Soziale Hilfesysteme erfolgreich neu aufstellen -  Tanja Heitling

Soziale Hilfesysteme erfolgreich neu aufstellen (eBook)

Niedrigere Kosten, höhere Qualität und ausreichend Fachkräfte am Beispiel der Eingliederungshilfe
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
129 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-045510-8 (ISBN)
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Einfach, klar, knapp und bestechend logisch werden 10 Prinzipien für bessere Ergebnisse, weniger Kosten und für ausreichend Fachkräfte in sozialen Hilfesystemen am Beispiel der Eingliederungshilfe beschrieben. Das Buch gibt konkrete und pragmatische Antworten auf Fragen, Aufgaben und organisatorische Problemstellungen für Leistungserbringer und Leistungsträger. Anhand beispielhafter Darstellungen und wirkungsvoller Prinzipien werden machbare Veränderungen für bessere und passgenauere Leistungen beschrieben, für die es nur wenige konsequente Entscheidungen sowie den Mut, diese zu treffen und zu handeln braucht. Steigt die Qualität der Leistungen und werden gleichzeitig die Kosten für Gesundheit und Pflege gesenkt, profitiert jeder in unserer Gesellschaft davon.

Dr. Tanja Heitling, Geschäftsführung der Lebenshilfe Gifhorn gGmbH (Niedersachsen), Dipl.-Psychologin (Humboldt-Universität, 2011; Arbeits- und Organisationspsychologie), 2022 promoviert an der HU Berlin; Systemischer Coach (ISCO GmbH; DBVC-zertifiziert).

Dr. Tanja Heitling, Geschäftsführung der Lebenshilfe Gifhorn gGmbH (Niedersachsen), Dipl.-Psychologin (Humboldt-Universität, 2011; Arbeits- und Organisationspsychologie), 2022 promoviert an der HU Berlin; Systemischer Coach (ISCO GmbH; DBVC-zertifiziert).

1 Was ist Selbstbestimmung?
»Das Selbst-Tun & Selbst-Entscheiden-Prinzip«


Jedes soziale System in Deutschland hat einen inhaltlichen Auftrag und dient dem Menschen. Die Unterstützungs- und Hilfesuchenden sind somit die Auftraggeber und entscheiden daher, was sie vom System brauchen im Sinne der Auftragserfüllung, zu dem das System verpflichtet ist.

Der inhaltliche Auftrag der Eingliederungshilfe wird im »Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen« (Bundesteilhabegesetz – BTHG) festgelegt. Laut BTHG als bundesdeutsche Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention6 ist der Auftrag die Förderung von Selbstbestimmung und die Förderung der »vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft für Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohter Menschen«7.

Zur Erfüllung dieses Auftrages braucht es im ersten Schritt Antworten auf die Frage: Was ist Selbstbestimmung und wie kann Selbstbestimmung sichtbar und messbar gemacht werden?

Die sichtbaren Aspekte von Selbstbestimmung sind das Selbst-Entscheiden und das Selbst-Tun8. Je mehr eine Person selbst entscheiden kann, umso selbstbestimmter ist die Person. Wer selbst entscheiden kann, wie die vielen kleinen Dinge des Alltages gestaltet werden sollen und auch die großen Lebensentscheidungen selbst trifft, ist selbstbestimmt und erlebt Lebenszufriedenheit. Wenn wir selbst über uns und unser Leben entscheiden können, gestalten wir unsere Lebenswelt nach unseren Zielen, Wünschen, Bedürfnissen und Präferenzen. Damit ist eine bedeutsame Voraussetzung dafür geschafften, frei und glücklich zu sein. Der erste Schritt ist, eine Entscheidung treffen zu können. Der zweite Schritt ist dann zu handeln. Wir müssen etwas tun, damit eine Entscheidung Realität wird. Selbst-Tun als zweiter sichtbarer Aspekt der Selbstbestimmung bedeutet, je mehr eine Person selbst tun kann, umso selbstbestimmter ist die Person. Das bedeutet im Umkehrschluss, je weniger eine Person selbst tun kann, weil sie auf Hilfe angewiesen ist, umso abhängiger und unfreier ist die Person. Jeder, der schon einmal einen Arm oder ein Bein gebrochen hatte, kann das gut nachvollziehen. Weniger selbst tun zu können und auf Hilfe angewiesen zu sein, schränkt unsere Freiheit und Lebensfreude ein.

Selbstbestimmung im Sinne von Selbst-Entscheiden und Selbst-Tun sind bedeutsame Voraussetzungen für Freiheit als Menschenrecht. Selbstbestimmung ist damit der Ausgangspunkt für jede Art individueller Entwicklung, für die gleichberechtigte, volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und für Normalisierung9. Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung bedeutet, dass jeder Mensch so leben kann, wie er es zur Förderung des eigenen Wohlbefindens als Dimension von Lebensqualität will und braucht. Wenn das Selbst-Entscheiden und das Selbst-Tun eingeschränkt werden, entsteht das Gefühl von Fremdbestimmung und Unfreiheit.

Corona hat dies erlebbar gemacht. In der Zeit des Lockdowns konnten wir weniger Entscheidungen treffen und weniger tun als in der Zeit davor. Die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit war eingeschränkt und dies hat bei vielen Menschen das Gefühl der Unfreiheit erzeugt und die Lebensqualität bedeutsam eingeschränkt.

Selbstbestimmung bedeutet zudem, dass jeder Mensch in unserer Gesellschaft aus den gleichen gesellschaftlich zur Verfügung stehenden Entscheidungsmöglichkeiten für die Gestaltung der eigenen Lebensrealität auswählen kann. Dabei wären in dieser Sichtweise die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, die Bedingungen sowie die Grenzen für die Auswahl von Entscheidungsmöglichkeiten für alle Teilnehmenden an dieser Gesellschaft gleich.

Selbstbestimmung bedeutet auch Grenzen der Machbarkeit von Entscheidungen. Wünschen, wählen und entscheiden zu können, bedeutet, als Gleichberechtigungsaspekt betrachtet, dass Menschen mit und ohne Beeinträchtigung mit einer Entscheidung für eine Möglichkeit gleichzeitig eine Entscheidung gegen eine alternative Möglichkeit treffen. Je nach Entscheidung verändert sich die eigene Lebensrealität. Damit werden mögliche alternative Möglichkeiten temporär, mittelfristig oder langfristig ausgeschlossen. Grenzen der Machbarkeit bedeutet auch, dass aufgrund individueller Voraussetzungen, wie u. a. sozialisations- und ressourcenbedingter Gegebenheiten (Biografie, Entwicklungsverläufe, Bildungshistorie, familiäre Unterstützungssysteme, monetäre Ressourcen usw.) und Merkmale, die in der Person liegen, für keine Person in der Gesellschaft »alles« möglich ist.

Bei der Betrachtung realisierter Selbstbestimmung geht es daher um die Vergleichbarkeit von Entscheidungsmöglichkeiten von Menschen, die auf Leistungen der Eingliederungshilfe und/oder anderer sozialer Systeme (u. a. Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser, Förderschulen, heilpädagogische Kindergärten, Hilfesysteme für Menschen mit Migrationshintergrund) angewiesen sind und von Menschen, die ohne Leistungen dieser Systeme das individuelle Leben gestalten können. Im Fokus dieses Buches steht die Vergleichbarkeit von Entscheidungsmöglichkeiten von Menschen, die in Wohngemeinschaften der Eingliederungshilfe leben und/oder in Werkstätten der Eingliederungshilfe arbeiten und von Menschen ohne Beeinträchtigung, die nicht in sozialen Einrichtungen leben oder arbeiten.

Soziale Hilfesysteme unterstützen Menschen dabei, bestehende Ungleichheiten in den individuellen Voraussetzungen für das gleichberechtigte Teilnehmen an der Gesellschaft auszugleichen. Dies erfolgt u. a. durch die Wiederherstellung von Gesundheit, durch möglichst gleiche Bildungschancen für jeden Menschen unabhängig von der Herkunftsfamilie, durch ausreichend viele Krippen- und Kitaplätze für alle Eltern, die einen Platz wünschen sowie durch Assistenz, Hilfsmittel und Barrierefreiheit für Menschen mit Beeinträchtigung.

Hilfesysteme springen dann ein, wenn ein Mensch aus eigener Kraft, mit den eigenen Mitteln und den zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht weiterkommt und daher Hilfe benötigt. Wann und welche Hilfe eine Person braucht, weiß die Person somit selbst am besten.

Im Bundesteilhabegesetz (BTHG) ist als Mittel für die Realisierung von Selbstbestimmung das »Wunsch- und Wahlrecht« festgeschrieben. Das »Wunsch- und Wahlrecht« bedeutet, dass Menschen mit Beeinträchtigung das Recht haben zu entscheiden, was Sie vom Hilfesystem brauchen, wann, wo, wie, wie lange und von wem10. Dabei kann der Begriff »Wünschen« irreführend sein. Im BTHG wird somit von »berechtigten« Wünschen gesprochen, die berücksichtigt werden, damit die Ziele Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe erreicht werden können. Es wird festgelegt, dass der individuelle »Bedarf« einer Person ermittelt werden muss. Der Bedarf ist das, was eine Person individuell und konkret vom System braucht. Eine Person braucht das, was »eine Lücke zwischen dem, was aktuell ist und dem, was sein muss« schließt. Das Brauchen ist »das konkrete Verlangen nach Gütern und Dienstleistungen zur Befriedigung dieser Bedürfnisse«11. Laut der Bundesregierung richtet sich der individuelle Bedarf nach der Passung zum »gewohnten oder gewünschten Lebensfeld«12.

Der erste und wichtigste Schritt für ein Hilfesystem ist es daher, herauszubekommen, was eine Person tatsächlich braucht im Sinne von »Bedarf« und was nicht. Es geht nicht darum, aus dem, was ein System an Dienstleitungen anbietet, auszuwählen, was zu einer Person passen könnte. Es geht umgekehrt darum, herauszufinden, was eine Person konkret individuell braucht, um dann Angebote zu entwickeln, die zu der Person passen so wie ein maßgeschneidertes Kleidungsstück. Das bedeutet auch das wegzulassen, was nicht gebraucht wird. Die Konsequenz daraus wäre für die Eingliederungshilfe: Wenn ein Mensch nicht in einer Werkstatt der Eingliederungshilfe arbeiten will, muss dieser Person eine Alternative angeboten werden, die zu dem Brauchen und den Wünschen der Person passt. Wenn zunehmend mehr Menschen nicht in einer Werkstatt der Eingliederungshilfe arbeiten wollen, ist es zwangsläufig, dass Werkstätten kleiner werden oder schließen. Im Ergebnis verändert sich das System auf Basis dessen, was gebraucht und gewollt wird.

Dem gegenüber steht, dass Systeme sich selbst erhalten wollen. Die Eingliederungshilfe ist historisch ein »sich selbst speisendes System«. Das bedeutet, dass der Lebenslauf von Menschen mit Beeinträchtigung nicht selten mit der Frühförderung der Eingliederungshilfe beginnt. Es folgen der Besuch eines Heilpädagogischen Kindergartens, der Besuch einer Förderschule, der Eintritt in die Werkstatt für Menschen mit Beeinträchtigung und parallel das Wohnen in einer Einrichtung der Eingliederungshilfe. Im Regelfall bleiben Menschen mit diesem Lebenslauf bis zum Eintritt ins Rentenalter in der Werkstatt und bis zum Lebensende in der Wohneinrichtung der Eingliederungshilfe.

Dieser historisch gewachsene Mechanismus bzw. häufige Automatismus begünstigt, dass Unternehmen der Eingliederungshilfe ausreichend...

Erscheint lt. Verlag 11.9.2024
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Gesundheitsfachberufe
Schlagworte Eingliederung • Organisationsentwicklung • Versorgungsstrukturen
ISBN-10 3-17-045510-9 / 3170455109
ISBN-13 978-3-17-045510-8 / 9783170455108
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