Verwobenes Leben (eBook)

Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen
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2020 | 1. Auflage
448 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2426-5 (ISBN)

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Verwobenes Leben -  Merlin Sheldrake
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'Eines jener seltenen Bücher, die uns verzaubern und den Blick auf unsere Welt verändern.' Helen MacDonald Sie sind in der Erde, in der Luft, in unserem Körper. Pilze sind überall, aber man übersieht sie leicht. Sie halten uns am Leben, bauen Schadstoffe in der Atmosphäre ab und verändern das Verhalten von Tieren. Sie beeinflussen, wie wir Menschen fühlen und denken und sind für alle Lebensformen unverzichtbar. Sie existieren an der Grenze zwischen Leben und Tod. Der größte bekannte Pilz umfasst etwa zehn Quadratkilometer, wiegt mehrere Hundert Tonnen und ist zwischen 2.000 und 8.000 Jahre alt. Pilze verfügen über eine eigene Intelligenz ohne zentrales Gehirn und können ihre Umwelt manipulieren. Merlin Sheldrake dringt ein in das verborgene Netzwerk der Pilze. »Ein spektakuläres und erhellendes Buch. Ständig musste ich innehalten, fasziniert von der Welt der Pilze und von Sheldrakes bahnbrechenden Erkenntnissen.« Robert Macfarlane »Ein abenteuerliches und wagemutiges Buch, das uns das geheime Leben der Pilze näherbringt.« J. H. Prynne

Merlin Sheldrake ist studierter Biologe, lehrte aber auch Geschichte und Wissenschaftsphilosophie in Cambridge. Er schrieb seine Dissertation über das Netzwerk der Pilze in Panama und präsentierte seine Ergebnisse u.a. in Cambridge, Marburg, der FU Berlin.

Merlin Sheldrake ist studierter Biologe, lehrte aber auch Geschichte und Wissenschaftsphilosophie in Cambridge. Er schrieb seine Dissertation über das Netzwerk der Pilze in Panama und präsentierte seine Ergebnisse u.a. in Cambridge, Marburg, der FU Berlin.

KAPITEL 1

EINE VERLOCKUNG

Who’s pimping who?

PRINCE1

AUF EINEM KARIERTEN TUCH auf der Waage lag ein Haufen Weißer Piemont-Trüffel (Tuber magnatum). Sie sahen aus wie kleine, schmuddelige Steine; unregelmäßig geformt wie Kartoffeln und mit Löchern wie Totenschädel. Zwei Kilo zu 12.000 Euro. Ihr süßlicher Geruch zog durch den Raum – das Aroma machte ihren Wert aus. Der durchdringende Duft ähnelte keinem anderen: eine Verlockung, so intensiv und verwirrend, dass man sich darin verlieren konnte.

Es war Anfang November, der Höhepunkt der Trüffelsaison. Ich war nach Italien gereist, um mich zwei Trüffelsuchern anzuschließen, die in den Hügeln rund um Bologna tätig waren. Und ich hatte Glück. Ein Freund eines Freundes kannte einen Mann, der mit Trüffeln handelte. Der Händler hatte sich einverstanden erklärt, mich mit zwei seiner besten Jäger bekannt zu machen, und die wiederum hatten zugestimmt, mich auf die Jagd mitzunehmen. Trüffelsucher sind berühmte Geheimnistuer. Diese Pilze wurden nie domestiziert, sondern sind nur in freier Wildbahn zu finden.

Trüffel sind die unterirdischen Fruchtkörper mehrerer Arten von Mykorrhiza-Pilzen. Während des größten Teils eines Jahres leben sie als Mycel-Geflecht, am Leben gehalten zum Teil durch die Nährstoffe, die sie aus dem Boden beziehen, zum Teil auch von Zuckermolekülen, die Pflanzenwurzeln ihnen liefern. Ihr unterirdischer Lebensraum stellt sie aber vor ein grundlegendes Problem. Trüffel sind Organe, die Sporen produzieren, und entsprechen damit den samenproduzierenden Früchten einer Pflanze. In der Evolution haben sie sich entwickelt, damit Pilze sich verbreiten können, aber unter der Erde werden die Sporen nicht von Luftströmungen weggetragen, und für die Augen von Tieren sind sie unsichtbar.2

Die Lösung liegt im Geruch. Aber sich im olfaktorischen Remmidemmi eines Waldes durchzusetzen, ist keine einfache Aufgabe. Wälder sind kreuz und quer von Gerüchen durchzogen, und jeder davon stellt für die Nase von Tieren potenziell eine Faszination oder Ablenkung dar. Trüffel müssen so stark stinken, dass ihr Geruch die Bodenschichten durchdringt und in die Luft gelangt; außerdem muss ihr Geruch so charakteristisch sein, dass ein Tier ihn inmitten der umgebenden Geruchslandschaft wahrnimmt, und er muss so köstlich sein, dass das Tier sich von ihm anziehen lässt, den Trüffel ausgräbt und ihn frisst. Trüffel machen all ihre visuellen Nachteile – sie sind im Boden versteckt, auch im ausgegrabenen Zustand unauffällig und äußerlich reizlos – mit dem Geruch wieder wett.

Wenn ein Trüffel gefressen wurde, hat er seine Aufgabe erfüllt: Ein Tier wurde angelockt, damit es den Boden durchstöbert und die Aufgabe übernimmt, die Pilzsporen an einen neuen Ort zu transportieren und dort mit seinen Exkrementen abzulegen. Die Verlockung des Trüffels ergibt sich also aus Hunderttausenden von Jahren der evolutionären Verflechtung mit dem Geschmackssinn von Tieren. Die natürliche Selektion begünstigt Trüffel, die den Vorlieben ihrer besten Sporenverteiler entsprechen. Trüffel mit einer besseren »Chemie« locken Tiere erfolgreicher an als solche, bei denen sie schlechter ist. Wie die Orchideen, die das Aussehen sexuell zugänglicher Bienenweibchen nachahmen, so bilden Trüffel den Geschmack von Tieren ab – ein evolutionäres Duftporträt, das Tiere fasziniert.

Ich war in Italien, weil ich mich von einem Pilz in seine chemische Lebensumwelt unter der Erde entführen lassen wollte. Wir sind schlecht dafür ausgestattet, am chemischen Leben der Pilze teilzunehmen, aber reife Trüffel sprechen eine so eindringliche, einfache Sprache, dass sogar wir sie verstehen. Damit schließen uns diese Pilze für einen Augenblick in ihre chemische Ökologie ein. Was sollen wir von den sintflutartigen Wechselwirkungen halten, die sich zwischen unterirdischen Lebewesen abspielen? Wie können wir diese Sphären der nicht für Menschen gemachten Kommunikation verstehen? Wenn ich hinter einem Hund herlief, der den Trüffeln auf der Spur war, oder mein Gesicht im Boden vergrub, war ich den chemischen Anziehungskräften und Versprechungen, mit denen Pilze so viele Aspekte ihres Lebens bewältigen, vielleicht so nahe, wie es überhaupt möglich ist.



Ein Weißer Piemont-Trüffel (Tuber magnatum)

Menschen haben einen außergewöhnlichen Geruchssinn. Unsere Augen können mehrere Millionen Farben unterscheiden, unsere Ohren unterscheiden zwischen einer halben Million Tönen, aber unsere Nase kann mehr als eine Billion verschiedene Gerüche auseinanderhalten. Menschen nehmen praktisch alle flüchtigen Substanzen wahr, mit denen man es jemals probiert hat. In der Wahrnehmung bestimmter Gerüche stellen wir Nagetiere und Hunde in den Schatten, und wir können Duftspuren folgen. Gerüche spielen für die Auswahl unserer Sexualpartner ebenso eine Rolle wie für unsere Fähigkeit, Angst oder die Aggression anderer wahrzunehmen. Außerdem ist der Geruch in das Gewebe unserer Erinnerungen eingeflochten; Menschen, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, erleben häufig olfaktorische Flashbacks.3

Die Nase ist ein fein abgestimmtes Instrument. Unser Geruchssinn kann komplizierte Mischungen in ihre chemischen Bestandteile zerlegen wie ein Prisma, das weißes Licht in seine Einzelfarben aufspaltet. Dazu muss es die genaue Anordnung der Atome in einem Molekül wahrnehmen. Dass Senf nach Senf riecht, liegt an den Bindungen zwischen Stickstoff, Kohlenstoff und Schwefel. Fisch riecht wegen der Bindungen zwischen Stickstoff und Wasserstoff nach Fisch. Bindungen zwischen Kohlenstoff und Stickstoff riechen metallisch und ölig.4

Die Fähigkeit, chemische Substanzen wahrzunehmen und auf sie zu reagieren, ist eine urtümliche Sinnesleistung. Die meisten Lebewesen nutzen ihre Sinne, um ihre Umgebung zu erkunden und zu begreifen. Pflanzen, Pilze und Tiere bedienen sich zum Nachweis chemischer Verbindungen ähnlicher Rezeptoren. Wenn Moleküle an solche Rezeptoren binden, lösen sie eine Signalkaskade aus: Ein Molekül sorgt für eine Veränderung in den Zellen, die ihrerseits eine größere Veränderung hervorruft, und so weiter. Auf diese Weise können schon kleine Ursachen großen Wirkungen entfalten: Manche Verbindungen nimmt die menschliche Nase in einer Konzentration von 34.000 Molekülen je Quadratzentimeter wahr – das entspricht einem einzigen Wassertropfen in 20.000 Schwimmbecken olympischen Ausmaßes.5

Damit ein Tier einen Geruch erleben kann, muss ein Molekül auf seinem Geruchsepithel landen. Beim Menschen liegt diese Schleimhaut im oberen und hinteren Bereich der Nasenhöhle. Das Molekül bindet an einen Rezeptor, und die Nerven geben Impulse ab. Das Gehirn kommt ins Spiel, wenn die Substanzen identifiziert werden oder Gedanken und emotionale Reaktionen auslösen. Pilze sind körperlich anders ausgestattet. Sie besitzen weder eine Nase noch ein Gehirn, aber ihre gesamte Oberfläche verhält sich wie ein Geruchsepithel. Ein Mycel-Netzwerk ist eine einzige chemisch empfindliche Membran: Ein Molekül kann irgendwo auf seiner Oberfläche an einen Rezeptor binden und damit eine Signalkaskade auslösen, die das Verhalten des Pilzes ändert.

Pilze baden während ihres gesamten Lebens in einem reichhaltigen Umfeld aus chemischen Informationen. Trüffel teilen Tieren mittels Chemikalien ihre Bereitschaft mit, sich fressen zu lassen; ebenso nutzen sie chemische Substanzen, um mit Pflanzen, Tieren und anderen Pilzen – aber auch mit sich selbst – zu kommunizieren. Man kann Pilze nicht verstehen, ohne diese sensorischen Welten zu erforschen, aber sie zu interpretieren ist für uns schwierig. Vielleicht spielt es aber auch keine Rolle. Wie die Pilze lassen auch wir uns während eines großen Teils unseres Lebens von den verschiedensten Dingen anlocken. Wir wissen, was reizvoll oder abstoßend ist. Mit dem Geruch können wir an den molekularen Unterhaltungen teilnehmen, mit denen Pilze einen großen Teil ihres Daseins organisieren.

IN DER MENSCHHEITSGESCHICHTE wurden Trüffel schon lange mit Sexualität in Verbindung gebracht. In vielen Sprachen ist das Wort für Trüffel gleichbedeutend mit »Hoden« – auf altkastilisch lautet es beispielsweise turmas de tierra oder »Hoden der Erde«. Weil ihr Leben davon abhängt, haben Trüffel sich in der Evolution so entwickelt, dass sie Tiere anregen. Einmal sprach ich mit Charles Lefevre, einem Trüffelforscher und -züchter in Oregon, über seine Arbeit mit dem Schwarzen Périgord-Trüffel; plötzlich platzte es aus ihm heraus: »Witzig – während ich hier darüber rede, ›bade‹ ich im virtuellen Aroma von Tuber melanosporum. Es ist, als würde eine Wolke des Geruchs mein Arbeitszimmer ausfüllen, obwohl hier derzeit überhaupt keine Trüffel sind. Solche Geruchs-Flashbacks erlebe ich mit Trüffeln häufig. Sie verbinden sich sogar mit visuellen und emotionalen Erinnerungen.«6



Der Schwarze Périgord-Trüffel Tuber melanosporum

In Frankreich gilt Antonius – der Heilige für verlorene Gegenstände – auch als Schutzheiliger der Trüffel, und zu seinen Ehren werden Trüffel-Gottesdienste gefeiert. Aber Gebete helfen nicht, Betrügereien zu...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2020
Übersetzer Sebastian Vogel
Zusatzinfo Mit liebevoll gestalteten Zeichnungen und Abbildungen des Autors
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Natur / Ökologie
Naturwissenschaften Biologie
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bäume • Bewusstseinserweiterung • Biologie • Buschfunkistan • faszinierendes Wissen • Geheimes Leben der Bäume • Keime • LSD • Natur • Naturwissenschaftliche Bücher • Netzwerk • Penicillin • Pilze • Pilze sammeln • pop science • spannende Sachbücher • Umweltgifte • Wald
ISBN-10 3-8437-2426-1 / 3843724261
ISBN-13 978-3-8437-2426-5 / 9783843724265
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