Musik in der Altenhilfe (eBook)
244 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-042426-5 (ISBN)
Kai Koch, Prof. Dr. phil., Professor für Musik und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Musikgeragogik (DGfMG e. V.). Bernd Reuschenbach, Prof. Dr. phil., Professor für gerontologische Pflegewissenschaft und Qualitätsmanagement an der Katholischen Stiftungshochschule München.
Kai Koch, Prof. Dr. phil., Professor für Musik und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und erster Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Musikgeragogik (DGfMG e. V.). Bernd Reuschenbach, Prof. Dr. phil., Professor für gerontologische Pflegewissenschaft und Qualitätsmanagement an der Katholischen Stiftungshochschule München.
1 Pflegewissenschaftliche Perspektive zur Musik für ältere Menschen
Bernd Reuschenbach
breiter professioneller Anspruch der Pflege
Die Beiträge in diesem Buch adressieren vielfältige musikalische Angebote für gesunde ältere Menschen, Pflegebedürftige, Sterbende und Menschen mit Behinderung in unterschiedlichen Settings (Heim, zuhause, ambulante Angebote etc.). Wenn dieses Kapitel die Schnittmenge von Pflege und Musik beleuchtet, dann erscheint das auf den ersten Blick als Einengung auf Musik in Altenpflegeeinrichtungen und für Pflegebedürftige. Allerdings ist das professionelle Pflegeverständnis breiter als die Zuständigkeitszuschreibung für die Pflege und die Pflegenden in der Öffentlichkeit. Pflege, so formuliert es das International Counsil of Nursing (ICN), hat als Zielgruppe »individuals of all ages, families, groups and communities, sick or well and in all settings«.1 Es geht also um die Sorge (»Caring«) für Gesunde und Kranke, für Pflegebedürftige und von Pflegebedürftigkeit bedrohte, von jungen, alten und sehr alten Menschen, von Menschen, die zuhause wohnen, und Menschen die wohn- und obdachlos sind. Pflege richtet sich an einzelne Personen, die je nach Setting Pflegebedürftige, zu Pflegende, Patientinnen oder Patienten, Bewohnerinnen und Bewohner, Klientinnen und Klienten genannt werden. Pflege hat den Anspruch, Gesundheit zu erhalten, zu fördern und die Heilung zu unterstützen. Diese Änderung des pflegerischen Grundverständnisses findet sich auch im Berufsbild wieder: Aus der einstigen Krankenpflege wurde die Gesundheits- und Krankenpflege.
Allerdings hat Pflege auch einen Auftrag über Personen hinweg, indem sie auf der Ebene der »Community« planend, gestalterisch und handelnd unterwegs ist. So ist beispielsweise die Planung von Hilfsangeboten, Präventionsangeboten und die Ermöglichung von Teilhabe in einer Gemeinde auch eine pflegerische Aufgabe, die in jüngster Zeit mit dem Aufgabenfeld »Community Health Nursing« klar beschrieben ist (Primig & Reuschenbach, 2021).
Mit dieser Beschreibung des professionellen Anspruchs der Pflege wird deutlich, dass Pflege und Musik in vielen Bereichen Kontaktstellen und Berührungspunkte haben. Für zwei Bereiche soll das hier verdeutlicht werden, zum einen auf individueller Ebene, für die Versorgung in stationären Altenpflegeeinrichtungen. Zum zweiten für die Rolle der Pflege auf kommunaler Ebene.
1.1 Musikalische Angebote im Bereich stationärer Altenpflege
kulturelle Teilhabe als gesetzlicher Auftrag
Wenn im Alltagsgebrauch von Seniorenresidenzen oder Altenheimen die Rede ist, dann handelt es sich im Sinne des Sozialgesetzbuches meist um Einrichtungen der stationären Altenhilfe oder Altenpflege. Gesetzlich geregelt sind die Anforderungen und der Versorgungsauftrag im Sozialgesetzbuch XI und in landesspezifischen Regelungen des Heimrechts. Zwar wird in jedem Bundesland die (kulturelle) Teilhabe der Bewohnerinnen und Bewohner als Zielsetzung in den Heimgesetzen benannt, im Bundeslandvergleich ragt das rheinland-pfälzische Landesgesetz über Wohnformen und Teilhabe (LWTG) aber positiv heraus, denn es formuliert in § 3 sehr konkret, dass Altenpflegeeinrichtungen sich zur Gemeinde hin öffnen sollen. Es fordert die Einbeziehung von Personen und Institutionen »der Kultur« für die Belange der Bewohnerinnen und Bewohner. Hier werden also schon auf gesetzlicher Ebene die Grundlagen für die Musik in den Einrichtungen benannt.
kulturelle Teilhabe: gefordert, aber unterfinanziert
Trotz der normativen Forderung nach sozialer und kultureller Teilhabe für Bewohnerinnen und Bewohner kann daraus nicht abgeleitet werden, dass musikalische Angebote auch zu finanzieren sind. Vielmehr ist für die Einrichtungen eine sehr komplexe Mischkalkulation notwendig, um adäquate Musikangebote in Altenpflegeeinrichtungen zu sichern ( Kap. 6). Viele musikalische Formen werden in Pflegeeinrichtungen ehrenamtlich organisiert und so sind auch die Heimgesetze zu verstehen: Aufgabe der Einrichtungen ist es, den Zugang zu musikalischen Angeboten zu ermöglichen und nicht zwingend diese selbst anzubieten. Wie in vielen Bereichen der Pflegeversorgung muss den Betroffenen und Angehörigen klar sein, dass die Pflegeversicherung ohnehin nur als eine Art »Teilkaskoversicherung« angedacht ist, d. h., dass auch beispielsweise Gelder für Musik oft aus anderen Quellen (z. B. eigenes Vermögen, Spenden oder andere Sozialleistungsquellen) kommen sollen.
Für Pflegende gehören musikalische Angebote zu einem unerlässlichen Bestandteil guter Pflege (Wilson et al., 2019). Die Angebote in stationären Pflegeeinrichtungen sind sehr vielfältig, wie auch die verschiedenen Kapitel dieses Buches zeigen. Die Formen lassen sich auf vier Ebenen verorten:
1. rezeptive (hörende) vs. gestalterische (musikmachende) Angebote
2. individuelle vs. gemeinschaftliche Angebote
3. aufsuchende vs. aufgesuchte Angebote
4. begleitende vs. separierte Angebote
Das Singen einer Pflegeperson bei der Unterstützung der Körperpflege einer Bewohnerin ist demnach als rezeptives, individuelles, aufsuchendes und begleitendes Musikangebot zu verstehen.
Orientierung der Pflege für musikalische Angebote
Grundlegende Prinzipien für die Integration von Musik in die Pflege sind:
• Ressourcen statt Retrogenese fördern:
Unterscheidendes Merkmal professioneller Pflege zur Laienpflege ist der Blick auf vorhandene Ressourcen der Pflegebedürftigen mit den Leitfragen: Welche musischen Fähigkeiten hat die Person? Welche Möglichkeiten zum Erleben und zur Gestaltung von Musik sind vorhanden? Diese ressourcenorientierte Sichtweise drückt sich auch in der professionellen Sprache aus: Bei »Menschen mit Demenz« und »Menschen mit der Behinderung« steht der Mensch im Mittelpunkt, bei »Demenzkranken« und »Behinderten« eher die Defizite.
• Interindividuelle Differenzierung:
Die Auswahl an musikalischen Angeboten muss zu den Präferenzen der Pflegebedürftigen passen. Oft unterscheidet sich der Musikgeschmack von Pflegenden und zu Pflegenden, schon allein aufgrund des Alters, aber auch aufgrund des Geschlechts und Bildungsstands. Es gilt daher, die Angebote interindividuell anzupassen, was eine umfangreiche Einschätzung (Assessment) unter Hinzuziehung von Angehörigen und Betroffenen notwendig macht.
• Intraindividuelle Differenzierung:
Die Neigungen, Musik zu machen oder zu hören, sind von der Tagesform, aktuellen Stimmungen und Rahmenbedingungen abhängig. Was gestern noch passend war, kann heute schon unpassend sein. Gerade bei Menschen mit Demenz kann sich der Stimmungszustand schnell ändern. Es ist daher wichtig, sensibel für positive und negative Änderungen zu sein und ggf. Angebote auch abzubrechen (vgl. Reuschenbach, 2022). Nicht immer tun gut gemeinte Angebote auch wirklich gut.
• Aufbau von Ermöglichungsstrukturen:
Selbstbestimmte Musiknutzung oder -produktion setzen einen Zugang zu entsprechenden Angeboten voraus. Pflegende sollten dafür Sorge tragen, dass ein ebensolcher Zugang zu musikalischen Angeboten besteht. Zu den Aufgaben zählen:
– Sensibilisierung von anderen Pflegenden, der sozialen Betreuung und Angehörigen für die Notwendigkeit von musikalischen Angeboten
– Aufbau und Förderung von Ehrenamtsstrukturen
– Initiierung kultureller Veranstaltungen in der Einrichtung
– Unterstützung von Besuchen kultureller Veranstaltungen außerhalb der Einrichtung
– Bereithalten digitaler und medialer Angebote für die individuelle Musiknutzung
personenzentrierter Ansatz
Besonders bei aufsuchenden und pflegebegleitenden Angeboten ist sicherzustellen, dass die Präferenzen der Personen beachtet werden. Bei individuell gestalteten Angeboten ist das leichter möglich als bei gemeinschaftlichen Angeboten. Professionelle Pflege ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sensibel erspürt, ob und was Bewohnerinnen und Bewohner hören oder tun möchten. Leider steht dieser personenzentrierte Ansatz oft in Widerspruch zu institutionellen Ritualen. Es ist ein unprofessionelles Agieren, wenn älteren Menschen ein »typischer« Musikgeschmack zugewiesen wird und auf einer Pflegestation volkstümliche Klänge erschallen oder wenn Personen, die evtl. nicht mehr ihren Willen kommunizieren...
Erscheint lt. Verlag | 6.11.2024 |
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Co-Autor | Ludwig Amrhein, Jeremy Apken, Jürgen Bachmann, Sabine Baumbach, Friederike Frenzel, Andrea Glodek, Aiske Ihnken, Andrea Kenkmann, Ute Konrad, Devoin Kwasniok, Wolfram Lamparter, Irina Lehnert, Bernd Josef Leisen, Marcus Maier, Monika Mayr, Vanessa Mertins, Barbara Metzger, Jutta Michel-Becher, Simone Viviane Plechinger, Ricarda Raabe, Kerstin Schatz, Eva-Luisa Schnabel, Oliver Schöndube, Christine Schwendner, Armando Sommer, Juno Sommer, Jan Sonntag, Martina Stauber, Katrin Steudemann, Alexander Wormit, Anette Zanker-Belz |
Zusatzinfo | 5 Abb., 4 Tab. |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Pflege |
Schlagworte | Altenhilfe • Altenpflege • Geragogik • Musik • Musiktherapie |
ISBN-10 | 3-17-042426-2 / 3170424262 |
ISBN-13 | 978-3-17-042426-5 / 9783170424265 |
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Größe: 3,8 MB
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