Transidentität - Transgender (eBook)
236 Seiten
Vandenhoeck und Ruprecht (Verlag)
978-3-647-99302-7 (ISBN)
Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch, Diplom-Psychologe, Fachpsychologe (FSP/SVKP), Psychoanalytiker (DPG, DGPT), lehrte Klinische Psychologie an der Universität Basel und ist als Psychotherapeut in privater Praxis tätig.
Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch, Diplom-Psychologe, Fachpsychologe (FSP/SVKP), Psychoanalytiker (DPG, DGPT), lehrte Klinische Psychologie an der Universität Basel und ist als Psychotherapeut in privater Praxis tätig.
Von der Krankheit Transsexualität zur nichtpathologischen Transidentität/Transgender
Da es beim Thema Transidentität und Transgender viel begriffliche Verwirrung gibt, möchte ich am Anfang dieses Kapitels zunächst die Begriffe klären, die ich im Folgenden verwenden werde.
Häufig wird in öffentlichen Diskussionen, aber auch noch im wissenschaftlichen Bereich von Transsexualismus bzw. »Transsexualität« gesprochen (bis die neue ICD-11 in deutscher Sprache vorliegt, wird die Diagnose »Transsexualismus« allerdings noch verwendet). Diese Bezeichnung trifft jedoch nicht das Wesen dieser Menschen, da es bei ihnen nicht um die sexuelle Ausrichtung oder die Art, wie sie ihre Sexualität leben, geht, sondern um ihre Identität. Aus diesem Grund werden heute, auch unter Fachleuten, eher die Begriffe »Transidentität« und »Transgender« verwendet. Nichttransidente werden als »cis« Personen bezeichnet (Sigusch, 1995).
»Transgender« ist ein Oberbegriff, der zur Bezeichnung all der Menschen verwendet wird, die sich nicht mit dem ihnen zugewiesenen Geschlecht identifizieren können bzw. sich dadurch nicht richtig beschrieben fühlen. Dazu gehören sehr unterschiedliche Personen, die im Hinblick auf ihre Identität aber alle in irgendeiner Weise von der Mehrheitsgesellschaft abweichen. Der Vorteil des Begriffs Transgender ist – und deshalb verwende ich ihn in dieser Neuauflage meines Buches –, dass er ein weites Spektrum von Menschen mit den unterschiedlichsten Identitäten beschreibt.
Mit dem Begriff »Transidentität« werden die gleichen Personen bezeichnet. Auch dies ist ein Oberbegriff, der keinerlei pathologische Konnotation hat und zudem darauf hinweist, dass es bei diesen Personen um die Identität geht.
Bei der Beschreibung von Transgendern wird in psychologischen und psychiatrischen Berichten häufig von »Frau-zu-Mann«- bzw. »Mann-zu-Frau«-Transidenten gesprochen. Durch »Mann-zu- Frau« soll ausgedrückt werden, dass eine dem männlichen Geschlecht zugewiesene Person sich als Frau wahrnimmt – und unter Umständen eine Angleichung an den weiblichen Körper wünscht. »Frau-zu-Mann« dient der Beschreibung dessen, dass eine dem weiblichen Geschlecht zugewiesene Person sich als Mann empfindet – und unter Umständen eine Angleichung an den männlichen Körper sucht. Im Grunde widersprechen die Bezeichnungen »Frau-zu Mann« und »Mann-zu Frau« jedoch dem Erleben transidenter Menschen. Aus ihrer Sicht machen sie nämlich keine Veränderung von Mann zu Frau oder von Frau zu Mann durch, sondern sind von jeher im Inneren Frau bzw. Mann gewesen und möchten ihrem empfundenen Geschlecht entsprechend leben und wahrgenommen werden. Unter Umständen, jedoch nicht in jedem Fall, wollen sie den Körper an die empfundene Identität anpassen lassen und in der dieser Identität entsprechenden Rolle leben.
Transidente selbst bezeichnen sich häufig als »trans* Person« und unterscheiden zwischen »trans* Mann« (dem weiblichen Geschlecht zugewiesen, aber mit männlicher Identität) und »trans* Frau« (dem männlichen Geschlecht zugewiesen, aber mit weiblicher Identität). Ich werde im Folgenden bei meiner Darstellung diese Begriffe verwenden, da sie durch die Charakterisierung trans* Mann bzw. trans* Frau die Selbstdefinition und die soziale Rolle als Frau bzw. als Mann in den Vordergrund stellen und so dem Erleben von trans* Personen am besten entsprechen.
In Abweichung von dem in den früheren Auflagen dieses Buches verwendeten Begriff »biologisches« Geschlecht spreche ich in dieser Neuauflage vom »zugewiesenen« Geschlecht, da keine Aussagen über die geschlechtliche Identität eines Menschen anhand der sichtbaren körperlichen Merkmale getroffen werden können. Ob es sich um eine trans* oder cis Person handelt, kann nur sie selbst anhand ihres »empfundenen« Geschlechts beurteilen.
Dies hat zur Folge, dass die »Diagnose« Transgender bzw. Transident immer eine Selbstdiagnose ist, die sich auf keine Weise von außen validieren lässt. Im diagnostischen Prozess (s. S. 35 ff. und S. 51 ff.) können wir uns als Fachpersonen lediglich den Ratsuchenden als Dialogpartner:innen zur Verfügung stellen und ihnen dabei behilflich sein, sich ihrer Situation bewusst zu werden. Die letzte Entscheidung über die Diagnose liegt aber bei den trans* Personen selbst.
Auf die Differenzierung zwischen binären und nichtbinären trans* Personen werde ich später (Kapitel Exkurs: Das »Problem« der Nichtbinarität) ausführlich eingehen.
An dieser Stelle seien noch ein paar Hinweise zur Schreibweise gegeben, die ich in diesem Buch verwende. Die Frage, ob ich mich für den »Gender_Gap« (_), das »Trans-Sternchen« (*) oder den Doppelpunkt (:) entscheide, hat mir ziemlich viel Mühe bereitet. Nachfragen bei Kolleg:innen, die sowohl im Fachbereich als auch als trans* Aktivist:innen viel Erfahrung haben, und die Konsultation beispielsweise der Empfehlungen vom Transgender Network Switzerland (TGNS) haben mich mehr oder weniger ratlos zurückgelassen. Es gab keine übereinstimmenden Empfehlungen. Ich habe mich deshalb dazu entschlossen, folgendermaßen vorzugehen – und bin mir klar darüber, dass ich mich damit in etliche Fettnäpfchen setzen werde, aber das ist bei dem Thema dieses Buches ohnehin nicht zu vermeiden:
Ich werde »trans*« als Adjektiv mit Sternchen schreiben, wobei das Sternchen als Platzhalter für die Fülle von möglichen Transselbstzuschreibungen fungiert. Transgender, Transidentität, Transnegativität usw. werde ich als feststehende Begriffe ohne Sternchen oder Doppelpunkt schreiben. Bei Worten wie Klient:innen, Therapeut:innen, Endokrinolog:innen u. ä. verwende ich den Doppelpunkt, um damit einen Raum für alle Geschlechter, jenseits von weiblich und männlich, zu öffnen.
Als in den Jahren 1952/53 in Dänemark bei Christine Jörgensen (Hamburger, Stürup u. Dahl-Iversen, 1953) die erste operative Angleichung eines Mannes an das weibliche Geschlecht erfolgte (Sigusch, 1995, weist allerdings darauf hin, dass plastisch-chirurgische Operationen am Genitale und an den sekundären Geschlechtsmerkmalen von der Medizin spätestens seit 1761 vorgenommen worden seien), begann eine neue Ära in der Geschichte des »Transsexualismus«. Es war auch damals kein neues Phänomen, und Transsexualismus beschränkt sich auch keineswegs auf den mitteleuropäischen und angloamerikanischen Bereich. Wir kennen andere Kulturen, in denen der Wechsel der Geschlechterrolle sogar recht weit verbreitet ist und einen festen Platz im kulturellen und religiösen Leben einnimmt: so die Fakaleiti, Männer auf Tonga (Ozeanien), die sich in ihrem Auftreten und ihrer Kleidung dem weiblichen Geschlecht angleichen, die Kathoey Thailands, die Hijra in Indien und die »Two-Spirit People« in indigenen Gruppen Nordamerikas (Tietz, 2013), um nur ein paar prominente Beispiele zu erwähnen. In ihrer Analyse der weltweiten Geschlechtervielfalt kommt Baltes-Löhr (2023) auf 112 verschiedene Ausprägungen von Geschlecht. Die Two-Spirit People haben in der indigenen Gesellschaft eine anerkannte soziale Stellung und werden zum Teil hochverehrt. Ihr Two-Spirit-Wesen erklären sich die Mitglieder dieser Gruppe durch eine Berufung durch höhere Mächte und schreiben diesen Menschen deshalb auch übernatürliche Kräfte zu. Bei diesen Lebensformen aus anderen Kulturen bleibt aber offen, inwieweit sie den Personen entsprechen, die wir als Transgender bezeichnen.
Neu aber waren 1952 die Benennung des Empfindens, dem »anderen« Geschlecht anzugehören, mit dem Begriff »Transsexualismus« (Benjamin, 1966) und die operative Angleichung an das »Gegengeschlecht« (außer Harry Benjamin sind als Pioniere der Behandlung von Transgendern John Money und Anke A. Ehrhardt, 1970, vom Johns Hopkins Hospital in Baltimore, und Janice Raymond, 1979, zu nennen). Ich habe die Begriffe »anderes« Geschlecht und »Gegengeschlecht« hier in Anführungszeichen gesetzt, weil diese Formulierungen einer heute nicht mehr aktuellen, einseitig binären Sicht entsprechen. In der Folge sind bis in die Gegenwart in den verschiedensten Ländern tausende solcher Operationen durchgeführt worden.
Bezüglich der Häufigkeit des »transsexuellen Syndroms« bestehen nur vage Schätzungen, weil längst nicht alle Menschen, die sich mit dem ihnen zugewiesenen Geschlecht nicht richtig beschrieben fühlen, fachlichen Rat oder gar eine hormonelle und chirurgische Behandlung suchen. Sigusch (1995) schätzte die Zahl von trans* Personen in Deutschland auf 3.000 bis 6.000 Personen. Hirschauer (1999) vermutete eine ähnliche Häufigkeit, die meines Erachtens jedoch weit unterschätzt ist. Andere Schätzungen (American Psychiatric Association, 1994; van-Kesteren, Gooren u. Megens, 1996; Weitze u. Osburg, 1996) sprechen von Inzidenzraten bei trans* Frauen von 1:11.900 bis 45.000 und bei trans* Männern von 1:30.000 bis 100.000. Aufgrund ihrer jahrzehntelangen Arbeit in der Amsterdamer Gender Clinic und einer...
Erscheint lt. Verlag | 12.8.2024 |
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Verlagsort | Göttingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Genderdysphorie • Genderforschung • Gender Studies • Psychologische Beratung • psychosexuelle Entwicklung • Psychotherapie • Queer • Selbstbestimmungsgesetz • Sexualität • Sexualverhalten • Sexuelle Entwicklung • Sexuelle Identität • Sexuelle Orientierung • Transgender • Transidentität • trans Menschen • Transsexualität • Transsexuellengesetz • TSG |
ISBN-10 | 3-647-99302-6 / 3647993026 |
ISBN-13 | 978-3-647-99302-7 / 9783647993027 |
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