Schnee (eBook)
272 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45728-3 (ISBN)
Giles Whittell liebt den Schnee und Wintersport in jeder Form, auch wenn der gefeierte Journalist und Autor zahlreicher Bücher nicht in den Bergen, sondern in den Großstädten der Welt zu Hause ist. Nach Korrespondententätigkeit in L.A., Washington und Moskau lebt der Chefredakteur der Times heute mit seiner Frau und drei Söhnen im Süden Londons.
Giles Whittell liebt den Schnee und Wintersport in jeder Form, auch wenn der gefeierte Journalist und Autor zahlreicher Bücher nicht in den Bergen, sondern in den Großstädten der Welt zu Hause ist. Nach Korrespondententätigkeit in L.A., Washington und Moskau lebt der Chefredakteur der Times heute mit seiner Frau und drei Söhnen im Süden Londons.
Einleitung
Im Jahr 1867 bekam ein kleines Mädchen, das auf einem Bauernhof in Wisconsin lebte, ein Schwesterchen. Die beiden waren Pionierinnen: Sie nannten eine Blockhütte ihr Zuhause, die ihr Vater am Nordufer des Mississippi gebaut hatte, mitten in den Wäldern. Im Sommer spendete der Wald Schatten. Doch von November bis Mai ergaben sich die Bäume, gleich schlafenden Bären, dem Schnee.
Während die Mädchen aufwuchsen, zog die Familie weiter in Richtung Westen, aber das Leben in den schneebedeckten Wäldern sollte einen besonderen Platz in der Erinnerung der jüngeren der beiden Schwestern haben. Ihr Name war Laura Ingalls Wilder, und Jahre später beschrieb sie einen Wintertag in der Hütte:
»Ma kochte eifrig den ganzen Tag lang gute Sachen für Weihnachten. Sie backte Hefebrot und Brot aus Roggen und Mais, knusprige Biskuits und eine riesige Pfanne voll gebackener Bohnen mit Pökelfleisch und Sirup. […]
Eines Morgens kochte sie Melasse und Zucker, bis ein zähflüssiger Sirup entstand. Pa brachte zwei Schüsseln voll frischem weißen Schnee von draußen herein. Laura und Mary bekamen jede eine Schüssel, und Pa und Ma zeigten ihnen, wie man den dunklen Sirup in einem dünnen Strahl auf den Schnee gießt. Sie gossen damit Kreise und Schnörkel und kunstvolle Ornamente; alles wurde rasch hart, und fertig war das Zuckerwerk. Laura und Mary durften je ein Stück essen, das übrige musste für Weihnachten aufgehoben werden.«
Diese Beschreibung stammt aus dem Buch Unsere kleine Farm: Laura im großen Wald, das Laura Ingalls Wilder 1932 verfasste und aus dem mir meine Mutter in Afrika vorlas. Ich muss zu der Zeit acht Jahre alt gewesen sein, und es hinterließ bei mir augenblicklich einen tiefen Eindruck. Das Vorlesen wirkte wie eine Klimaanlage in Buchform; der Hauch einer geheimnisvollen Kälte mitten in der nigerianischen Sommerhitze.
In meinem Bewusstsein verfestigte sich das Bild von Schnee als etwas Kostbarem.
Schnee bewässert. Er stellt Skifahrern eine Fläche zum darüber Hinweggleiten zur Verfügung. Von Denali bis Rakaposhi bedeckt er wie eine dicke Schicht Zuckerguss die Berge. Nur Schnee vermag es, Ruhe und Frieden in New York einkehren zu lassen – und er macht aus Melasse Bonbons.
Schnee hat sehr viel mit Religion gemein. Er kommt vom Himmel. Er verändert alles. Er schafft eine alternative Realität und bringt Menschen dazu, sich irrational zu verhalten. Es gibt allerdings auch einen Unterschied. Anders als Religion wirft Schnee Fragen über die Geheimnisse der Natur auf.
Wodurch erhält eine Schneeflocke ihre Form? Warum gibt es nicht zwei identische? Wie kommt es, dass derselbe warme Wind auf der einen Seite eines Berges zu Schnee, auf der anderen aber zu trockener Luft führt? Wie kann es sein, dass Regen, der gerade noch talaufwärts am Fenster vorbeipeitschte, einen Augenblick später zu Schnee wird?
Meine Freude an solchen Momenten ist nicht flüchtiger Natur. Sie kann Jahre überdauern, und ich rufe sie mir dann später einmal in Erinnerung und genieße sie wie die Madeleines bei Proust; allerdings gibt es da zwei Dinge, die den Genuss intensivieren. Zum einen sind Momente reinen Schneevergnügens kostbar, vor allem, wenn man in einem niedrigen und flachen Land wie England lebt. Zum anderen – und das ist, zugegebenermaßen, nicht mehr als eine Vermutung – sind sie, führt man sich die Bedingungen im Weltall vor Augen, unglaublich unwahrscheinlich.
Der leere Raum, in dem der Planet Erde schwebt, ist ein überwiegend lebensfeindliches Vakuum ohne Sonnenlicht. Anzeichen von Leben sind selten. Anzeichen von Spaß sogar noch seltener. Zwar scheinen schneeähnliche Niederschläge auch an anderen Orten in unserer Galaxie vorzukommen, doch auf Wasser basierender Schnee, auf dem man bergab rutschen und herumrollen kann, entsteht nur unter sehr speziellen Bedingungen.
Denn Schnee setzt eine Atmosphäre voraus, die Wasserdampf halten kann, ohne dessen chemische Zusammensetzung zu verändern. Dazu wird eine starke Aufwärtsbewegung der Luft benötigt, entweder über einer Bodenerhebung oder über noch kälteren Luftmassen. Diese Bewegung muss die Temperatur der Flüssigkeit bis zum Gefrierpunkt oder darunter abkühlen; und die Luft muss mit natürlichen Staubpartikeln angereichert sein, an denen sich Eiskristalle bilden können.
Da ist es durchaus wahrscheinlicher, dass nicht all diese Bedingungen tatsächlich an ein und demselben Ort existieren, und doch passiert genau das auf der Erde ständig. In der dünnen Gasschicht, die wir als Troposphäre bezeichnen, treffen alle Voraussetzungen für Schnee laufend aufeinander, gerade so, als wollten sie dem Kosmos die Stirn bieten. Wem dieser Gedanke befremdlich anmutet, blicke doch, wenn es das nächste Mal schneit, in die Wolken und versuche, sich die unendliche Weite dahinter vorzustellen. Wenden Sie sich dann wieder dem Schnee zu, und beobachten Sie, wie er scharfe Kanten weichzeichnet, wie er alle Geräusche schluckt und die Welt in eine wohlige, an vergangene Zeiten erinnernde, sepiafarbene Eintönigkeit versinken lässt. Dieses einfache Gedankenexperiment kann einem Schneesturm ein ganz neues Gesicht verleihen. Was zunächst wild und zerstörerisch schien, wirkt nun geradezu schützend und schöpferisch. Manchmal fühlt sich ein Schneesturm regelrecht vertraut an. Wie cool ist das denn, bitte schön?
Manchmal ist ein Schneesturm allerdings auch die Hölle. Es war nicht nur die Kälte, sondern ein Schneetreiben, das Apsley Cherry-Garrards Winter-Treck über Ross Island im Jahr 1911 zur »schlimmsten Reise der Welt« machte. Jeder, der schon einmal auf einer Skipiste von »schlechtem« Wetter überrascht wurde, kennt dieses Übel. Immerhin ist es ein Übel, von dem man beim nächsten Abendessen mit Freunden erzählen kann. Und es lässt einen die Kraft der Natur spüren, echter Nervenkitzel also. Um einen herum fällt der Himmel zu Boden, und man muss nur die Zunge rausstrecken und kann davon kosten. Man hat eine Ausrede fürs Zuspätkommen und einen Grund dafür, warum man vor Aufregung nur so zittert, wenn man dann eintrifft.
Henry David Thoreau nannte Schneeflocken »zauberhafter Flitter, der Staub vom Boden des Himmelreichs«. Es faszinierte ihn, Schnee aus der Nähe zu betrachten, und damit war er in guter Gesellschaft. Wissenschaftler und Philosophen wetteiferten bereits seit drei Jahrhunderten darum, die Frage zu beantworten, ob Gott oder die Natur für die sechseckige Perfektion von Schneeflocken verantwortlich sei. Ihre Faszination galt Schnee auf mikroskopischer Ebene, Schnee als Kleinod. In jüngerer Zeit haben Menschen eine ebenso starke Faszination für Schnee auf der Makroebene entwickelt, für Schnee als Handelsgut. Die Erklärung dafür ist einfach: Wir können nicht genug davon bekommen. Wir sind eine durstige Spezies und brauchen dringend das Wasser, das im Schnee gebunden ist. Außerdem sind wir Hedonisten. Befindet man sich warm eingepackt in einem Schneegestöber, um in die eine oder andere Richtung zu rutschen, ist es ganz natürlich, sich zu fragen, ob es nicht noch stärker schneien könnte. Die Frage ist naheliegend und schlicht, doch sie geht einem nicht mehr aus dem Kopf. Wie stark kann es schneien?
An einem Februarmorgen im Jahr 1991 war der Schneefall so heftig – und das ausgerechnet in London –, dass er das Leben des Premierministers rettete. An diesem Morgen fuhr ein weißer Van in Richtung Westen auf der Whitehall und hielt auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Verteidigungsministeriums an. Der Fahrer stieg aus und raste auf einem Motorrad davon. Nur wenige Minuten danach schleuderte eine Explosion drei selbst gebaute Granaten durch das für den Anschlag präparierte Dach des Vans. Zwei flogen nicht weit genug, doch eine landete im Garten von 10 Downing Street, nur 30 Meter von dem Raum entfernt, in dem der damalige Premierminister John Major gerade ein Treffen seines Kabinetts abhielt. Es gab ein paar Leichtverletzte, aber niemand wurde getötet – ein glücklicher Umstand, der später teilweise dem Schnee zugeschrieben wurde, denn der hatte eine Markierung auf dem Gehweg verdeckt, wo der Van hätte zum Halten kommen sollen, und genau diese verpasste der Fahrer.
Schneefall kann so stark sein, dass die Spuren, die man hinterlässt, im nächsten Augenblick zugedeckt sind. Im Jahr 1953 veröffentlichte die Monthly Weather Review, die Zeitschrift der American Meterological Society, einen Artikel, der einen Schneesturm aus dem Jahr 1921 als größtes eintägiges Schnee-Ereignis der amerikanischen Geschichte ausgab. Das bedeutet nicht gezwungenermaßen, dass es sich um den heftigsten Schneesturm aller Zeiten handelte, aber es zeigt, dass die Bedingungen in der Neuen Welt günstig sind für rasch hereinbrechenden Schneefall, und das in großen Mengen. Hier gibt es den Pazifischen Ozean für die nötige Feuchtigkeit, Berge, die für Auftrieb sorgen, und eine gigantische Landmasse zur Abkühlung. Das Zentrum des Sturms befand sich am Silver Lake in Colorado, hoch oben in den Rockies, fünf Kilometer östlich der Großen Amerikanischen Kontinentalscheide. Insgesamt 27 Stunden lang fielen pro Stunde circa siebeneinhalb Zentimeter Schnee, das sind gut 190 Zentimeter innerhalb von 24 Stunden – genug, um einen aufrecht stehenden Zwei-Meter-Cowboy zu begraben. Früher war das Silver-Lake-Ereignis aufgrund von starken Winden und Schneeverwehungen nicht berücksichtigt worden, doch der Artikel aus dem Jahr 1953 wandte im Nachhinein ein, dass diese nicht gravierender gewesen seien als bei anderen Unwettern vergleichbarer...
Erscheint lt. Verlag | 2.11.2021 |
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Übersetzer | Christiane Bernhardt |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Natur / Ökologie |
Naturwissenschaften ► Physik / Astronomie | |
Technik | |
Schlagworte | Biowissenschaften • Eis • Erdkunde • Erzählendes Sachbuch • Geschenk für Naturliebhaber • Geschenk zum Geburtstag • Geschenk zu Weihnachten • Klima • Kristall • Kulturgeschichte • Natur • Natur & Wildniss • Naturgeschichte • Naturwissenschaft • Reise • Schnee • Schneewandern • Ski • Skitouren • Sport & Fitness • Umwelt & Ökologie • Weihnachtszeit • Winter • Wintersport |
ISBN-10 | 3-426-45728-8 / 3426457288 |
ISBN-13 | 978-3-426-45728-3 / 9783426457283 |
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