Fluch oder Segen? - Gentechnik für (absolute) Laien (eBook)
336 Seiten
Verlag DeBehr
978-3-95753-449-1 (ISBN)
2. Kapitel: Abteilungen der Zelle oder die Zellorganellen
2.1 Die Mauern der Fabrik oder die Membranen
Wenn es sich nicht gerade um einen Internet-Börsenneuling handelt, der als Pilz fast unkontrolliert aus dem vormals üppig gedüngten Boden der Start-up-Finanzierungen geschossen ist, so hat jedes vernünftig gewachsene Unternehmen doch mehrere Abteilungen, die die verschiedenen Aufgaben erledigen und zum Wohle des Ganzen mehr oder weniger gut koordiniert zusammenarbeiten: Die Produktionsabteilungen, das Rohstoff- und das Endwarenlager, die Personalabteilung, ein Büro für die Personalvertretung, den Fuhrpark, die Buchhaltung, natürlich eine Chefetage, das Marketing und den Verkauf und was der nützlichen und unnützen Tätigkeitsbereiche mehr sind. Keine der Abteilungen für sich macht die ganze Fabrik aus und jede für sich ist nötig, damit das Unternehmen seine Funktion, nämlich die Produktion von Waren oder Dienstleistungen wie Autos, Medikamente, Sauberkeit oder Informationen reibungslos erfüllen kann. So ähnlich geht es auch in einer Zellfabrik zu. Auch hier gibt es verschiedene Abteilungen, die für unterschiedliche Funktionen zur Versorgung der ganzen Zelle oder für ihre Produktionsleistung zuständig sind. „Zellorganellen“ haben die Wissenschaftler sie genannt in Anlehnung an die Organe eines Körpers. Nicht alle Zellen enthalten die gleichen Abteilungen. „Zellkerne“ und „Kraftwerke“, „Produktionsanlagen“ und „Paketservice“ sind weit verbreitet, aber es gibt fast immer ein paar Ausnahmen, also Zellen irgendeines exotischen, meist mikroskopisch kleinen Lebewesens, das ohne die entsprechende Abteilung oder mit einer ganz speziellen auskommt. Das soll uns hier aber gar nicht interessieren, wir werden die wichtigsten kennenlernen und die ausgefallenen Spezialbüros den Spezialisten überlassen.
Alle die in diesem Kapitel genannten Abteilungen sind durch mindestens eine Mauer von ihrer Umgebung getrennt – es können aber auch mehrere sein. Eine Mauer gewährleistet, dass der Zu- und Austritt durch entsprechende Pförtner (Eiweiße) genauestens geregelt werden kann. Das ist in fast allen Fällen auch nötig, da es sonst zu einer heillosen Konfusion kommen würde.
Nicht jeder mag Plundergebäck oder Blätterteigbrötchen. Oder vielleicht doch so ein Würstchen oder gar Lachs im Blätterteigmantel? Der erste Biss fördert eine Menge Krümel und im Innern des Plunders zahllose dünne Teigschichten zutage, die mit mehr oder weniger Zwischenraum aufeinanderliegen. Das Ganze in flüssig offenbart sich beim Schnitt durch eine üppige Lasagne. So ähnlich sieht es in unserer Zellfabrik aus. Großzügige Räume, repräsentative Büros (Es gibt kein eitles mittleres Management!) und nach den neuesten Sicherheitsabstandsvorschriften gebaute Großproduktionsanlagen sucht man vergeblich. Eher gleicht das Innere unserer Zelle einer mittelalterlichen Stadt. Dicht bei dicht stehen da die Häuschen, jedes Winkelchen wird noch für irgendetwas genutzt und eng lehnt sich Mauer an Mäuerchen. Wer schon mal in den Altstädten von Rothenburg ob der Tauber, Quedlinburg, Tübingen, Bernkastel oder Hattingen unterwegs war, weiß, wie eng die Gässchen sind und wie leicht man sich darin verlaufen kann. Aber man kann dieses Gewirr von Bauten und Wegen auch in zehn Minuten durchqueren. So etwa wie in Tübingen zwischen Holzmarkt und Ammergasse sieht es auch in unsere Zellfabrik aus, und da in den Zellfabriken nur „Fußgänger“ unterwegs sind, reicht der Platz. Die Mauern unterteilen das Innere der Zelle in eine Vielzahl von Räumen. Der Wissenschaftler nennt sie „Kompartimente“. Diese vielen verschiedenen Räume sind die Voraussetzung dafür, dass die Zelle sehr viele verschiedene biochemische Verfahren gleichzeitig durchführen kann und auch Produkte in Lagerräumen in großer Menge speichern kann, bis sie gebraucht werden. In den Mauern gibt es sehr viele verschiedene Portale, Türen und Türchen, durch die Fußgänger oder auch Werkzeuge, Bauteile und Zwischenprodukte der Produktion von einem Raum in den anderen gelangen können. Dabei hat fast jeder Fußgänger, jedes Zwischenprodukt sein eigenes Türchen. Wichtig ist noch, ob solch ein Durchtritt eines Teilchens durch eine Membranmauer mit oder gegen (sprich: unter Energieaufwand) den Konzentrationsgradienten durchgeführt wird. Zu Deutsch: Geht das Teilchen von einer Seite der Mauer, wo sowieso schon viele gleiche Teilchen sind, auf die andere Seite, wo wenige gleiche Teilchen sind („mit“), oder umgekehrt (von „wenig“ nach „viel“; [„gegen“])? Andere Pförtner (Eiweiße) arbeiten eher wie „Drehtüren“: eine Sorte Teilchen rein, wenn gleichzeitig eine andere Sorte Teilchen raus. Im Nervensystem spielen diese „Antiporter“ eine wichtige Rolle. Wenn also nicht die passende Pforte („Transporter“, „Symport“ usw., Eiweiße!) in der Nähe ist, gilt das Gleiche wie für Insassen anderer behördlich sanktionierter Zellen: Wenn man erst einmal drin ist, kommt man schwer wieder heraus.
Tun Sie mir einen Gefallen und vergessen Sie alles das wieder und möglichst schnell, was im letzten Absatz zwischen „…“ steht. Sie brauchen sich nur zu merken, dass man (= wässrig) durch die Membranmauern fast nur mithilfe von Eiweißen durchkommt. Bei fettlöslichen Stoffen (z. B. Schnaps und Drogen) sieht das schon anders aus. Bitte lassen Sie sich auch von Ausdrücken wie „rafting“ nicht aus Ihrer sparwissenden Ruhe bringen – das mit dem Vergessen gilt auch für diese „…“.
Besondere Merkmale der Mauern sind – neben ihrer Wasserundurchlässigkeit – ihre geringe Dicke (je nach Aufgabe und Lokalisation in der Zellfabrik so um 10 bis 12 Nanometer [= milliardstel Meter]) und ihre Formbarkeit. Insofern gleichen sie eher aufgespannten Planen als festen Wänden, in die man einen Nagel schlagen kann. Gehalten werden die Planen durch ein Gerüst aus Eiweißen, an dem die Planen durch spezielle Dübel (andere Eiweiße) verankert sind. Werden nun die Gerüst-Eiweiße in der Zelle verschoben, so gilt das natürlich auch für die daran befestigten Planen, unsere Mauern. So kann die Zelle bei Bedarf Räume vergrößern oder verkleinern, ohne Abbruchunternehmen einschalten zu müssen: Die Wände werden einfach verschoben wie die Kulissen im Theater. Das gilt natürlich auch für die Außenmauern der Zelle, die genauso aufgebaut sind. Werden sie in gleicher Weise bewegt, so beginnt die ganze Zelle zu wandern.
Zusammenfassend gesagt: Die Zelle ist von einer Mauer umgeben und von inneren Mauern in Räume unterteilt. Diese Mauern gleichen aufgespannten Planen, sie sind auch so dünn und beweglich, trotzdem aber für unbefugte Passagen, vor allen Dingen wässriger Natur, undurchlässig. Viele Pforten und Türen (Eiweiße) vermitteln den Kontakt der Räume untereinander und die selektive Passage der verschiedenen Stoffe, Arbeiter, Werkzeuge, Produkte etc. durch die Mauern.
Eine sehr wichtige Ausnahme gibt es: Alle Bakterien haben keine inneren Membranen, keine Mauern, also auch keine Kompartimente. Zwar gibt es immer eine Außenmembran, Zell- oder Elementarmembran genannt, die „in der Bakterienzelle“ von „außerhalb der Bakterienzelle“ trennt. Aber alles, was in den nachfolgenden Kapiteln irgendwie funktionell mit „Membranen“ verbunden ist, gibt es nur bei „Eukaryonten“, also allen Viechern, Pflanzen, Pilzen, die keine Bakterien sind. Die Bakterien revanchieren sich für ihre „einfachere“ biologische Konstruktion durch sehr widerstandsfähige Dauerformen, die Weltraumbedingungen, Millionen Jahre währende Einlagerung im Salz, radioaktive Strahlung und Krankenhaus-Desinfektionsattacken überdauern können, und durch eine exorbitant rasche Vermehrung (Escherichia coli, unser liebstes Darmbakterium, teilt sich bei optimalen Wachstumsbedingungen – also 37° C, genügend Futter, keine Antibiotika – alle 20 Minuten! Ausnahmen bestätigen die Regel!).
2.2 Die Zentrale oder der Zellkern (das „Archiv“)
Abgeschirmt hinter einer doppelten Mauer (Fette), an deren zahlreichen Toren (Eiweiße) strenge Pförtner (Eiweiße) sitzen, die Ein- und Auslass unbestechlich kontrollieren, verbirgt sich das Allerheiligste der Zelle, die Zentrale oder der Zellkern. Kernstück der Zentrale ist ein riesiges Archiv, riesig für molekulare Verhältnisse. Und mit diesem Archiv und seinem Aufbau und seiner Betriebsorganisation müssen wir uns ein wenig beschäftigen. Ein Verständnis des Betriebs im Archiv hilft sehr für das Verständnis dessen, was wir als „Gentechnik“ bezeichnen.
Das Archiv enthält die Erbinformation, die Gene. Was das genau ist, „det kriechen ma späta!“ Auf einer überschaubaren Anzahl (je nach Tier- oder Pflanzen- oder Pilzart) endlos langer Regale („Chromosomen“) liegt jeweils ein jeweils einziges, fast endloses Band (DNA), zusammengerollt und gepackt wie Filmrollen mithilfe bestimmter Eiweiße („Histone“ für die Biologie-Studierten, also vergessen Sie’s gleich wieder!), damit das DNA-Band mit seiner Länge überhaupt auf das Regal passt. Zur Erläuterung: Das Band im Archiv einer menschlichen Zelle von einem hundertstel Millimeter Durchmesser ist, auseinandergezogen, einen ganzen Meter lang, hunderttausend Mal länger als die ganze Zelle groß ist! Aufgebaut ist das Band wie ein Reißverschluss (kein Klettverschluss!), so wie man ihn in jedem Textilgeschäft kaufen kann: In der Mitte die ineinandergreifenden Zähne und auf jeder Seite ein molekularer Streifen, der die Zähne einer Seite zusammenhält. Drei Dinge unterscheiden diesen Reißverschluss von dem,...
Erscheint lt. Verlag | 28.9.2017 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Naturwissenschaften ► Biologie |
ISBN-10 | 3-95753-449-6 / 3957534496 |
ISBN-13 | 978-3-95753-449-1 / 9783957534491 |
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