Wie die Alchemie zur Chemie wurde (eBook)
402 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7460-3369-3 (ISBN)
Friedrich Wilhelm Ostwald war ein deutsch-baltischer Chemiker, Philosoph, Soziologe, Wissenschaftsorganisator, -theoretiker und -historiker. Er gilt als einer der Begründer der Physikalischen Chemie und lehrte an der Universität Leipzig. Sein Laboratorium und das von ihm begründete Wilhelm-Ostwald-Institut für Physikalische und Theoretische Chemie der Universität machte er zu einem Zentrum der neuen Wissenschaftsdisziplin.
1. Die wunderbare Wandlung des Steins der Weisen
Abb. 1.1: Nachbildung des Labors von Andreas Libavius in Rothenburg ob der Tauber. CC0
1.1 Auf dem Weg zur chemischen Revolution
Es ist nicht leicht, sich eine Vorstellung über den Umfang des chemischen Wissens in der gegenwärtigen Zeit zu machen, ohne den Blick rückwärts auf vergangene Jahrhunderte zu lenken. Die Geschichte einer Wissenschaft ist eine Seite in der Geschichte des menschlichen Geistes; in Beziehung auf ihre Entstehung und Entwicklung gibt es keine, welche merkwürdiger und lehrreicher wäre, als die Geschichte der Chemie. Der verbreitete Glaube an das jugendliche Alter der Chemie ist ein Irrtum, welcher zufälligen Umständen seine Entstehung verdankt; sie gehört zu den ältesten Wissenschaften.1
Derselbe Geist, welcher zu Ende des 18. Jahrhunderts in einem hochzivilisierten Volk das wahnsinnige Bestreben erweckte, die Denkmale seines Ruhmes und seiner Geschichte zu vernichten, der Göttin der Vernunft Altäre zu erbauen und einen neuen Kalender einzuführen, gab Veranlassung zu dem seltsamen Fest, in welchem Madame Lavoisier in dem Gewand einer Priesterin das phlogistische System auf einem Altar den Flammen übergab, während eine feierliche Musik ein Requiem dazu spielte. Damals vereinigten sich die französischen Chemiker zu einer Änderung aller bis dahin gebräuchlichen Namen und Bezeichnungsweisen von chemischen Vorgängen und chemischen Verbindungen, es wurde eine neue Nomenklatur eingeführt, welche im Gefolge eines in sich vollendeten neuen Systems sich in allen Ländern die Aufnahme erzwang.
Daher denn die scheinbare große Kluft zwischen der gegenwärtigen und früheren Chemie.
Der Ursprung einer jeden wichtigen Entdeckung, einer jeden gesonderten Beobachtung, welche bis zu Lavoisiers Zeit in irgendeinem andern Teil Europas gemacht worden war, war verwischt, die neuen Namen und geänderten Vorstellungen zerrissen allen Zusammenhang mit der Vergangenheit, unser gegenwärtiger Besitz scheint Vielen nur das Erbe der damaligen französischen Schule zu sein und die Geschichte nicht über diese hinaus zu reichen. Dies eben ist der Irrtum.
Wie es kein Ergebnis gibt in der Geschichte der Völker, dem nicht Zustände oder Ereignisse, deren Folge es ist, vorangegangen sind, ganz so verhält es sich mit dem Fortschritt in den Naturwissenschaften. Wie eine Erscheinung in der belebten oder unbelebten Natur die Bedingungen voraussetzt, durch welche sie entsteht, so wird der Fortschritt in den Naturwissenschaften angebahnt durch vorangegangene Erwerbung von Wahrheiten, welche Ausdrücke für Tatsachen, oder der gegenseitigen Abhängigkeit von Tatsachen sind. Ein neues System, eine neue Theorie ist immer die Folge von mehr oder weniger umfassenden, der herrschenden Lehre widersprechenden Beobachtungen; zu Lavoisiers Zeit waren alle Körper, alle Erscheinungen, mit deren Studium er sich beschäftigt hat, bekannt; er hat keinen neuen Körper, keine neue Naturerscheinung entdeckt, alle durch ihn festgestellten waren die notwendigen Folgen von Arbeiten, die den seinigen vorangegangen waren; sein unsterbliches Verdienst war es, den Körper der Wissenschaft mit einem neuen Sinn begabt zu haben, alle Glieder waren bereits vorhanden und in die richtige Verbindung gebracht.
Die Chemie umfasst die Wirkungen von Naturkräften der verborgensten Art, die sich nicht wie viele physikalische Kräfte, wie das Licht, die Schwere, durch Tätigkeiten kundgeben, welche täglich die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich ziehen; es sind Kräfte, welche nicht in Entfernungen wirken, deren Äußerungen nur bei der unmittelbaren Berührung verschiedenartiger Materien wahrnehmbar sind. Es gehörten Jahrtausende dazu, um die Welt von Erscheinungen zu schaffen, woraus die Chemie zu Lavoisiers Zeiten bestand. Unzählige Beobachtungen mussten gemacht sein, ehe man imstande war, die auffallendste chemische Erscheinung, das Brennen eines Lichtes, zu erklären, ehe man die verborgenen Fäden auffand, welche zum Bewusstsein führten, dass das Rosten des Eisens in der Luft, das Bleichen der Farben, der Atmungsprozess der Tiere abhängig von derselben Ursache ist.
Um zu den chemischen Kenntnissen zu gelangen, über die wir heute verfügen, war es nötig, dass Tausende von Männern, mit allem Wissen ihrer Zeit ausgerüstet, von einer unbezwinglichen, in ihrer Heftigkeit an Raserei grenzenden Leidenschaft erfüllt, ihr Leben und Vermögen und alle ihr Kräfte daransetzten, um die Erde nach allen Richtungen zu durchwühlen, dass sie, ohne müde zu werden und zu erlahmen, alle bekannten Körper und Materien, organische und unorganische, auf die verschiedenartigste und mannigfaltigste Weise miteinander in Berührung brachten; es war erforderlich, dass dies fünfzehn Jahrhunderte hindurch geschah.
Es war ein mächtiger unwiderstehlicher Reiz, der die Menschen antrieb, sich mit einer Geduld und Ausdauer, die ohne Beispiel in der Geschichte ist, mit Arbeiten zu beschäftigen, welche kein Bedürfnis der Zeit befriedigten. Es war das Streben nach irdischer Glückseligkeit.
Eine wunderbare Fügung pflanzte in die Gemüter der weisesten und erfahrensten Männer die Idee der Existenz eines in der Erde verborgenen Dinges, durch dessen Auffindung der Mensch in den Besitz dessen gelangen kann, was die höchsten Wünsche der höheren Sinnlichkeit umschließt: Gold, Gesundheit und langes Leben. Das Gold gibt die Macht, ohne Gesundheit gibt es kein Genießen, und das lange Leben tritt an die Stelle der Unsterblichkeit. (Goethe.)
Diese drei obersten Erfordernisse der irdischen Glückseligkeit glaubte man vereinigt in dem Stein der Weisen; die Aufsuchung der jungfräulichen Erde, des Mittels zur Darstellung der geheimnisvollen Substanz, welche in der Hand der Weisen oder Wissenden jedes unedle Metall in Gold verwandelt, das, wie man später glaubte, in seiner höchsten Vollkommenheit als Arzneimittel gebraucht, alle Krankheiten heilt, den Körper verjüngt und das Leben verlängert, war aber tausend Jahre lang der alleinige und Hauptzweck aller chemischen Arbeiten.
Um das Wesen der Alchemie richtig aufzufassen und zu beurteilen, muss man sich daran erinnern, dass man bis zum sechszehnten Jahrhundert die Erde für den Mittelpunkt des Weltalls hielt, das Leben und die Schicksale der Menschen wurden als in engster Verbindung stehend betrachtet mit der Bewegung der Gestirne. Die Welt war ein großes Ganzes, ein Organismus, dessen Glieder in ununterbrochener Wechselwirkung standen. „Nach der Erde hin strahlen von allen Enden des Himmels die schöpferischen Kräfte und bestimmen das Irdische.“ (Roger Baco.)
„Isst jemand ein Stück Brot, sagt Paracelsus, genießt er nicht in demselben Himmel und Erde und alle Gestirne, insofern der Himmel durch seinen befruchtenden Regen, die Erde durch das Feld und die Sonne durch ihre leuchtenden und erwärmenden Strahlen an der Hervorbringung desselben mitgewirkt haben und das Ganze im Einzelnen gegenwärtig ist.“
Was auf der Erde geschah, stand am Himmel in Sternenschrift, das am Himmel Geschriebene musste auf der Erde geschehen, Mars oder Venus, oder ein anderer Planet regierten von der Geburt an die Taten und Erlebnisse der einzelnen Menschen; die in ihrer Erscheinung regellosen Kometen galten als drohende Schriftzeichen der Bedrängnis und Not ganzer Völkerschaften.
Die Erkenntnis und Betrachtung der Natur und ihrer Kräfte umfasste die Wissenschaft der Magie; mit der Heilkunst verbunden galt sie für den Inbegriff geheimer Weisheit. In den Erscheinungen des organischen Lebens, in großartigen Naturwirkungen, im Donner und Blitz, im Sturm und Hagel erkannte man das Walten unsichtbarer Geister.
Was ein Denker sich durch Beobachtung erworben hatte, war ein Besitz, dessen Quelle der Menge nicht erkennbar war, er war ein Zeichen des Verkehrs mit übernatürlichen Wesen, sein Wissen galt als Macht, mit ihm beherrschte er die Geister. „Die Dämonen, sagt Cäsalpinus, erkennen durch den inneren Sinn, ohne eines Körpers zu bedürfen, aber ohne natürliche Mittel können sie auf Menschen und Tiere keinen Einfluss äußern. – Die von der argen Art erregen die Behexungen und allerlei Unfälle.“ Vier Jahrhunderte lang brachte die Jurisprudenz der Idee des Bestehens von Bündnissen der Menschen mit dem bösen Geiste Tausende von Menschenopfern; man war überzeugt von der Existenz von Verträgen der seltsamsten Art, insofern keine der Parteien irgendeinen Nutzen daraus zog, denn die Unglücklichen, welche ihre Seele dem Teufel verschrieben hatten, lebten größtenteils im Elend und tiefer Armut und tauschten dafür einmal weltliche Freuden ein, und ihr Anteil an himmlischer Seligkeit, welchen der Teufel erwarb, war für ihn ein wertloser Besitz. (Carriere.)
Mit diesem Zustand der Entwicklung des menschlichen Geistes verglichen, war die Alchemie in Beziehung auf Naturerkenntnis anderen Naturwissenschaften voraus; die Chemie stand damals und bis zum 15. Jahrhundert auf derselben Stufe, sie war in ihrer Ausbildung nicht weiter zurück als die Astronomie.
Die Idee des Steines der Weisen, als eines Mittels zur Verwandlung der unedlen Metalle in Gold, wurde vorzüglich durch die Araber von Ägypten aus verbreitet. Durch die Eroberung von Ägypten gelangten die Araber in den Besitz von naturwissenschaftlichen Kenntnissen, ursprünglich vielleicht der Erwerb einer eifersüchtigen Priesterkaste, welche als Mysterien in den Tempeln gelehrt, nur den Eingeweihten zugänglich waren. Schon Herodot und Plato hatten in diesem Lande Unterricht und Belehrung gefunden. Neunhundert Jahre vor der Eroberung war bereits in der alexandrinischen Akademie ein Mittelpunkt wissenschaftlicher Tätigkeit gebildet, und noch zur Zeit der Verbrennung der...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Naturwissenschaften ► Chemie |
ISBN-10 | 3-7460-3369-1 / 3746033691 |
ISBN-13 | 978-3-7460-3369-3 / 9783746033693 |
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