Vertrauen und Vertrautheit in Organisationen (eBook)
96 Seiten
Vandenhoeck und Ruprecht (Verlag)
978-3-647-99301-0 (ISBN)
Prof. Dr. (phil.) Olaf Geramanis, Diplom-Pädagoge, ist seit 2004 Dozent an der Hochschule für Soziale Arbeit (FHNW) in Muttenz (CH) sowie Coach, Supervisor, Organisationsberater (BSO) und ausbildungsberechtigter Trainer für Gruppendynamik (DGGO). Zudem ist er in der Weiterbildungs- und Dienstleistungsbranche in den Bereichen Beratung, Coaching, Teamentwicklung und Organisationsberatung tätig. Als Studienleiter verantwortet er den Master of Advanced Studies Change und Organisationsdynamik an der FHNW Muttenz (www.organisationsdynamik.ch).
Prof. Dr. (phil.) Olaf Geramanis, Diplom-Pädagoge, ist seit 2004 Dozent an der Hochschule für Soziale Arbeit (FHNW) in Muttenz (CH) sowie Coach, Supervisor, Organisationsberater (BSO) und ausbildungsberechtigter Trainer für Gruppendynamik (DGGO). Zudem ist er in der Weiterbildungs- und Dienstleistungsbranche in den Bereichen Beratung, Coaching, Teamentwicklung und Organisationsberatung tätig. Als Studienleiter verantwortet er den Master of Advanced Studies Change und Organisationsdynamik an der FHNW Muttenz (www.organisationsdynamik.ch).
»Vieles hätte ich verstanden, wenn man es mir nicht
erklärt hätte.« (Lec 1957, S. 47)
In den alltäglichen Vorstellungen hat Vertrauen viele Facetten, äußerst bekannt ist der Lenin zugeschriebene Satz: »Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser.« Ebenso gilt, dass man sich Vertrauen erarbeiten oder verdienen muss, zugleich kann es einem von anderen Menschen geschenkt oder geliehen werden. Vertrauen kann man wieder verlieren, es kann verspielt oder einem entzogen werden. Man kann sich des Vertrauens würdig oder auch unwürdig erweisen. Man kann sich dazu entschließen, jemandem zu vertrauen oder man kann sich einander sehr vertraut fühlen. Und bei all dem gilt es zu beachten, dass Vertrauen eine riskante Entscheidung ist, bei der immer etwas auf dem Spiel steht, das verloren gehen kann.
Es ist kein leichtes Unterfangen, zu einem so komplexen und zugleich vertrauten Thema wie Vertrauen etwas sagen zu wollen. Vertrauen ist nicht mehr und nicht weniger als der Grund und Ursprung unseres Zusammenlebens: Zusammenarbeit, Beziehung, Partnerschaft, Freundschaft, Liebe – all das wäre ohne Vertrauen undenkbar. Wenn kooperatives Handeln so offensichtlich Vorteile bringt, wäre es doch widersinnig, nicht zu kooperieren. Und weil das so einleuchtend scheint, ist die Suche nach Vertrauen eher von dem Glauben geleitet, dass Menschen wirklich einander vertrauen wollen, als analytisch nach dem Für und Wider zu suchen.
Zu Beginn möchte ich zwei Begebenheiten schildern, die für mich den Zugang zum Thema Vertrauen beschreiben: Meine erste wissenschaftliche Begegnung mit Vertrauen hatte ich im Studium 1992, als wir James Coleman gelesen haben. Für ihn ist Vertrauen eine rationale Strategie: Ich gehe das Risiko, meinem Gegenüber zu vertrauen, dann ein, wenn ich dessen Interessen richtig einzuschätzen weiß. Die Formel, die Coleman dazu entwickelt, lautet: Vertrauen wird dann gegeben, wenn das Verhältnis zwischen der Wahrscheinlichkeit der Vertrauenswürdigkeit und -unwürdigkeit größer ist als der Quotient aus zu erwartendem Verlust und zu erwartendem Gewinn (vgl. Coleman 1991, S. 126). Meine Haltung zu dieser Formel war »ambivalent«. Nachdem ich die Formel »decodiert« hatte, fand ich die Idee, die Entscheidung meinem Gegenüber zu vertrauen oder nicht, einfach an eine mathematische Gleichung zu delegieren, großartig. Zugleich fehlte mir etwas Wesentliches, weil bei einem derart rationalen Vorgehen, die soziale und emotionale Dimension des Vertrauens völlig unterbelichtet bleibt.
Die zweite Begegnung fand vor nicht allzu langer Zeit in einer Bank statt. Wir wollten ein neues Konto eröffnen und bei Kaffee und Gebäck fing die Bankberaterin ausgiebig an, über sich zu erzählen: Zunächst teilte sie uns ihren beruflichen Werdegang mit, um dann mit dem Satz »… und jetzt erzähle ich Ihnen noch etwas Privates von mir« von ihren Kindern, ihrem Haus in Frankreich und ihrem Garten zu berichten, in dem sie gerne zur Erholung arbeitete. Am Ende der Erzählung waren wir etwas irritiert und fragten uns, ob wir nun unsererseits einer vollkommen fremden Frau unsere Lebensgeschichte und unsere Hobbys erzählen sollten.
Vertrauen ist eine Situation doppelter Kontingenz
Im vorliegenden Buch geht es um die Frage, unter welchen Bedingungen eine Person willens und bereit ist, das Risko einzugehen einer anderen Person zu vertrauen, obwohl – und das ist das zentrale Moment des Vertrauens – die andere Person stets Möglichkeit und Anreiz zum Vertrauensbruch hat. Es geht um »personales Beziehungsvertrauen« und die Unsicherheiten und Unwägbarkeiten, die sich daraus ergeben. In einer solchen Situation sind die beteiligten Personen mit dem konfrontiert, was Luhmann als »doppelt kontingent« bezeichnet:
Alles auf andere Menschen bezogene Erleben und Handeln ist darin doppelt kontingent, dass es nicht nur von mir, sondern auch vom anderen Menschen abhängt, den ich als alter ego, das heißt als ebenso frei und ebenso launisch wie mich selbst begreifen muss (1972, S. 62 f.).
Das eigene Handeln ist davon abhängig, wie sich das Gegenüber verhält, und das Verhalten des Gegenübers ist davon abhängig, wie man selbst sich verhält. Von Vertrauen soll fortan dann gesprochen werden, wenn zwischen zwei Personen diese Interdependenzen ablaufen: Die Person, die Vertrauen gibt (Treugeber) und die Person, die das Vertrauen nimmt (Treuhänder), stehen in einer wechselseitigen Abhängigkeit. Der Vertrauensgeber hofft, dass er seine Entscheidung nicht bereuen wird, obwohl er sich auch dagegen hätte entscheiden können (einfache Kontingenz), die Vertrauensnehmerin weiß, dass für den Vertrauensgeber etwas auf dem Spiel steht, und hat die Option, dem Vertrauen gerecht zu werden oder das Vertrauen zu enttäuschen und auszunutzen (doppelte Kontingenz).
Fallbeispiel: Kinderwunsch und Karriere
Frau Rot ist eine junge weibliche Führungskraft. Sie ist hochintelligent, engagiert, erfolgreich, empathisch. Sie wünscht sich ein Kind, aber sie spürt, dass das nicht leicht wird: Ihr Job ist schon sehr herausfordernd und dann noch die Doppelbelastung. Wird es ein Sowohl-als-auch oder ein Entweder-oder? Weil der nächste Karriereschritt bald ansteht und ihr Transparenz sehr wichtig ist, zieht sie ihre Vorgesetzte Frau Blau ins Vertrauen.
Diese typische Vertrauenssituation ist von zwei Merkmalen gekennzeichnet:
(1) Die Vertrauensvergabe ebenso wie die Honorierung des Vertrauens sind freiwillige Entscheidungen, die für beide Personen in irgendeiner Form vorteilhaft sind.
Niemand kann Frau Rot bei der Arbeit zwingen, ihren Kinderwunsch oder jedwede Zukunftsplanung öffentlich zu machen, dennoch bringt es ihr Vorteile, wenn sie auf das Verständnis und die Unterstützung durch ihre Vorgesetzte hoffen kann. Auch Frau Blau muss Frau Rot nicht zwingend bei dieser Angelegenheit unterstützen. Sie könnte auch sagen: »Das ist Ihre Privatangelegenheit, das müssen Sie selbst entscheiden.« Zugleich profitiert sie aber davon, da sie nicht irgendwann vor vollendete Tatsachen gestellt wird, sondern die Zukunft der Zusammenarbeit und die Personalplanung aktiv mitgestalten kann.
(2) Die Person (Treugeber), die einer anderen Person (Treuhänder) vertraut, geht immer ein Risiko ein, da die Treuhänderin auch egoistisch-opportunistisch handeln könnte.
Das Risiko für Frau Rot ist offensichtlich: Solange man sich als Frau solche Gedanken überhaupt machen muss und sich nicht einfach darauf verlassen kann, dass die Unterstützungssysteme funktionieren, so lange kann sie nicht sicher sein, ob ihre Vorgesetzte positiv damit umgeht oder ob sie Nachteile dadurch erleiden wird (einfache Kontingenz). Die Vorgesetzte ihrerseits kann sich dem Vertrauen »würdig erweisen« oder sie kann dies zum Anlass nehmen, das Vertrauen zu missbrauchen, indem sie »rechtzeitig« eine andere Person als Nachfolgerin aufbaut (doppelte Kontingenz).
Das im Folgenden dargestellte Vertrauensmodell ist in erster Linie ein soziologisches, genauer gesagt, ein handlungstheoretisches Modell. Es geht um »personales Vertrauen« innerhalb von Zweierbeziehungen sowohl in privaten als auch in Arbeitskontexten. Es wird modellhaft untersucht, wie gegenseitige Erwartungen entstehen, ob und wie diese Erwartungen wahrgenommen werden und auf welche Art und Weise die Personen darauf reagieren. Aufgrund dieser Fokussierung werden folgende Aspekte ausgeklammert:
(1) Psychologischer Fokus: Sicherlich sind manche Menschen risikofreudiger als andere, ebenso kann es sein, dass bestimmte Menschen aufgrund von Traumatisierungen nicht in der Lage sind zu vertrauen. Diesen individualpsychologischen Fragestellungen wird nicht nachgegangen.
(2) Vertrauen ist weder Hoffnung noch Zuversicht: Unter Zuversicht wird eine Art Schicksalsergebenheit mit der Hoffnung auf ein gutes Ende verstanden. Ohne diese Zuversicht könnten wir nicht leben, weil uns das Bewusstsein über die unzähligen Möglichkeiten des Scheiterns lähmen würde. Daher sind wir zuversichtlich, dass die Sonne aufgeht, dass vorbeifahrende Fahrzeuge nicht aus der Bahn geschleudert werden, und dass sich die Kollegenschaft auch heute angemessen verhält. Bei all dem liegt keine ernsthafte Prüfung von Alternativen vor. Man hofft darauf, dass die Erwartungen nicht enttäuscht werden, und falls doch, wird es äußeren Umständen zugeschrieben. Auf ein gutes Ende hoffen oder zuversichtlich auf andere Menschen zugehen, stellt insofern keine Vertrauensbeziehung in doppelt kontingentem Sinne dar. Ob ich zuversichtlich bin oder nicht, nimmt keinen Einfluss darauf, dass die Sonne aufgeht, das entgegenkommende Fahrzeug plötzlich die Fahrbahn wechselt oder sich die Kollegenschaft kollektiv anders verhält.
(3) Staaten, Gesellschaften oder Organisationen kann man nicht vertrauen: Dieser Punkt ist nicht ganz so leicht und eindeutig zu beschreiben, wie die beiden vorigen. Der Dreh- und Angelpunkt liegt darin, inwiefern sich Organisationen ihren Mitgliedern gegenüber oder Staaten sich zueinander...
Erscheint lt. Verlag | 11.3.2024 |
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Reihe/Serie | Beraten in der Arbeitswelt |
Zusatzinfo | mit 9 Abb. und 2 Tab. |
Verlagsort | Göttingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Beratung • Coaching • Kontrolle • Misstrauen • Supervision • Verlässlichkeit • Vertrauen • Vertrauenskultur • Vertrauenswürdigkeit • Vertrautheit • Zuverlässigkeit |
ISBN-10 | 3-647-99301-8 / 3647993018 |
ISBN-13 | 978-3-647-99301-0 / 9783647993010 |
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Größe: 1,3 MB
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