Prinzipienkonflikte in der Schweizer Raumplanung -  Linus Wild

Prinzipienkonflikte in der Schweizer Raumplanung (eBook)

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
72 Seiten
vdf Hochschulverlag AG
978-3-7281-4015-9 (ISBN)
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'Die Interessenabwägung ist die wohl zentralste Methode der Raumplanung. In seiner wissenschaftlichen Arbeit erweitert Linus Wild die Interessenabwägung um die Dimensionen der Ethik, der hierarchisierbaren Prinzipien sowie der Konfliktarten und ermöglicht eine bereichernde Sichtweise auf die Raumplanung. Diese anspruchsvolle Betrachtung wird laufend mit konkreten Beispielen erläutert. Im Praxisteil wird die Theorie anhand von zwei Fallbeispielen diskutiert. Dabei geht es um Ersatzbauten für Personalhäuser aus den 1940er-Jahren in einer mittelgrossen Schweizer Stadt und um einen gross dimensionierten Hotelneubau in einem Schweizer Bergdorf. 'Prinzipienkonflikte in der Schweizer Raumplanung' eröffnet eine übergeordnete Sichtweise auf die Interessenabwägung. Die Publikation ist auch ein Fingerzeig für die vermehrte Beachtung der ethischen Dimension in der Raumplanungsausbildung und im Raumplanungsalltag. Sie ist aber auch ein Plädoyer für differenziertere Regulierungen im nominalen und funktionalen Raumplanungsrecht.' Richard Atzmüller, Kantonsplaner Graubünden

Linus Wild hat Stadtplanung und Städtebau studiert und arbeitet beim Amt für Raumentwicklung des Kantons Graubünden. Berufsbegleitend absolvierte er zwischen 2016 und 2018 den Masterstudiengang Philosophie, Politik und Wirtschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Prinzipien

Wie ich voranstehend dargelegt habe, geben sowohl die Sitten als auch die Moral und die Ethik Handlungsanleitungen für das Zusammenleben von Menschen an die Hand, die auf Grundsätzen basieren. Möchte ein Kollektiv oder ein Individuum ein gutes Leben führen, müssen sie sich an diese Prinzipien halten. Im Umkehrschluss können sich einzelne Menschen oder ein Kollektiv auf diese Prinzipien berufen, sollte es zu einem Konflikt kommen. Prinzipien sind also normative Ansprüche, die sich aus den vorherrschenden Sitten und moralischen Vorstellungen ergeben.16 Zugleich spiegeln sie den Wertekanon einer Gesellschaft wider. Prinzipien, die eine Gesellschaft als besonders wertvoll erachtet, werden in die Verfassung oder in Gesetzen verankert. Wird ein Prinzip als weniger wertvoll wahrgenommen, wird es in der Regel nicht legiferiert. Wobei auch solche Prinzipien Eingang in das Recht finden, z.B. über die Rechtsprechung, welche sich unter anderem auch an den Sitten orientieren.17 Mit der unterschiedlichen Wertzuschreibung wird zugleich deutlich, dass Prinzipien unterschiedliche Geltungen haben. Basierend auf der Geltung kann eine Klassifizierung der Prinzipien vorgenommen werden. Zum einen unterscheiden sich Prinzipien darin, für wen sie gelten, also in ihrer Reichweite. Zum anderen kann man sie danach ordnen, woher sich ihre Geltung ableitet, sprich anhand ihrer Herkunft.

2.1 Reichweite der Prinzipien

Bei der Reichweite variiert die Grösse der von dem jeweiligen Prinzip betroffenen Gruppe von Menschen. Nach Vossenkuhl lassen sich drei Gruppen bilden: standesethische, allgemeinethische und doppeldeutige, die sowohl standes- als auch allgemeinethischer Natur sind.18

2.1.1 Standesethische Prinzipien

Die Reichweite standesethischer Prinzipien ist begrenzt auf eine Berufsgruppe (beispielsweise Ärzte) oder Berufsgruppen, die im gleichen Feld arbeiten (zum Beispiel das gesamte medizinische Personal vom Ergotherapeuten über die Pflegeberufe bis hin zur Ärzteschaft). Wer in einem solchen Berufsfeld tätig ist, muss sich an das Prinzip der Schadensvermeidung halten und alles für das Heil des Kranken (Fürsorgeprinzip) machen.

2.1.2 Allgemeinethische Prinzipien

Allgemeinethische Prinzipien sind grundlegender als standesethische, wie z.B. das Recht auf Leben, die Menschenwürde oder das Verbot der Folter.19 Diese Grundsätze gelten unabhängig vom Beruf oder von einer Gesellschaftsschicht. Jedoch gelten auch sie nicht global, sondern nur innerhalb einer Gesellschaft oder vielleicht noch in einem Kulturkreis. Dies möchte ich an folgendem Beispiel illustrieren:

Eine theoretisch globale Reichweite hat das ius cogens, das zwingende Völkerrecht. Allerdings ist dabei unklar, was genau darunter fällt. Unter anderem werden das Recht auf Leben, der Schutz vor Folter und das Sklavereiverbot dazu gezählt.20 Die Lebenswirklichkeit zeigt aber, dass sich keines dieser Prinzipien vollständig durchgesetzt hat. Obwohl Sklaverei auf dem Papier in nahezu allen Staaten verboten ist, wird diese in Drittweltländern vielfach toleriert.21 Doch auch innerhalb einer Wertegemeinschaft wie der Europäischen Union (EU) gibt es bei gewissen Prinzipien Dissens. Zwar wird in der EU das Recht auf Asyl garantiert.22 Bei der Auslegung dieses Prinzips zeigen sich seit der sogenannten Flüchtlingskrise im Jahr 2015 aber grosse Unterschiede zwischen den (und mitunter auch innerhalb der) Mitgliedsstaaten. So ist die ungarische Regierung in der Auslegung des Asylrechts sehr restriktiv – zuweilen scheint sie dabei gar die Unantastbarkeit der Menschenwürde23 sowie das Prinzip der körperlichen Unversehrtheit24 zu vergessen.25 Die Reichweite eines Prinzips ist folglich immer begrenzt; allgemeinethische Prinzipien beschränken sich im Unterschied zu standesethischen nicht auf eine Gruppe innerhalb einer Gesellschaft, sondern gelten für die gesamte Gesellschaft.

2.1.3 Doppeldeutige Prinzipien

Die dritte Gruppe umfasst Prinzipien, die sowohl allgemein- als auch standesethischen Charakter haben. Die Zuordnung hängt im Einzelfall von deren Reichweite ab. Zur Veranschaulichung sei hier das Prinzip des Patientenwillens (voluntas aegroti) genannt, welches verlangt, dass eine ärztliche Behandlung nicht gegen den Willen des Patienten erfolgen darf. Dieses Prinzip ist vordergründig offensichtlich standesethischer Natur, schliesslich betrifft es lediglich das medizinische Personal. Darüber hinaus sind aber auch die Patienten davon betroffen, was die Reichweite auf einen Kreis von Menschen vergrössert, der Zugang zu medizinischer Hilfe hat und benötigt. Auch ist der Patientenwille aus dem Autonomieprinzip, also dem Prinzip der individuellen Freiheit, abgeleitet, welches den Menschen ein selbstbestimmtes Leben zubilligt. Dieses gilt zumindest in Gesellschaften mit freiheitlichen Grundordnungen allgemein. An dieser Stelle kommt eine weitere Art der Gruppierung von Prinzipien ins Spiel, die im Nachstehenden dargelegt wird.

2.2 Herkunft der Prinzipien

Bei der Betrachtung der Reichweite tritt eine weitere, sogar grundlegendere Frage zutage: Warum erlangen Prinzipien überhaupt Geltung? Zwar lässt sich die Frage bei legiferierten Prinzipien vermeintlich einfach beantworten. Hat ein Staat ein Prinzip in einem Gesetz verankert, ist dessen Geltung eine Frage des Rechts beziehungsweise ob der Staat willens und in der Lage ist, seine Gesetze durchzusetzen; die Legiferierung bildet aber erst den zweiten Schritt. Doch wie kommt es so weit, dass ein Prinzip von einer Gesellschaft als wertvoll anerkannt wird «vor und jenseits allen Gesetzesrechts»?26 Um diese Frage zu beantworten, ist eine weitere Unterscheidung in abgeleitete und unabgeleitete Prinzipien bedeutend.

Gewisse Prinzipien lassen sich mit anderen, quasi höherwertigen Prinzipien begründen; sie leiten sich aus ihnen ab. Zur Illustration möchte ich nochmals die Grundwerte der EU aufgreifen. Die Personenfreizügigkeit besagt, das jedem Bürger der EU freigestellt ist, wo er wohnen möchte. Als Kernbestandteil27 der EU ist sie nicht verhandelbar.28 Bei der Personenfreizügigkeit handelt sich um ein abgeleitetes Prinzip, welches sich auf das Prinzip der Freiheit zurückführen lässt. Letzteres lässt sich auf kein anderes Prinzip zurückführen und erlangt dadurch Geltung, dass es von den Mitgliedern der (westlichen) Gesellschaften anerkannt und angewandt wird. Wie auch das Tötungsverbot oder das Gebot der Menschenwürde gibt es keine Letztbegründung für unabgeleitete Prinzipien. Sie sind vielmehr Ausdruck der Sittlichkeits- und Moralvorstellungen einer Gesellschaft.

Das Beispiel der Personenfreizügigkeit legt zugleich dar, dass abgeleitete Prinzipien einen hierarchischen Unterschied zu unabgeleiteten Prinzipien aufweisen. In westlichen Gesellschaften wird stets darauf hingewiesen, dass die unabgeleiteten Prinzipien universelle Geltung haben (müssten). So werden bei jedem Staatsbesuch der deutschen Bundeskanzlerin in China die Menschenrechte thematisiert. Abgeleiteten Prinzipien hingegen wird keine universelle Geltung zugesprochen. Dies zeigt sich erneut am Beispiel der Personenfreizügigkeit: das Recht der freien Wohnsitzwahl wird nur einem bestimmten Personenkreis gewährt – nämlich Bürgern der EU-Mitgliedsstaaten und der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA).29

Die Vorstellung universell gültiger Menschenrechte hat sich in westlichen Kulturkreisen erst aufgrund der Erfahrungen aus den Schreckenszeiten während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgesetzt. Bis dato galten Menschenrechte nur für Bürger eines Staates; sie waren nach Arendt «Staatsbürgerrechte».30 Die Veränderung der Staatsbürgerrechte hin zu universellen Menschenrechten verdeutlicht erneut, dass sich die Geltung von Prinzipien ändern kann.

Diese Feststellung unterscheidet sich grundlegend von den Überzeugungen, wie sie bis zur Neuzeit vorherrschten. Beispielsweise unterschied Aristoteles bei den politischen Rechten zwischen natürlichen und gesetzlichen. Während die gesetzlichen Rechte auf den Sitten der Menschen beruhen, gelten die natürlichen Rechte bei Aristoteles unabhängig von der Meinung der Menschen.31 Unabgeleitete Prinzipien müssen aber ohne eine solche naturalistische Letztbegründung bestehen, ebenso überzeugen auch keine religiöse Letztbegründungen. Während religiöse Letztbegründungen auf Gott als höchste, nicht zu hinterfragende Instanz verweisen, basiert die naturalistische Letztbegründung auf der Annahme, dass gewisse Prinzipien von der Natur gegeben seien. Beides ist in meinen Augen falsch. Weder ein Gott noch die Natur sorgen für die Geltung der Prinzipien. Sie verlieren ihre Geltung, wenn sie von den Menschen und damit von der Gesellschaft nicht mehr als sinnvoll und richtig akzeptiert und angewandt werden. Dies kann dazu führen, dass vermeintlich unbestrittene Prinzipien wie die Menschenwürde auch wieder verschwinden können. Sie sind (in den Worten Vossenkuhls) «verletzlich».32

Diese Ausführungen verdeutlichen, dass ein hierarchisches Gefälle von unabgeleiteten zu abgeleiteten Prinzipien besteht. Dies ist insofern relevant, als dass Prinzipien in Konflikt zueinander treten können. Wie diese Konflikte aussehen können, erläutere ich im Weiteren.

2.3 Prinzipienkonflikte

Wie auch die Prinzipien selbst, lassen sich auch die Prinzipienkonflikte gruppieren. Gemäss Vossenkuhl33 lassen sich die folgenden vier Arten von Konflikten unterscheiden:

2.3.1 Eigentliche...

Erscheint lt. Verlag 18.12.2020
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Naturwissenschaften Geowissenschaften Geografie / Kartografie
Schlagworte Abwägungsprozess • Ethik • Interessensabwägung • Konfliktlösung • Konfliktmediation • Maximenmethode • Nutzungsplanung • Planungstheorie • Richtplanung
ISBN-10 3-7281-4015-5 / 3728140155
ISBN-13 978-3-7281-4015-9 / 9783728140159
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