Invading Bodies

Medizin und Immigration in den USA 1880-1920

(Autor)

Buch | Softcover
397 Seiten
2009
Campus (Verlag)
978-3-593-38887-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Invading Bodies - Barbara Lüthi
45,00 inkl. MwSt
Die bakteriologische Revolution in der Medizin führte um 1900 zur Medikalisierung der Grenzkontrollen an den Immigrationsstationen der USA. Die "Invading Bodies" - die "eindringenden Körper" - wurden klassifiziert und bewertet. Diese Kontrollen, so Barbara Lüthis Ergebnis, waren keine reinen Abwehrmaßnahmen, sondern dienten auch der Auswahl eugenisch wünschenswerter und "produktiver" Körper.

Barbara Lüthi, Dr. phil., ist Assistentin am Historischen Seminar der Universität Basel.

Inhalt

Einleitung
Die Medikalisierung von Immigrationsprozessen
Migration
Grenzen
Körper
Krankheiten
Reinheit
Vorschau


I The invading body

1 "Invading Bodies" und die Nation: Immigration in Populärzeitschriften

2 Immigration, Krankheit und Körper im populären Wissen
2.1 Immigration und Katastrophe
2.2 Rassismus und Eugenik
2.3 Blut und Bastardisierung
2.4 Stadt und Degeneration


II The screened body

1 Normalisierung und Regulation von Individuen und Bevölkerung

2 Das öffentliche Gesundheitswesen in den USA
2.1 Der USPHS als Beschützer der Nation
2.2 Die Sicht des USPHS auf Immigration und Gesundheitswesen
2.3 "Heroes and mighty men of peace": Das Selbstverständnis des USPHS
2.4 "Washing up the Orient": Immigration und Imperialismus
2.5 "[W]aiting in ambush for victims": Bakteriologie versus Miasma

3 "Ahead lay America and new horizons": Migration in die USA

4 Politik, Wissenschaft, Verwaltung: Medizinische Untersuchungen auf Ellis Island
4.1 Der beobachtende Körper: Die medical officers
4.2 Der beobachtete Körper: Die Immigranten und Immigrantinnen
4.3 Die Klassifikation von bedrohlichen Körpern
4.4 Normalisierung im Landesinnern: medizinische Untersuchungen an Fabrikarbeitern
4.5 Raum und Kontrolle auf Ellis Island

5 Fazit


III The Jewish body

1 Spuren jüdischer Differenz

2 Jüdische Migration in die und Antisemitismus in den USA
2.1 Die Migration osteuropäischer Juden
2.2 Das "jüdische Problem" in Europa und den USA

3 Der kranke Jude
3.1 Die Pathologisierung der Juden
3.2 Geistes- und Nervenkrankheiten bei Juden
3.3 Die Ostjuden

4 Schädelvermessungen und die Frage der Rassenreinheit bei den Juden
4.1 Die Frage der reinen Rasse und ihre Implikationen
4.2 Körper- und Schädelvermessungen in den USA
4.3 Der angelsächsische Schädel

5 "Hebrew: Race or Religion?": Eine politische Debatte

6 Aneignung des Rassenbegriffs seitens jüdischer Denker


IV The pathological body

1 Das Board of Special Inquiry, die Befragungen und die behördliche Akten

2 Die poor physique: "The greatest danger to the future American stock"
2.1 Poor physique und die Konstruktion einer Bedrohung
2.2 Die behördliche Debatte um die poor physique (1905-1907)
2.3 Ellis Island, 1907: Die medizinische Konferenz
2.4 Die Beurteilung der poor physique auf Ellis Island
2.5 Interventionen jüdischer Organisationen und Akteure
2.6 "There should be but one standard of physique for the immigrant": Der standardisierte Körper

3 Das Trachom: Die abstoßende Sichtbarkeit einer gefährlichen Unsichtbarkeit
3.1 Trachom und Immigration
3.2 Genealogien
3.3 Ätiologie und Krankheitsverlauf
3.4 Die Krankheitsabwehr an den Grenzen
3.5 Die gesellschaftliche Bedeutung der Krankheit
3.6 Schwierigkeiten der Diagnose und Therapie
3.7 Die Untersuchungen der Augen durch den USPHS
3.8 Intervention und Widerstand

4 Fazit

Epilog
Reinheit und Nation
Körper und Krankheiten
Grenzen und Migration

Quellen und Literatur
Abkürzungen
Dank

Einleitung Die Medikalisierung von Immigrationsprozessen Im Jahre 1912 erreicht die 21-jährige jüdische Russin Chane Wernik auf dem Passagierschiff Zeeland aus Antwerpen die Immigrationsstation Ellis Island vor New York. Alle Immigrantinnen und Immigranten werden dort - vor den üblichen Pass- und Papierkontrollen - dem klinischen Blick der Ärzte auf der Suche nach möglichen Krankheiten und körperlichen Defekten unterzogen. Medizinisch auffällige Personen müssen sich anschließend einer weiteren Untersuchung unterziehen. Aufgrund der ersten provisorischen Untersuchung lautet das medizinische Gutachten im Fall Chane Wernik: "This is to certify that the above described person has this day been examined and is found to be afflicted with abdominal tumor with signs of pregnancy of about the 4th month, which affects ability to earn a living." Der hier verwendete Begriff ("Abdominal tumor with signs of pregnancy") ist eine feststehende zeitgenössische medizinische Definition für eine Schwangerschaft. Damit fällt sie in der Krankheitsklassifikation der für die medizinischen Untersuchungen zuständigen Behörde des United States Public Health Service (USPHS) unter die Class C, die "defekte oder kranke Zustände" beinhaltet. Unterschieden werden diese von den abstossenden und gefährlichen Krankheiten (Class A) und von den körperlichen Krankheiten und Defekten, die körperlich die Fähigkeit zum Selbstunterhalt einer Person beeinträchtigen können (Class B). Das Board of Special Inquiry (BSI) - ein Gremium, bestehend aus drei Beamten des Immigration Service (IS) und einem Übersetzer, das erstinstanzlich über die Zulassung oder Zurückweisung der Immigranten und Immigrantinnen bestimmt - entscheidet einstimmig, Chane Wernik auszuweisen: Es erachtet ihre finanziellen Mittel als unzureichend; ihr physischer Defekt sei von schwerwiegender Natur und hinderlich für das Aufkommen des eigenen Lebensunterhaltes. Zur Person von Chane Wernik ergeben sich bei der weiteren Befragung vor dem BSI weitere Informationen: Sie sei in Brisk, Russland, geboren worden, sei alleine gereist und alleinstehend, könne nicht lesen und schreiben. Die Überfahrt sei von ihrer Schwester und deren Mann in Newark, New Jersey, bezahlt worden, zu denen sie auch gehen wolle. Wernik sei früher Damenschneiderin ("dressmaker") und nie zuvor in den USA gewesen. Sie besitze 25 Dollar und ihre Eltern seien gestorben. Die Befragung ihrer Person und ihrer Verwandten aus Newark - in einer gerichtsähnlichen Situation vor dem BSI - widersprechen gewissen Annahmen der Behörden: Auf die Frage, ob sie schwanger sei, antwortet die Immigrantin mit nein. Ebenso verneint sie, je mit einem Mann Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, und sie willigt ein, sich einer weiteren Schwangerschaftsuntersuchung zu unterziehen. Die Schwester und deren Mann werden zu ihrer materiellen Situation und ihrem Familienstand befragt. Zudem gibt die Schwester zu Protokoll, dass Chane Wernik zuvor als Hausangestellte gearbeitet habe. Der zuständige Commissioner of Immigration auf Ellis Island, William Williams, bekräftigt gegen die Einsprache der Immigrantin den Entscheid des BSI und ergänzt das Urteil mit der Aussage: "See medical certificate on which the Board, in my opinion, very properly excluded this woman. She is a very undesirable type of immigrant." Unklar sei auch, ob sie bezüglich ihres Zustandes die Wahrheit sage, und zudem mache sie - im Gespräch mithilfe eines Übersetzers - einen ungünstigen Eindruck auf ihn. Am 27. August bestätigt der Commissioner-General of Immigration in Washington D.C., Daniel J. Keefe, die Zurückweisung. Nach der Bestätigung dieses Entscheides durch die Immigrationsbehörden in Washington D.C. wird Chane Wernik - zehn Tage nach ihrer Ankunft auf Ellis Island - wieder aus den USA ausgewiesen. Dieser Vorfall an der US-amerikanischen Grenze zu Beginn des 20. Jahrhunderts mag als Einzelfall zunächst zufällig erscheinen, gibt jedoch Aufschluss über maßgebliche Veränderungen innerhalb der Migrationspolitik der Zeit. Er fällt in eine Phase entscheidender Umbrüche in den USA, die vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene einen tiefgreifenden Wandel erlebt. Die großen Veränderungen dieses langen Jahrhunderts betreffen zunächst einmal die Industrialisierung des Landes. Damit geht eine rapide Urbanisierung einher. In diesem Zusammenhang spielt auch die Einmischung der amerikanischen Regierung ins weltpolitische imperiale Geschehen eine wichtige Rolle. Die Dynamiken der Industrialisierung und die expansionistische Politik beschleunigen die Begegnungen von amerikanischen Bürgern und Bürgerinnen mit Menschen anderer Nationalitäten im In- und Ausland. Wie der Historiker Matthew Frye Jacobson betont, hinterlässt die Begegnung mit diesen Menschen deutliche Spuren in der Ausformung des amerikanischen Nationalismus - begleitet von neuen Erzählungen nationaler grandeur und Idiomen nationaler Überlegenheit wie auch eines xenophobischen Antagonismus. Was in diesem Kontext bezüglich der Immigration neu erscheint, ist nicht so sehr die Ankunft der sogenannten new immigrants aus Süd- und Osteuropa, auch wenn sich die Zusammensetzung der ethnisch-religiösen Gruppierungen der Neuankommenden seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts stark verändert hat und in den Augen der Zeitgenossen deutlich wahrgenommen wird. Neu sind vor allem die größere Anzahl von Menschen und die weltweiten rapiden Veränderungen in der Wirtschaft und Politik dieser Zeit. Auch Chane Wernik ist vermutlich eine dieser vielen, die im Zuge der Arbeitsmigration und - aufgrund der diskriminierenden Politik gegen Juden im zaristischen Russland - in der Hoffnung auf ein besseres Leben in den Westen auswandert. Ebenso gibt aber ihre Ankunft auf Ellis Island eine vage Vorstellung vom Umfang, der Expertise und der Macht der sich neu entwickelnden Regierungsbürokratien zur Kontrolle und Lenkung dieser Menschenmassen. In einer komplexen Wechselwirkung von sozialen Ängsten, zunehmend zentralisierten institutionellen Bestrebungen einzelner Behörden nach einer Kontrolle der Menschenmassen sowie individuellen professionellen Ansprüchen tritt ein Aspekt besonders deutlich hervor: Bei der Beschäftigung mit der Migrationspolitik der USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt man nicht umhin, die Medikalisierung der Immigrationssprozesse als eine wesentliche kulturelle und wissenschaftliche Komponente zu betrachten, die zugleich im Prozess der Nationsbildung der USA prägend ist. Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung stehen folglich die Krankheiten und der Körper der new immigrants. Spätestens seit der Institutionalisierung der medizinischen Untersuchungen an den zahlreichen Immigrationsstationen Ende des 19. Jahrhunderts werden die Einwanderer und Einwanderinnen bei der Ankunft untersucht und ihre Körper an medizinisch und sozio-ökonomisch normativen Vorstellungen gemessen. Das Beispiel von Chane Wernik auf Ellis Island verweist auf diesen Prozess der Medikalisierung und auf weitere damit eng zusammenhängende Aspekte: die Beurteilung der Körper und der Persönlichkeit der Immigrantinnen und Immigranten entlang der multiplen und (einflussreichen) Achsen von Geschlecht und Sexualität, Klasse und Rasse. Untersucht wird der Akt der Grenzüberschreitung in seiner mannigfachen Bedeutung, in dem die unterschiedlichen Rollen der Akteure an der Grenze zutage treten. In diesen Prozessen erweisen sich die Nationalstaaten mit ihren wissenschaftlich-administrativen Institutionen und ihrem Personal als Machtsysteme, die über spezifische Praktiken, Techniken und Wissensformen die Entwicklung einer staatlichen Intervention und Administration ganzer Bevölkerungen erlauben. Die Untersuchung analysiert damit unter anderem die Mikropolitik an der Grenze, indem sie die Koppelung zwischen Staat und individuellen Körpern nachzeichnet. Die Beleuchtung der Aspekte von Körpern, von Krankheiten und von Defekten, Grenzen und Kontrollen im Schein von verschiedenen historischen Quellen wirft ein Licht auf eine vielschichtige und komplexe Geschichte der Verkettung von Medizin, Gesundheitsstaat und Migration. Unterschiedliche Aspekte sind, darauf haben Howard Markel und Alexandra Minna Stern hingewiesen, für diesen Zusammenhang bezeichnend: Einerseits wurde die Bedrohung durch kranke und als defekt betrachtete Einwanderer und Einwanderinnen immer als wesentlich intensiver wahrgenommen als die tatsächlichen medizinischen Auswirkungen dieser Krankheiten. Andererseits wurden bestimmte Krankheiten als von den Neuankommenden importiert betrachtet. Aus dieser Wahrnehmung resultierten durchaus wandelbare medizinische Ausschlusskriterien, die nicht notwendigerweise wirksam waren; umso stärker entwickelte sich hingegen eine medizinisch geprägte Metaphorik in der Verknüpfung von potenziellen Gefahren einer uneingeschränkten Einwanderung mit der nationalen Gesundheit.

Erscheint lt. Verlag 5.10.2009
Reihe/Serie Studien zur historischen Sozialwissenschaft ; 33
Zusatzinfo 11 Abbildungen
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 140 x 213 mm
Gewicht 566 g
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte Allgemeine Geschichte
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Studium Querschnittsbereiche Geschichte / Ethik der Medizin
Schlagworte 19. Jahrhundert • 20. Jahrhundert • Einwanderung • Einwanderung / Immigration • Eugenik • Grenze • Hardcover, Softcover / Geschichte/Regionalgeschichte, Ländergeschichte • Körper • Körpergeschichte • Medizin • Medizingeschichte • Medizin, Geschichte • Medizin, Geschichte / Medizingeschichte • Migration • USA • USA, Geschichte; Sozial-/Wirtschafts-G. • USA, Geschichte; Sozial-/Wirtschafts-Geschichte
ISBN-10 3-593-38887-1 / 3593388871
ISBN-13 978-3-593-38887-8 / 9783593388878
Zustand Neuware
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