Asiens wieder auf und machte sie zu seiner Hauptstadt. Er lockte, wie es zuvor die Ghaznawiden getan hatten, die größten Künstler der Zeit an seinen Hof, etwa den persischen Dichter und Mystiker Dschami (1414 bis 1492). Seine Bauten brachten Herat den Beinamen »das Florenz Asiens« ein. »Die Herrschaft der Timuriden bildete die letzte Epoche, in der kulturelle und künstlerische Innovationen aus dem Gebiet des heutigen Afghanistan die islamische Welt...

Erscheint lt. Verlag 19.2.2022
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Regional- / Landesgeschichte
Geisteswissenschaften Geschichte
Naturwissenschaften Geowissenschaften Geografie / Kartografie
Schlagworte AlKaida • anglo-afghanische Kriege • Britisches Empire • Bundeswehr • China • Entwicklungshilfe • Extremismus • Hindokusch • Imperialismus • IS • Islam • Islamischer Fundamentalismus • Kabul • Krieg • Kundus • NATO • Nomadentum • Putsch • russischer Imperialismus • Russland • Scharia • Sowjetunion • Stämme • Stammestradition • Taliban • Terrorismus • Tribalismus • USA • Westen
ISBN-10 3-608-11896-9 / 3608118969
ISBN-13 978-3-608-11896-4 / 9783608118964
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