Jenseits der Erscheinungen (eBook)
132 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7412-4410-0 (ISBN)
Der Physiker Moritz Schlick (1882 - 1936) studierte Naturwissenschaften und Mathematik an den Universitäten Heidelberg, Lausanne und Berlin. 1904 wurde er bei Max Planck mit einer physikalischen Arbeit "Über die Reflexion des Lichts in einer inhomogenen Schicht" promoviert. 1911 habilitierte er sich mit der Schrift "Das Wesen der Wahrheit nach der modernen Logik". Aufgrund seiner freundschaftlichen Beziehung zu Albert Einstein setzte er sich als einer der Ersten mit der Relativitätstheorie auseinander und untersuchte diese auf ihre philosophischen Konsequenzen. In seinem Hauptwerk über die "Allgemeine Erkenntnislehre" verteidigt er einen erkenntnistheoretischen Realismus gegen positivistische und neukantische Positionen. 1922 übernahm er als Nachfolger Ernst Machs den Lehrstuhl für Naturphilosophie an der Universität Wien. Der dort 1924 von ihm gegründete interdisziplinäre Diskussionszirkel ist als der Wiener Kreis in die Philosophiegeschichte eingegangen.
Die Kausalität in der Physik
(Zuerst erschienen in „Die Naturwissenschaften“, 19. Jahrgang, Berlin, 1931.)
1. Vorbemerkungen
Unendlich ist die Zahl der denkbaren, logisch möglichen physikalischen Welten; aber die menschliche Fantasie erweist sich als erstaunlich arm, wenn sie neue Möglichkeiten darin auszudenken und durchzudenken versucht. Ihr Vorstellungsvermögen ist so fest an die anschaulichen Verhältnisse der gröberen Erfahrung gebunden, dass es sich auf eigene Faust kaum einen Schritt von dieser entfernen kann; erst der strenge Zwang der feineren wissenschaftlichen Erfahrung vermag das Denken von seinen gewohnten Standpunkten weiter fortzuziehen. Das bunteste Märchenreich der 1001 Nächte ist nur aus den Bausteinen der Welt des täglichen Lebens durch im Grunde ganz geringfügige Umgruppierungen des vertrauten Materials gebildet. Und wenn man die kühnsten und tiefsten philosophischen Systeme genauer betrachtet, so sieht man, dass von ihnen schließlich dasselbe gilt: War es beim Dichter ein Bauen mit anschaulichen Bildern, so ist es beim Philosophen ein Konstruieren mit abstrakteren, aber doch gewohnten Begriffen, aus denen mithilfe ziemlich durchsichtiger Kombinationsprinzipien neue Gebilde geformt werden.
Auch der Physiker verfährt bei seinen Hypothesenbildungen zunächst nicht anders. Das zeigt besonders die Zähigkeit, mit der er jahrhundertelang an dem Glauben festhielt, dass zur Naturerklärung eine Nachbildung der Prozesse durch sinnlich-anschaulich vorstellbare Modelle nötig sei, sodass er z.B. den Lichtäther immer wieder mit den Eigenschaften sichtbarer und greifbarer Substanzen ausstatten wollte, obgleich nicht der geringste Grund dazu vorlag. Erst wenn die beobachteten Tatsachen ihm die Verwendung neuer Begriffssysteme nahelegen oder aufdrängen, sieht er die neuen Wege und reißt sich von seinen bisherigen Denkgewohnheiten los — dann aber auch bereitwillig, und leicht macht er den Sprung etwa zum riemannschen Raum oder zur einsteinschen Zeit, zu Konzeptionen so kühn und tief, wie sie weder die Fantasie eines Dichters noch der Intellekt irgendeines Philosophen zu antizipieren vermocht hätte.
Die Wendung, zu der die Physik der letzten Jahre bzw. Jahrzehnte in der Frage der Kausalität gelangt ist, konnte ebenfalls nicht vorausgesehen werden. Soviel auch über Determinismus und Indeterminismus, über Inhalt, Geltung und Prüfung des Kausalprinzips philosophiert wurde — niemand ist gerade auf diejenige Möglichkeit verfallen, welche uns die Quantenphysik als den Schlüssel anbietet, der die Einsicht in die Art der kausalen Ordnung öffnen soll, die in der Wirklichkeit tatsächlich besteht. Erst nachträglich erkennen wir, wo die neuen Ideen von den alten abzweigen, und wundern uns vielleicht ein wenig, früher an der Kreuzungsstelle immer achtlos vorbeigegangen zu sein. Jetzt aber, nachdem die Fruchtbarkeit der quantentheoretischen Begriffe durch die außerordentlichen Erfolge ihrer Anwendung dargetan ist und wir schon Jahre Gelegenheit zur Gewöhnung an die neuen Ideen gehabt haben, jetzt dürfte der Versuch nicht mehr verfrüht sein, zur philosophischen Klarheit über den Sinn und die Tragweite der Gedanken zu kommen, welche die gegenwärtige Physik zum Kausalproblem beiträgt.
2. Kausalität und Kausalprinzip
Die Bemerkung, dass philosophische Betrachtungen infolge ihrer engen Bindung an das vorhandene Gedankenmaterial die später gefundenen Möglichkeiten nicht voraussahen, gilt auch von den Erwägungen, die ich um 1920 vorgetragen habe (Naturwiss. 1920, 461 ff.). Dennoch ist es vielleicht nicht unzweckmäßig, an einigen Punkten an die älteren Überlegungen anzuknüpfen; der inzwischen erzielte Fortschritt kann dadurch nur um so deutlicher werden.
Es gilt zunächst festzustellen, was der Naturforscher eigentlich meint, wenn er von „Kausalität“ spricht. Wo gebraucht er dieses Wort? Offenbar überall da, wo er eine „Abhängigkeit“ zwischen irgendwelchen Ereignissen annimmt. (dass nur Ereignisse, nicht etwa „Dinge“, als Glieder eines Kausalverhältnisses infrage kommen, versteht sich heute von selbst, denn die Physik baut die vierdimensionale Wirklichkeit aus Ereignissen auf und betrachtet „Dinge“, etwa dreidimensionale Körper, als bloße Abstraktionen.) Was bedeutet aber „Abhängigkeit"? Sie wird in der Wissenschaft jedenfalls immer durch ein Gesetz ausgedrückt; Kausalität ist demnach nur ein anderes Wort für das Bestehen eines Gesetzes. Den Inhalt des Kausalprinzips bildet nun offenbar die Behauptung, dass alles in der Welt gesetzmäßig geschieht; es ist ein und dasselbe, ob wir die Geltung des Kausalprinzips behaupten oder das Bestehen des Determinismus. Um den Kausalsatz oder die deterministische These formulieren zu können, müssen wir zuerst definiert haben, was unter einem Naturgesetz oder unter der „Abhängigkeit“ der Naturvorgänge voneinander zu verstehen ist. Denn erst wenn wir dies wissen, können wir den Sinn des Determinismus verstehen, welcher besagt, dass jedes Ereignis Glied einer Kausalbeziehung sei, dass jeder Vorgang zur Gänze von anderen Vorgängen abhängig sei. (Ob nicht der Versuch, eine Aussage über „alle“ Naturvorgänge zu machen, zu logischen Schwierigkeiten führen könnte, soll dabei unerörtert bleiben.)
Wir unterscheiden also jedenfalls die Frage nach der Bedeutung des Wortes „Kausalität“ oder „Naturgesetz“ von der Frage nach der Geltung des Kausalprinzips oder Kausalsatzes und beschäftigen uns zunächst allein mit der ersten Frage.
Die Unterscheidung, die wir damit machen, fällt sachlich mit derjenigen zusammen, die H. Reichenbach in seiner Arbeit „Die Kausalstruktur der Welt“ (Sitzungsber. bayer. Akad. Wiss., Math. physik. Kl. 1925, 133) an den Anfang seiner Untersuchung stellt. Er spricht dort von dem Unterschied zweier „Formen der Kausalhypothese“. Die erste nennt er die „Implikationsform“. Sie liegt vor, „wenn die Physik Gesetze aufstellt, d. h. Aussagen macht von der Form: ,wenn A ist, dann ist B '“. Die zweite ist die „Determinationsform der Kausalhypothese"; sie ist identisch mit dem Determinismus, welcher besagt, dass der Ablauf der Welt als Ganzes „unveränderlich feststehe, dass mit einem einzigen Querschnitt der vierdimensionalen Welt Vergangenheit und Zukunft völlig bestimmt seien“. Mir scheint es einfacher und treffender, den gedachten Unterschied als den Unterschied zwischen Kausalbegriff und Kausalprinzip zu charakterisieren.
Es handelt sich jetzt also um den Inhalt des Kausalbegriffs. Wann sagen wir, dass ein Vorgang A einen anderen B „bestimme“, dass B von A „abhänge“, dass B mit A durch ein Gesetz verknüpft sei? Was bedeuten in dem Satz, wenn A, so B' die das Kausalverhältnis anzeigenden Worte , wenn — so'?
3. Gesetz und Ordnung
In der Sprache der Physik wird ein Naturvorgang dargestellt als ein Verlauf von Werten bestimmter physikalischer Größen. Wir merken schon hier an, dass natürlich in dem Verlauf immer nur eine endliche Zahl von Werten gemessen werden kann, dass also die Erfahrung immer nur eine diskrete Mannigfaltigkeit von Beobachtungszahlen liefert, und ferner, dass jeder Wert als mit einer bestimmten Ungenauigkeit behaftet angesehen wird.
Es sei uns nun eine Menge solcher Beobachtungszahlen gegeben, und wir fragen ganz allgemein: Wie muss diese Menge beschaffen sein, damit wir sagen, es sei durch sie ein gesetzmäßiger Verlauf dargestellt, es bestehe eine kausale Beziehung zwischen den beobachteten Größen? Wir dürfen dabei voraussetzen, dass die Daten bereits eine natürliche Ordnung besitzen, nämlich die räumlich-zeitliche, d. h., jeder Größenwert bezieht sich auf eine bestimmte Stelle des Raumes und der Zeit. Es ist zwar richtig, dass wir erst mithilfe kausaler Betrachtungen dazu gelangen, den Ereignissen ihre definitive Stelle in der physikalischen Raum-Zeit anzuweisen, indem wir von der phänomenalen Raum-Zeit, welche die natürliche Ordnung unserer Erlebnisse darstellt, zur physikalischen Welt übergehen; aber diese Komplikation kann außer Betracht bleiben für unsere Überlegungen, die sich ganz auf den Bereich des physikalischen Kosmos beschränken. Als fundamentalste Voraussetzung liegt ferner eine Annahme zugrunde, auf die ich nur im Vorübergehen hinweise, da sie in einer früheren Arbeit bereits besprochen wurde (1. c, S. 463): Es ist die Voraussetzung, dass in der Natur irgendwelche „Gleichheiten“ auftreten in dem Sinne, dass verschiedene Weltbezirke überhaupt miteinander vergleichbar sind, sodass wir z. B. sagen können: „Dieselbe“ Größe, die an diesem Ort den Wert f1 hat, hat an jenem Ort den Wert f2. Die Vergleichbarkeit ist also eine der Vorbedingungen der Messbarkeit. Es ist nicht leicht, den eigentlichen Sinn dieser Voraussetzung anzugeben, wir dürfen aber hier darüber hinweggehen, da diese letzte Analyse für unser Problem gleichfalls irrelevant ist.
Nach diesen Bemerkungen reduziert sich unsere Frage nach dem Inhalt des Kausalbegriffes...
Erscheint lt. Verlag | 30.6.2016 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Naturwissenschaften ► Physik / Astronomie | |
ISBN-10 | 3-7412-4410-4 / 3741244104 |
ISBN-13 | 978-3-7412-4410-0 / 9783741244100 |
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