Allgemeine Rettungswissenschaft -  Thomas Prescher

Allgemeine Rettungswissenschaft (eBook)

Sprachen und Signale einer Disziplin
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
198 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-045096-7 (ISBN)
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Die Rettungswissenschaft tritt als eine neue Disziplin an und fordert ihren Platz innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft. Das Buch nimmt eine erkenntnistheoretische Auseinandersetzung mit den aktuellen Entwicklungen vor und trägt so entscheidend zur Identitätsbildung des jungen Faches bei. Es richtet sich an RettungswissenschaftlerInnen und Studierende, die eine tiefere Einsicht und eine kritische Reflexion der theoretischen Grundlagen und der praktischen Herausforderungen der Disziplin suchen. Es wird die Notwendigkeit beleuchtet, über die unmittelbare Anwendung von Wissen in der Notfallversorgung hinauszudenken und die Disziplin in einem breiteren, wissenschaftlich fundierten Rahmen echter Theoriebildung zu betrachten. So geht es darum, der zentralen Frage nachzugehen, was gute Forschung in der Rettungswissenschaft ist, welche Theoriebildungsprobleme identifiziert werden können und wie Wissen und Erkenntnis in dieser Disziplin möglich sind bzw. werden.

Prof. Dr. habil. Thomas Prescher, seit März 2021 Professur für Didaktik in den Gesundheitsberufen, FH Münster. Zuvor Professur für Berufspädagogik in den Gesundheitsberufen an der Wilhelm-Löhe-Hochschule, Fürth.

2 Erkenntnistheoretische Grundlagen: Rettungswissenschaft zwischen Theorie und Praxis sowie Erkenntnis und Wissen


2.1 Rettungswissenschaft zwischen normativen und deskriptiven Aussagen: Theorieverständnis gegen Subjektivität und objektivistischen Schein


Theorieverständnisse lassen sich mit Habermas (1971, S. 146 ff.) historisch in zwei Aspekte unterscheiden: Zum einem wurde Theorie als Ethos angesehen, bei dem sich Erkenntnis auf übergeordnete (kosmologische) Ideen einstellt und sich von einem zu unmittelbaren alltäglichen Lebensweltinteresse löst. Theorie als die Formulierung von Ideen ist dabei in der philosophischen Tradition dennoch lebenspraktisch, als die geordnete Bewegung innerhalb des Kosmos zur Maxime wird. Theorie entspricht hier einem kosmologischen Ideal, das sich dem Philosophen offenbart. Jedoch hat diese Denkweise, die sich in der Antike etabliert hatte, unterschiedliche Brüche, die zu einem anderen Verständnis von Theorie führten. Theorie hat daher zum anderen die Funktion der Kritik, so der Autor (ebd., S. 148 f.), zur »[...] Formierung eines besonnenen und aufgeklärten Habitus [...] eine strukturierte Wirklichkeit in theoretischer Einstellung zu beschreiben«.

Diese Zweiteilung erscheint erkenntnistheoretisch insofern relevant, als das Theoriemodell 1 mit der ethischen Orientierung allzu oft dazu führe, dass Forschung mit einem spezifischen Erkenntnisinteresse und daher normativen Aussagen praktiziert werde. Das Theoriemodell 2 führe demgegenüber im Sinne einer Positivismuskritik in den Fehlschluss, als empirisch-analytischer Zugriff auf die Wirklichkeit mit ihren deskriptiven Aussagen in eine Selbstüberschätzung des erkenntnistheoretischen Aussagegehalts zu münden. Das Problem in diesen Theorieverständnissen kann darin gesehen werden, dass sie einer rein sinnstiftenden Subjektivität folgen und sich vorrangig an Handlungsproblemen der primären Lebenswelt orientieren.

Die Theorieverständnisse sind hinsichtlich ihrer Nutzbarkeit dabei als objektivistisch angelegt, wobei die eigentliche Subjektivität mit einer aufgesetzten wissenschaftlichen Objektivität kaschiert wird. Psychologisch ließe sich hier von Defektkaschierung sprechen, wobei aus dem Auge verloren wird, dass eine Theorie vom eigentlichen Begriffsverständnis her den Anspruch hat »unpraktisch« zu sein, wie der Autor (ebd., S. 151) formuliert. Die Kritik an dem Scheinobjektivismus ist dabei nicht die Infragestellung einer überhaupt praktizierbaren Objektivität, sondern, dass Erkenntnisinteressen verschleiert werden und nicht ins Bewusstsein gelangen. Eine theoretische Aussage, die sich naiv auf einen praktischen Sachverhalt bezieht, kann so als ontologischer Naivismus und Naturalismus (▸ Kap. 4) beschrieben werden. »Sie unterstellt die Beziehung zwischen empirischen Größen, die in theoretischen Aussagen dargestellt werden, als ein An-Sich-Seiendes; zugleich unterschlägt sie den transzendentalen Rahmen, innerhalb dessen sich der Sinn solcher Aussagen erst bildet.« (ebd., S. 155). Die Form wissenschaftlicher Texte und Aussagen nimmt einen objektivistischen Schein ein, der bei näherer erkenntnistheoretischer Betrachtung keinen Bestand hat.

In der Wissenschaftstheorie gibt es die sogenannte »Fehlbarkeitslehre« (Fallibilismus), bei der Popper (1987, S. 44 ff.) den Begriff des klassischen Wissens in Relation zur Wahrheitssuche in der Wissenschaft setzt. Der klassische Wissensbegriff geht davon aus, dass ein Sachverhalt wahr ist. Dies meint, dass eine Gewissheit über den Wahrheitsgehalt vorliegt und dafür hinreichende Gründe angeführt werden können. Problematisch ist daran jedoch das Wissenschaftsverständnis selbst, das der Autor in Anlehnung an Kant, Newton oder Einstein begründet. Problematisch ist, dass Wissen in der Naturwissenschaft nicht aus der Natur heraus extrahiert wird und diese abbildet, sondern dass Wissen als Produkt des Verstandes in Form von Naturgesetzen erfunden wird. Damit wandelt sich der Wissensbegriff, da die zugrundeliegenden Theorien eher Schöpfungen des Verstandes sind. Wissen ist damit nicht mehr wahr, es ist ungewiss und die Gründe wechseln, wenn eine neue Theorie eine alte Theorie ablöst. »Wir müssen uns mit Vermutungswissen begnügen.« (ebd., S. 49).

Der Autor stellt damit nicht die Wissenschaft, insbesondere im Sinne des Positivismus, oder die Erkenntnisfähigkeit in Frage, sondern sieht darin die Notwendigkeit, achtsam gegenüber wissenschaftlichen Dogmen zu sein, die in »Wahrheit« haltlos sind. Er mahnt zu einer wissenschaftlichen Bescheidenheit, Wahrheit nicht als absolut zu sehen. Der Autor fordert zu einer Wissenschaft auf, die kritisch mit sich selbst und ihren Erkenntnissen umgeht. Wissenschaft, so die Schlussfolgerung, ist ein Weg, der darauf abzielt, der Wahrheit näher zu kommen. Jedes Wissen ist zunächst nur als eine Hypothese über die Wirklichkeit anzusehen. Jede Hypothese ist kritisch zu prüfen. Dies braucht ein Verständnis dessen, was Wissenschaft, mithin Rettungswissenschaft, ist.

Kant (1977, [2]) stellte die bewährte Definition dessen, was Wissenschaft ist, zur Verfügung: »Eine jede Lehre, wenn sie ein System, d.i. ein nach Prinzipien geordnetes Ganze der Erkenntnis sein soll, heißt Wissenschaft [...]« Wissenschaft hat demnach bestimmten Kriterien zu folgen:

  • 1.

    Es geht um Erkenntnis.

  • 2.

    Erkenntnis ist dabei nicht willkürlich, sondern begründet, d. h. ihre Aussagen sind wahr.

  • 3.

    Erkenntnis ist dabei keine einzelne Aussage darüber, was reines Wissen wäre. Erkenntnis ist vielmehr als ein Aussagensystem zu verstehen, das im Sinne des geordneten Ganzen gemeinhin als Theorie beschrieben wird.

  • 4.

    Die dafür nötigen Prinzipien beziehen sich dabei auf eine argumentative Aussagenlogik rationaler Sprache und/oder auf methodische Verfahren empirischer Forschung. Dabei gilt jedoch:

»Erkenntnis, die bloß empirische Gewißheit enthalten kann, ist ein nur uneigentlich so genanntes Wissen. Dasjenige Ganze der Erkenntnis, was systematisch ist, kann schon darum Wissenschaft heißen, und, wenn die Verknüpfung der Erkenntnis in diesem System ein Zusammenhang von Gründen und Folgen ist, sogar rationale Wissenschaft. Wenn aber diese Gründe oder Prinzipien in ihr, wie z. B. in der Chemie, doch zuletzt bloß empirisch sind, und die Gesetze, aus denen die gegebenen Facta durch die Vernunft erklärt werden, bloß Erfahrungsgesetze sind, so führen sie kein Bewußtsein ihrer Notwendigkeit bei sich (sind nicht apodiktisch-gewiß) und alsdenn verdient das Ganze in strengem Sinne nicht den Namen einer Wissenschaft [...]« (ebd., [4]).

Eine argumentative Aussagenlogik, Erkenntnis und Erfahrung spielen demnach eine zentrale Rolle in einer wissenschaftstheoretischen Standortbestimmung der Rettungswissenschaft. In der Wissenschaftstheorie werden dazu unterschiedliche Aussagetypen durch Poser (2012, S. 36) unterschieden:

  • 1.

    Erkenntnis aus Erfahrung = Erkenntnis a posteriori

  • 2.

    von Erfahrung unabhängige Erkenntnis = Erkenntnis a priori

Wissenschaft, so die Annahme, enthält Aussagen, die ohne Erfahrungskontrolle im Sinne von Konventionen vorausgesetzt werden. Als Grundannahmen und willkürliche Festsetzungen bestimmen sich die Grundprinzipien des Forschungsinteresses.

»Von besonderem wissenschaftstheoretischen Interesse ist dabei, ob ein apriorischer Anteil der Wissenschaft überhaupt als solcher erkannt ist, und wenn ja, ob etwa ein relatives, also revidierbares Apriori für absolut gehalten wurde [...]« (ebd., S. 37).

Dies lässt sich eindrücklich am Beitrag von Sauerbier und Koch (2021) darstellen, der schon im Titel »Zur Durchführung invasiver heilkundlicher Maßnahmen« das Erkenntnisinteresse und damit das Apriori markiert. Im Beitrag wird sichtbar, dass die im § 2a NotSanG in Aussicht gestellten invasiven Heilmaßnahmen als die einzig sinnvolle Möglichkeit der Notfallversorgung gehandelt werden. Damit dominiert in der Studie eine auf diesen Fakt ausgerichtete Betrachtungsweise und die Auffassung über das Erkenntnisobjekt. Leitend ist dabei die scheinbar »vernünftige« Begründung mit Verweis auf die Gesetzeslage und nicht die Erfahrung. Diese Aussagetypen beinhalten noch eine weitere Fehlerquelle der Erkenntnisgewinnung.

Poser (2012, S. 37) unterscheidet nämlich noch deskriptive und normative Aussagen. Deskriptiv gibt eine Aussage an, wie etwas ist. Normativ gibt eine Aussage an, wie etwas sein soll. Problematisch ist diese Unterscheidung, weil hier faktisches und präfaktisches vermischt werden, d. h. deskriptive und normative Aussagen zur selben Zeit Anwendung finden. So kann deskriptiv festgestellt werden, im Rahmen wie vieler Einsätze gem. § 2a NotSanG invasive heilkundliche Maßnahmen ohne Notarztbeteiligung durchgeführt werden, jedoch geht dies mit einer normativen Vorannahme einher, bei der die beteiligten AkteurInnen einschätzen müssen, dass die Maßnahmen gemäß...

Erscheint lt. Verlag 7.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Pflege
ISBN-10 3-17-045096-4 / 3170450964
ISBN-13 978-3-17-045096-7 / 9783170450967
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