Körperhaltung (eBook)
799 Seiten
Thieme (Verlag)
978-3-13-245877-2 (ISBN)
1 Zur Körperhaltung
Körperhaltung bedeutet in erster Linie „Gegenkraft zur Schwerkraft“ oder – was mir als Bild besser gefällt – ebenbürtige Kraft zur Schwerkraft.
Sobald Kinder sitzen oder stehen können, ist ihre Haltung dabei sehr aufrecht. Die Wirbelsäule ist lang gezogen, die Halswirbelsäule (HWS) gestreckt, das Brustbein gehoben. Diese Streckung, für Erwachsene oft anstrengend, können Kinder problemlos halten und dabei gleichzeitig ins Spielen vertieft sein – und das über längere Zeit in sitzender Position ( ▶ Abb. 1.1). Aufrechte Haltung hat nichts mit antrainierter Kraft oder gelernter Körperpositionierung zu tun, sondern ist ein Reflex, eine Art „Uransteuerung“.
Unzählige Einflüsse beeinträchtigen diese schöne, natürliche Haltungsansteuerung.
Abb. 1.1 Kinder beugen sich nicht.
1.1 Faktoren, die die Körperhaltung beeinflussen
Der erste Haltungsimpuls, die Aufrichtung und Streckung, geschieht automatisch und hat noch nichts mit Bewusstsein oder Kontrolle zu tun. Diese natürliche Grundhaltung wird von unterschiedlichen Aspekten beeinflusst ( ▶ Abb. 1.2):
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familiär, erblich – Kindheit
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Psyche, Charakter
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Emotionen und Gefühle
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Biochemie
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Zustand der Muskulatur
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Krankheitsbilder
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Schmerz
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operative Eingriffe, Narben
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Energiezustand
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Temperatur
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Lifestyle
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Sportarten
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Gewohnheiten
Abb. 1.2 Zeichnung von Ruth Perren aus dem Kurs „Rückentraining Basic“ der star education, CH.
Alle Einflüsse auf die Haltung sind wechselseitig: Ebenso wie ein Gefühl die Körperhaltung beeinflusst, beeinflusst eine Körperhaltung das emotionale Befinden. Anders formuliert: Kann sich ein Energiezustand auf die Körperhaltung auswirken, dann kann sich eine veränderte Körperhaltung auch auf den Energiefluss auswirken.
In einer Studie von Riskind u. Gotay (1982) konnte gezeigt werden, dass eine aufrechte Körperhaltung nicht nur die Dominanz und Stärke positiv beeinflusst, sondern „Aufrechtsitzer“ auch hartnäckiger und erfolgreicher an Lösungen gearbeitet haben. Unter anderem macht man für diese Resultate eine hormonelle Reaktion verantwortlich. Die Streckung der Körperhaltung erhöht den Testosteron- und senkt den Kortisolspiegel. Dies verbessert nicht nur das Immunsystem, sondern fördert außerdem den Mut sowie die Willenskraft und Beharrlichkeit (Carney et al. 2005).
Die anspruchsvolle Arbeit an der Haltung ist somit von weitreichendem Nutzen – ganz abgesehen vom Resultat einer optimalen Gelenkbelastung und effizienter Trainingsreize.
1.1.1 Anlage
Wie stark sich die Vererbung auf Körperhaltung und Körper auswirkt, ist noch nicht völlig geklärt. Angenommen wird, dass Erbfaktoren verantwortlich sind für Körpergröße (Hebel), die Form und den Zustand der Knochen, Gelenke, Organe sowie für Wachstumsstörungen usw., diese Erbanlagen aber nicht immer zwingend gelebt werden müssen.
Es wäre falsch, aus dem Nachahmen der Haltungen, Gesten wie auch vom Verhalten der Eltern Rückschlüsse auf Erbanlagen zu ziehen. Im späteren Alter findet man dieses Kopieren von Vorbildern erneut, z. B. im Sport, bei Trends und Stars.
Zusätzlich spielt, nebst der Ernährung, auch das Bewegungsverhalten für die Entwicklung des Kindes eine zentrale Rolle. Nur wenige Kinder haben noch die Möglichkeit, sich natürlich zu bewegen, zu rennen, zu klettern, zu springen usw. Motorische Unterforderung verlangsamt oder behindert allerdings die Entwicklung der Grob- wie der Feinmotorik. Bewegung ist nicht nur für das zentrale Nervensystem (ZNS), sondern auch für den Körper grundlegend.
Dieser Trend ist bekannt und in Kindergärten und Schulen werden wertvolle Maßnahmen ergriffen, um dem entgegenzuwirken, z. B. durch kreative Bewegungsprogramme und sogar eine kindgerechte Körperhaltungsschulung (z. B. durch den Verein Kinder hoch 3, CH; ▶ ).
1.1.2 Psyche und Charakter – Charakterbildung
Dieses Kapitel soll aufzeigen, dass der Körper, die Körperhaltung und die Ausstrahlung eines Menschen nie von der seelisch-geistigen Dimension getrennt werden können. Wir haben es immer mit dem gesamten Menschen zu tun, ganz gleich, ob seine Motivation Spitzenleistung, Vergnügen und Spaß oder Schmerz, Unwohlsein und Suche ist.
Ich bin überzeugt, dass das, was zwischen den Übungen geschieht, für das Befinden, den Trainingserfolg und die Entwicklung der Teilnehmenden ebenso wichtig ist wie die Übungen selbst.
Die Verhaltensprinzipien erwachsener Menschen werden in frühester Kindheit geprägt. Je früher eine Erfahrung gemacht wird, desto direkter wird daraus „Wahrheit“. Diese persönliche Wahrheit, dieses persönliche Weltbild, umfasst eine bestimmte Art zu denken (Glaubenssätze), zu fühlen sowie eine bestimmte Art repetitiven Verhaltens (Verhaltensmuster). Die Summe dessen nennen wir dann Charakter.
Über den Einfluss und das Erleben von Gefühlen und Emotionen während der ersten Lebensjahre eines Kindes und den daraus folgenden Konsequenzen, der sog. Charakterbildung, hat Reich (1945) eine wichtige Grundlage geschaffen. Dieses Grundlagenwissen wurde von Alexander Lowen, Ron Kurtz und anderen Autoren weiterentwickelt und gilt heute als Basis für unterschiedliche Arten von körperzentrierter Psychotherapie.
Während des ganzen Lebens, in jedem wichtigen Moment eines Reifeprozesses, zeigen sich immer wieder die folgenden 4 Grundthemen, die aus einer frühkindlichen Prägung heraus immer wieder gleich oder ähnlich erlebt, wiederholt und – je nachdem, wie sie grundsätzlich erlebt worden sind – bewältigt werden ( ▶ Abb. 1.3).
Abb. 1.3 Spiegelbild (Yves Netzhammer).
1.1.2.1 Taktile Entwicklungsphase – von der Zeugung bis erste Monate
Das Grundthema in der taktilen Phase ist „Existenz“, die Frage: „Bin ich willkommen?“
Wie das Kind diese Frage beantwortet bekommt, ist davon abhängig, wie die Schwangerschaft verläuft, von der Geburt selbst – dem Ankommen auf dieser Welt – und den ersten Lebenswochen und -monaten. Erfährt es in dieser Zeit eine Ablehnung, wird das Selbstwertgefühl grundlegend irritiert.
Fühlen sich diese Menschen nicht angenommen, kann es sein, dass sie sich in ihre innere Welt zurückziehen, viel denken, analysieren, fantasieren. Sie können häufig distanziert oder introvertiert wirken und in Stresssituationen oder in privaten Auseinandersetzungen eine ausgeprägte Flucht- oder Erstarrungstendenz zeigen.
Diese Zurückgezogenheit offenbart sich auch körperlich: Entweder sind diese Menschen dünn, blass und eher schlaksig, oder sie sind dick und verstecken sich in „ihrer Burg“. Der Körper ist verspannt und hart (auch unter der Fettschicht), die Energie ist in die Knochen und in den Bauch „gefahren“, Lebendigkeit ist im Kopf ( ▶ Abb. 1.4 a).
Trifft man diese Menschen im Bewegungsbereich, sind es Ausdauersportler, Langstreckenläufer, Einzelsportler oder – als zweite ...
Erscheint lt. Verlag | 21.8.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Gesundheitsfachberufe |
Schlagworte | Aufrechte Haltung • Beweglichkeit • Core-System • Fehlhaltung • Körperhaltung • Muskelfunktionsgruppen • physiologisch korrekte Haltung • Rumpfmuskulatur • Stabilisation • tiefe Muskelschicht • Trainingsreize |
ISBN-10 | 3-13-245877-5 / 3132458775 |
ISBN-13 | 978-3-13-245877-2 / 9783132458772 |
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