Navigationsinstrumente für gelingende Beratung (eBook)

Sieben Impulse für die Praxis

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
152 Seiten
Vandenhoeck und Ruprecht (Verlag)
978-3-647-99308-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Navigationsinstrumente für gelingende Beratung -  Uwe Michalak
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Je stärker das Beratungshandeln auf eine Prozesskompetenz aufbaut, desto mehr tauchen Verunsicherungen auf. Was tun, um Kurs zu halten, wenn in Beratungen Ambivalenzen auftauchen? Uwe Michalak stellt in diesem Buch sieben nützliche Navigationsinstrumente vor, die sich mit Improvisation, Interventionen, Schlüsselwörtern, Hypothesen, Körpersignalen, Zeitdimensionen und Differenzverträglichkeit beschäftigen. Jedes dieser Instrumente vereint Gegensätze in sich und wird als Spannungsbogen vorgestellt. Mit diesen Reflexions- und Orientierungshilfen im Gepäck driften Sie in Beratungsprozessen souverän und gehen kompetent mit erwartbaren Kurswechseln um. Die Impulse lassen Sie Spannungsverhältnisse in Ihrer Praxis produktiv nutzen und eröffnen Ihnen und Ihren Klient:innen Möglichkeitsräume.

Uwe Michalak, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, ist Supervisor, Coach und Paarberater in eigener Praxis, Geschäftsführer der ask GmbH und langjähriger Dozent des WIST e. V. Münster.

Uwe Michalak, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, ist Supervisor, Coach und Paarberater in eigener Praxis, Geschäftsführer der ask GmbH und langjähriger Dozent des WIST e. V. Münster.

1Über den Nutzen von Differenzen und Spannungsbögen


»Wenn es gelingt, mit theoretischen Konzepten eine neue Sicht auf die bekannte Praxis zu erzeugen, dann erzeugt diese Andersheit eine Differenz, eine produktive Spannung und damit eine Anleitung zum ganz praktischen, situationsangemessenen Handeln.« (Groth, 2017, S.16)

Einen interessanten Blick auf Differenzen ermöglicht das Schema der System-Umwelt-Differenz (Luhmann, 1984). Voneinander abgegrenzt werden darin System und Umwelt. Damit wird eine Differenz erzeugt. Diese Differenz wird als Einheit verstanden. Beide Aspekte gehören zueinander. Man könnte sagen, sie sind die zwei Seiten einer Medaille. Die Zweiseitigkeit stellt ein bedeutsames Kriterium dar. Das System gewinnt an Kontur durch das, was es nicht ist, nämlich die Umwelt – vergleichbar mit einem Fußabdruck im Schnee. Durch den Rand des Abdrucks wird erkennbar, was der Fußabdruck ist und welcher Schnee den Abdruck umgibt. Als Umwelt wird alles mit Ausnahme des Systems selbst betrachtet; jenseits des Systems ist alles Umwelt. Die Umwelt wird nicht als handlungsfähige Größe betrachtet. Die Handlungsfähigkeit schreibt das System sich selbst zu. In der Umwelt des Systems befinden sich zahlreiche andere Systeme, für die das System wiederum zu deren Umwelt zählt. Die Systeme können einander stören. Je nach Systemblick entstehen andere Umwelten mit jeweils anderen Systemen. Die Beobachtung der Welt mit dem Schema System-Umwelt-Differenz erfordert, kenntlich zu machen, von welchem System aus eine Beobachterin was als Umwelt etikettiert (vgl. hierzu Fuchs, 1993).

Gerade der Gedanke, eine Differenz wie die System-Umwelt-Differenz als Einheit zu betrachten, ist ein zentraler Beweggrund dafür, um sich die Gestaltung von Beratungsprozessen mithilfe von Spannungsbögen zu erschließen. Ein Spannungsbogen kennt für gewöhnlich zwei gegensätzliche Pole. Widersteht man der Tendenz, eine solche Spannung möglichst bald aufzulösen, führt die Idee, Spannungsbögen als Einheit zu verstehen, zu aufschlussreichen Ansatzpunkten für das Beratungshandeln.

Differenzen, Unterschiede und Unterscheidungen prägen den Alltag und das Leben eines Menschen. Sie sind beispielsweise mit neuen Wörtern, vielfältigen Sichtweisen, Kontroversen und/oder Konflikten verbunden. Bewusst wie unbewusst begleiten sie ständig die Beratungskommunikation.

Mal angenommen, eine Klientin verfolgt das Anliegen, nebenberuflich eine Selbstständigkeit aufzubauen. Ihre derzeitige Situation ist: Zu ihrer Familie gehören zwei Kleinkinder und ein berufstätiger Partner. Sie selbst ist im Gesundheitsbereich tätig, ihre Arbeit ist fordernd. Der Umzug in eine neue Großstadt liegt erst einige Wochen zurück. Eine zentrale Selbstaussage lautet: »Als ehemalige Leistungssportlerin weiß ich mit solchen Belastungen umzugehen.« Eine Beraterin, die diese Situation für überfordernd hält, könnte äußern: »An Ihrer Stelle wäre ich gestresst. Was sind Ihre Überlegungen, Erfahrungen und Überzeugungen, dass Sie die Selbstständigkeit trotz der beruflichen und familiären Situation meistern können und werden?«

In einem solchen Moment wird eine Differenz erzeugt, die ein Nachdenken anregen will, ohne dabei Lösungen vorzugeben oder kritische Urteile zu fällen.

Der bewusste Blick auf Differenzen und den Umgang damit stehen im Folgenden im Mittelpunkt; er bildet den roten Faden für Impulse im Hinblick auf eine gelingende Beratung. Dafür wird die Frage, wie kontroverse Standpunkte konstruktiv für die eigene Beratungspraxis genutzt werden können, aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Im Wesentlichen geht es um die Reflexion, welche Differenzen auszumachen sind und wie sie für die Beraterin und ihre Handlungsoptionen genutzt werden können.

Spannungsbögen entstehen unter anderem, wenn Vorstellungen aus unterschiedlichen Beratungsschulen über ein sinnvolles Beraterinnenverhalten bzw. charakteristische Hinweise für eine Gesprächsgestaltung gegenübergestellt werden. Die sich daraus ergebenden Differenzen zeigen in der Regel einen Weg auf, das eigene Kompetenzprofil auszubauen. Sich mit Techniken aus verschiedenen Beratungsansätzen zu beschäftigen, erlaubt, über den Tellerrand eines Beratungsansatzes zu schauen und dabei auf interessante Konzepte zu stoßen. Die Beschäftigung zeigt Schritte auf, den persönlichen Beratungsstil zu verbessern, ihn neu auszuloten bzw. zu fundieren, um eine Entwicklung von einer konfessionellen (beratungsschulenspezifischen) zu einer professionellen Haltung anzustoßen (vgl. Grawe, Donati u. Bernauer, 1994).

Bei der Denk- und Vorgehensweise des klientenzentrierten Ansatzes nach Rogers (1991) wurde ein Konzept vermittelt, dass a) die Basisvariablen Akzeptanz, Empathie und Kongruenz als eine auf die Weltsicht der Klientin hin ausgerichtete Haltung darstellte und b) das Vorgehen der Beraterin stark auf das Verbalisieren und Paraphrasieren der Klientinnenäußerungen fokussierte. Das Stellen von Fragen wurde dabei als Reaktion ausgeschlossen. Wohl wurde eine fragende Modulation der Stimme beim Verbalisieren empfohlen. Auch wurden mit dem Satz »Ratschläge sind Schläge« Anregungen ausgeklammert. Werden solche Annahmen bzw. Erfahrungen zur Norm oder zum Verbotsschild erhoben, schränken sie die Profilierung der Beraterin ein. An dieser Stelle sei an Lilly Kemmler, eine Lehrstuhlinhaberin für klinische Psychologie, erinnert, die in ihren Vorlesungen hervorhob, dass erfahrene Beraterinnen aus unterschiedlichen Ansätzen sich in ihrem Vorgehen ähnelten, wohingegen Anfängerinnen sich stark voneinander unterschieden.

Unterschiede sind alltäglich. Dazu ein kleines und einfaches Beispiel: In einer Erziehungsberatungsstelle wollen sich bei Arbeitsbeginn zwei Mitarbeiterinnen zu einer Intervision verabreden und tauschen sich deshalb kurz darüber aus, welche Aufgaben für sie jeweils an diesem Arbeitstag anstehen, um eine Zeit für ein Treffen zu vereinbaren. Eine der Kolleginnen resümiert anhand ihres Kalenders laut: »Gleich habe ich zwei Einzelgespräche und einen längeren Diagnostiktermin. Im Nachmittagsbereich steht eine Familien- und eine Paarberatung an. Dazwischen habe ich Zeit für eine Intervision.« Die andere Kollegin schaut daraufhin in ihren Kalender und äußert: »Heute Nachmittag stehen für mich zwei Beratungen an, eine davon telefonisch. Bei mir passt eine Intervision gegen 15:30 Uhr.«

In dieser kurzen Szene werden mehrere Unterschiede benannt. Das ist zunächst die Unterscheidung von Tageszeiten und im nächsten Schritt die zwischen Aufgaben und Settings. Eine Person spricht allgemein von Beratungen und bezeichnet in diesem Zusammenhang eine davon als telefonische Beratung; unausgesprochen wird mitgedacht, dass die andere Beratung in Präsenz stattfindet – denkbar wäre ebenfalls ein Videogespräch. Die andere Person differenziert zwischen Einzelgesprächen, Paar- und Familienberatung und Diagnostik. Hiervon kann wiederum die Intervision abgegrenzt werden – verstanden als fachliches Gespräch unter Kolleginnen über einen Fall.

Das kleine Gedankenspiel zeigt auf, dass mit jedem Wort und seinem Kontext ständig Unterschiede erzeugt werden – auch darüber, worüber explizit und worüber nicht geredet wird. Je nach Beobachtungsstandpunkt sind die aufgelisteten Differenzierungen nicht oder nur teilweise relevant. Im Hinblick auf das gemeinsame Anliegen, einen Termin zu finden, spielen sie eine untergeordnete Rolle. Bezogen auf das fachliche Selbstverständnis der Beraterinnen könnten sie hingegen interessant sein.

Unterschiedsbildungen sind allgegenwärtig, aber nicht immer bewusst. Sie erlauben, Gegenstände voneinander abzugrenzen. Ein Alltagsbeispiel dazu: Wie lange wird ein Gegenstand als Tasse betrachtet, wann als Becher oder Pott und wann als Krug? Welche Feinheiten tragen dazu bei, den Gegenstand mit genau der Bezeichnung A und wann aber mit einer Bezeichnung B zu versehen? Im Kontakt mit Klientinnen und bei der Beschreibung ihrer Lebenssituationen laufen ähnliche Phänomene ab. Was führt dazu, dass eine Klientin als traurig, trauernd, melancholisch, resigniert oder depressiv beschrieben wird? Was geschieht in den Köpfen der Kolleginnen, die in einer Fallbesprechung hören, dass die Klientin depressiv erscheint? Fragen sie sich, ob es sich um eine Diagnose handelt und wer sie vorgenommen hat? Wollen sie wissen, welche Symptome des Störungsbildes »Depression« die Klientin zeigt? Sind sie geneigt zu fragen, ob die Klientin eine Neigung zu suizidalen Absichten zeigt? Oder interessiert sie, wer diese Beschreibung verfasst hat? Hat die fallzuständige Kollegin sie übernommen oder ist sie selbst zu dieser Einschätzung gekommen? Wie würde die Klientin sich selbst beschreiben? Wie würde ihre Umgebung über sie berichten?

Fallskizze. Eine Mutter, die in einer psychotherapeutischen Praxis für Kinder und Jugendliche tätig ist, stellt ihre...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2024
Zusatzinfo mit Illustrationen von Patrick Schoden
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Beratung • Beratungsmethoden • Beratungspraxis • Coaching • Supervision
ISBN-10 3-647-99308-5 / 3647993085
ISBN-13 978-3-647-99308-9 / 9783647993089
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