In den Wäldern der Biber (eBook)

Roman
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2022 | 1. Auflage
320 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-7128-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

In den Wäldern der Biber -  Franziska Fischer
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Als ihr wohlgeordnetes Leben ins Wanken gerät, flüchtet Alina aus dem hektischen Frankfurt zu dem einzigen Menschen, der ihr einfällt: ihr Großvater, der in einem kleinen brandenburgischen Dorf lebt. Seit achtzehn Jahren hat sie keinen Kontakt mehr zu ihm. Der alte Mann wohnt allein in einem viel zu großen, renovierungsbedürftigen Haus am Waldrand. Er hält Hühner, pflegt den Garten, backt Brot, beobachtet Biber - und nimmt seine Enkelin bei sich auf, ohne viele Fragen zu stellen. Dunkel und fast ein wenig unwirklich sind Alinas Kindheitserinnerungen an die Ferien bei ihren Großeltern; im Alltagsstress gefangen, hat sie seit Jahren nicht mehr an die Sommer im Dorf gedacht. Nun, inmitten der Natur, kehren die Erinnerungen zurück. Ehe sie sichs versieht, verliebt sie sich nicht nur in den Ort und die umliegenden Wälder. Doch bevor sie sich ein neues Leben aufbauen kann, gibt es einiges, wovon Alina sich befreien muss. Eine Geschichte über eine besondere Großvater-Enkelin-Beziehung und eine Hommage an das Leben auf dem Land, die Ruhe und den Frieden, den wir in der Natur finden.

FRANZISKA FISCHER wurde 1983 in Berlin geboren, hat einige Zeit im Ausland verbracht und ist mittlerweile aus der Stadt herausgezogen. Sie studierte Germanistik und Spanische Philologie an der Universität Potsdam und arbeitet als freiberufliche Autorin und Lektorin. Bei DuMont erschien zuletzt der SPIEGEL-Bestseller >In den Wäldern der Biber<.

Kapitel 1

Die Grenze zwischen Erinnerung und Zukunft ist nur ein Netz aus ungefühlter Zeit, das immer dünner wird.

Wo habe ich diesen Satz gelesen? Und wieso fällt er mir ausgerechnet jetzt wieder ein?

Der Bus schlängelt sich um eine Kurve, durch das Fenster entdecke ich erste Häuser. Wahrscheinlich deshalb. Weil diese Häuser Erinnerung sind und Zukunft und gerade beides gleichzeitig passiert und ich selbst nicht wirklich verstehe, wieso überhaupt. Gestern um diese Zeit befand ich mich noch auf dem Rückweg nach Hause, in einer Großstadt voller Menschen und betonter Geschäftigkeit, und dieses Zuhause war eine mit schweren Möbeln vollgestellte Vierzimmerwohnung, waren ein Mann, mit dem ich dreieinhalb Jahre geteilt habe, und zwei Wellensittiche namens Hugo und Stoffel.

Vorsichtshalber drücke ich den Halteknopf, weit wird die Station nicht mehr entfernt liegen.

Spechthausen. So ein malerischer Name. Genau richtig für ein Dorf inmitten von Wäldern und unglaublich passend zur Leere dieser Landstraße, an der der Bus nun hält.

Ich schultere meinen Rucksack und wuchte meinen Koffer aus dem Gefährt. Kaum dass ich vollkommen orientierungslos auf dem Bürgersteig stehe, schließen sich die Türen hinter mir, und der Bus fährt wieder an. Nur eine ältere Dame mit einem dicken grauweißen Dutt ist mit mir ausgestiegen und entfernt sich nun mit raschen Schritten, trotz des Gehstocks, den sie verwendet. Kurz blicke ich ihr nach, bleibe an der Überlegung hängen, ob ich sie nach dem Weg fragen sollte, doch bis ich einen Entschluss treffen kann, ist sie bereits zu weit entfernt. Sonst befindet sich niemand auf der Straße, vor mir die freiwillige Feuerwehr, hinter mir etwas, das ein Schild als ehemalige Papierfabrik ausweist.

Die Stille stammt aus einer anderen Zeit. Genervt schüttle ich den Kopf über meine wirren Gedanken, lasse den Blick schweifen und versuche, Orientierung zu gewinnen. Ich war so oft hier. Wann das letzte Mal? Mit elf? Oder zwölf? Auf jeden Fall ist es fast zwanzig Jahre her, natürlich erkenne ich kaum etwas wieder. Es ist es ein Wunder, dass ich mich noch an den Namen des Ortes erinnern konnte. Immerhin scheint er klein genug zu sein, dass ich in kurzer Zeit alles ablaufen könnte.

Tief atme ich ein, bevor ich einfach in die Richtung weitergehe, in die der Bus gefahren ist. An der ersten Abzweigung entscheide ich mich für eine Kopfsteinpflasterstraße, weil die gemütlich wirkenden Ziegelbauten etwas in mir anstoßen, das mich mit leisem Klingen weiterträgt, bis ich vor einem der Gebäude stehen bleibe. Vielleicht ist es der Rhododendron vor dem Haus, vielleicht die Holzbank neben der Treppe, von der die grüne Farbe blättert.

Gerade als ich auf die Klingel drücken will, fällt mein Blick auf den Namen. Zeiler. Nicht der Nachname meines Vaters, nicht der Nachname, den ich selbst noch trage.

In dem Moment, in dem ich mich umdrehen und weiterlaufen will, öffnet sich die Haustür. Ein etwa siebenjähriges Mädchen geht einen Schritt vor in den Türrahmen, blonde Zöpfchen mit Schleifen, ein weißes Kleid, sie sieht aus wie aus einem anderen Jahrhundert. Schweigend starrt sie mich an.

»Hallo«, sage ich nach einer Weile.

Wieder Schweigen.

»Ich bin … Ich wollte zu meinem Großvater.«

Das Mädchen schüttelt den Kopf. Unwillkürlich drängt sich mir die Frage auf, ob es stumm ist oder einfach nur schüchtern. Sie sagt nichts, sieht mich aber weiter aufmerksam an.

»Mia? Was machst du da an der Haustür?« Der Stimme folgt eine Frau, eine ältere Version des Kindes. Größer, etwas rundlicher, ein paar Fältchen um die Augen, die Haare – dunkler, aber ebenfalls blond – umrahmen ihr Gesicht, werden allerdings von einem bunten Tuch aus der Stirn gehalten. Das ausgestellte Kleid unterstreicht den Sechzigerjahre-Look. In diesem Dorf ist wohl die Zeit stehen geblieben. »Oh, hallo.« Ihr Blick zuckt zu meinem Koffer, mit einem fragenden Ausdruck sieht sie wieder zu mir. »Wir haben gar keinen Besuch erwartet.«

»Ja. Nein. Also, ich suche Siegfried Engelhardt. Ich dachte, er wohnt hier, aber das war wohl ein Irrtum.«

»Ach so, okay.« Sie lächelt mit einer einladenden Offenheit, mit der Menschen selten lächeln. Fast nie eigentlich. »Er wohnt hier nicht mehr. Das Haus hat er uns vor ein paar Jahren verkauft.«

»Oh.« Die ganze aufgestaute Erschöpfung der Reise lässt meinen Körper schwer werden.

»Keine Sorge, er wohnt nur ein Stückchen weiter.« Die Frau legt eine Hand auf die Schulter ihrer Tochter. »Wollen Sie kurz reinkommen, während ich versuche, Siegfried zu erreichen? Manchmal nimmt er sein Handy mit, aber meistens vergisst er es.«

»Mit wohin?«

»In den Wald. Um diese Uhrzeit geht er gern spazieren und schaut nach den Bibern.«

»Biber. Okay. Also ja, es wäre nett, wenn Sie ihn anrufen könnten. Danke.« Ich folge der Frau in einen schmalen Flur. Rechts von uns führt eine Treppe ins obere Stockwerk, wo sich die Schlafräume und Großvaters Arbeitszimmer mit den riesigen Bücherregalen befanden. Für einen Moment bleibe ich stehen, versuche, die diffusen Bilder festzuhalten, die aus den Tiefen meines Gedächtnisses an die Oberfläche treiben und sofort wieder verschwinden. Hing dort bei der Treppe ein Bild von Monet? Oder waren es gerahmte Fotos? Stand rechts vom Eingang früher auch eine Kommode? Falls ja, lagen auf ihr wahrscheinlich nicht lauter Kinderbilder und Sommerhüte und aller möglicher Kleinkram, wie jetzt. Meine Großmutter war immer sehr auf Ordnung bedacht.

Geradeaus, am Ende des Flurs, führt eine weitere Tür hinaus in den Garten, die früher im Sommer abends immer offen stand. Die neue Besitzerin dieses Hauses tritt hindurch und wendet sich wieder zu mir um, sodass ich ihr rasch folge.

»Ich bin übrigens Isabel«, stellt sie sich vor. »Wenn Sie mögen, setzen Sie sich doch dort unter den Pavillon. Wir sehen übrigens normalerweise nicht so aus, wir sind nur demnächst zu einer Vintageparty eingeladen und stellen gerade unsere Kostüme zusammen.«

»Danke. Ich heiße Alina. Und die Kostüme sind ziemlich überzeugend.«

»Alina.« Nachdenklich mustert sie mich. »Bist du Siegfrieds Enkelin?«

Mit einem Lächeln nicke ich. Achtzehn Jahre ohne Kontakt, trotzdem hat er von mir erzählt. Allerdings kann ich an Isabels Gesicht nicht ablesen, ob das gute oder schlechte Erzählungen waren.

»Willst du etwas trinken? Einen Kaffee vielleicht?«

»Ja, sehr gern. Nach ungefähr sechs Stunden Zugchaos würdest du mir damit das Leben retten. Ich komme gerade aus Frankfurt.«

»Nimmst du auch Hafermilch? Kuhmilch ist gerade alle.«

»Sogar lieber. Danke.«

Den Koffer lasse ich neben der Terrassentür stehen und laufe das Stückchen zu dem Pavillon. Meine Großeltern hatten nur einen schlichten mit weißen Kunststoffplanen, den sie an besonders heißen Tagen, oder wenn Besuch kam, aufgebaut haben, keinen aus glattem Holz mit zurückgebundenen Stoffvorhängen und gemütlichen Loungemöbeln. Großmutters Blumenbeete, die meiner Erinnerung nach immer sehr gepflegt waren, haben sich zu einer Wildwiese entwickelt, in einem Hochbeet versuchen zwei Paprikapflanzen verzweifelt, ein paar mickrige Früchte am Leben zu halten, und überall liegt Spielzeug herum. Ich fühle mich, als würde ich in zwei Gärten gleichzeitig stehen, einer wie eine verblasste Fotografie in Sepia und der andere nah und lebendig.

Erleichtert lasse ich mich auf einem der Holzsessel nieder. Kurz blicke ich auf mein Handy. Kein verpasster Anruf, keine Nachricht von Fabian. Ich bin selbst überrascht davon, wie wenig mich diese Tatsache berührt. Außer leiser, von dem anstrengenden Tag erschöpfter Wut regt sich kein Gefühl in mir, da sind nur Leere und Orientierungslosigkeit, die auch mit dem Finden dieses Hauses nicht verschwunden sind. »Deinen Kram kannst du ein anderes Mal holen«, das waren Fabians letzte Worte, bevor er die Wohnungstür hinter mir zuknallte und mich in dem weißgrau gestrichenen Treppenhaus allein zurückließ.

Isabel kommt mit zwei Tassen zurück. Ihre Tochter ist wohl im Haus geblieben, ebenso wie das Kostüm. Sie trägt nun eine Jeans und ein gerafftes Top, das ihre Schultern freilässt.

Schweigend trinken wir den perfekt zubereiteten Cappuccino. Ich bin dankbar für diese Stille, dafür, dass Isabel keine neugierigen Fragen stellt, denn ich würde ihr keine Antworten geben wollen.

»Wir haben hier noch viel Arbeit vor uns«, sagt Isabel unvermittelt. »Elias und ich, wir haben tausend Pläne, nur leider schaffen wir es nie, sie umzusetzen. Was vor allem meine Schuld ist, weil mir eigentlich permanent etwas dazwischenkommt. Meistens Zeitmangel, und wenn es der nicht ist, dann Faulheit.« Ihr Lächeln wirkt fast entschuldigend.

»Das wäre bei mir genauso«, erkläre ich rasch, bevor sie auf die Idee kommen kann, ich würde den Zustand des ehemaligen Grundstücks meines Großvaters bewerten wollen. Immerhin weiß ich nur noch vage, wie es früher ausgesehen hat.

»Siegfried habe ich nicht erreicht, ihm aber auf die Mailbox gesprochen. Er wird sie wahrscheinlich nicht abhören.«

Die Tasse stelle ich auf den Tisch zwischen uns. »Das macht nichts«, antworte ich. »Du kannst mir auch einfach zeigen, wo er jetzt wohnt, und ich warte dort auf ihn.«

»Dann wirst du von den Mücken zerfressen. Es stört mich wirklich nicht, wenn du hierbleibst. Ich muss nur langsam das Abendessen vorbereiten. Mia geht früh ins Bett.«

»Ich will nicht …«

Ihr Lächeln unterbindet weitere Worte. Immerhin kann ich sie überreden, mir ein Schneidebrett und ein Messer herauszubringen, sodass ich kurz darauf neben dieser fremden Frau sitze und Paprika...

Erscheint lt. Verlag 17.5.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Familie / Erziehung
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Partnerschaft / Sexualität
Geisteswissenschaften Psychologie Persönlichkeitsstörungen
Naturwissenschaften Geowissenschaften Geografie / Kartografie
Schlagworte Achtsamkeit • Alte Sorten • Brandenburg • der große sommer • Dorf • Ewald Arenz • Familienroman • Freundschaft • Großvater • Kindheitserinnerung • Landleben • Liebesroman • Melancholie • Natur • Selbstfindung • Wald • zurück aufs Land
ISBN-10 3-8321-7128-2 / 3832171282
ISBN-13 978-3-8321-7128-5 / 9783832171285
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