Psychiatrie als Beziehungsmedizin -  Thomas Fuchs

Psychiatrie als Beziehungsmedizin (eBook)

Ein ökologisches Paradigma

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
224 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-036847-7 (ISBN)
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Der Psychiatrie und der psychosozialen Medizin insgesamt fehlt erkennbar ein integratives Paradigma, das in der Lage wäre, phänomenologische, neurobiologische, psychodynamische und sozialpsychiatrische Ansätze zu einer übergreifenden Konzeption psychischer Störungen zu verknüpfen. Das häufig herangezogene biopsychosoziale Modell ist dringend revisionsbedürftig, da es die neueren kognitionswissenschaftlichen Theorien des Embodiment und des Enaktivismus nicht mehr aufgegriffen hat. Auf der Basis des Verkörperungsparadigmas und des Gehirns als Beziehungsorgan entwirft der Autor eine ökologische Konzeption, die die Psychiatrie als Beziehungsmedizin neu begründet: als die Wissenschaft und Praxis von biologischen, psychischen und sozialen Beziehungen, ihren Störungen und ihrer Behandlung.

Prof. Dr. med. Dr. phil. Thomas Fuchs, Psychiater und Philosoph, ist Karl-Jaspers-Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg.

Prof. Dr. med. Dr. phil. Thomas Fuchs, Psychiater und Philosoph, ist Karl-Jaspers-Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg.

Vorwort


Seit ihrer Entstehung um 1800 bewegt sich die Psychiatrie in dem Spannungsfeld zwischen subjektorientierter Erlebenswissenschaft einerseits und objektivierender Neurowissenschaft andererseits. Dieser Dualismus schien lange Zeit überwunden durch einen Naturalismus, der subjektives Erleben und Leiden mit neuronalen Prozessen gleichsetzte – gemäß dem Leitsatz: »Psychische Krankheiten sind Gehirnkrankheiten« (Insel & Wang 2010). Das biomedizinische Forschungsprogramm versuchte demgemäß, psychische Störungen letztlich auf genetische und neuronale Ursachen zurückzuführen.

Dieses immer noch dominierende reduktionistische Modell hat im letzten Jahrzehnt allerdings zunehmend an Überzeugungskraft eingebüßt, da es trotz aller Versprechen kaum diagnostisch oder therapeutisch relevante Ergebnisse zutage fördern konnte. Ja, man kann heute durchaus von einer Krise der Psychiatrie als Wissenschaft sprechen, für die es verschiedene Anzeichen gibt:

  • Die theoretischen Grundlagen des Fachs ebenso wie seine Abgrenzung von benachbarten Disziplinen sind fraglich geworden, von der Psychologie und Psychosomatik auf der einen Seite, der Neurobiologie und Neurologie auf der anderen Seite.

  • Die traditionelle psychiatrische Nosologie wird mehr und mehr in Frage gestellt: Zum einen fordert die biologische Psychiatrie eine gänzlich neue Diagnostik nach funktionellen Störungsdomänen, die sich den molekularen und Bildgebungstechniken besser zuordnen lassen. Zum anderen treten dimensionale Klassifikationen zunehmend an die Stelle der bisherigen kategorialen Krankheitseinteilung.

  • Die wissenschaftliche psychiatrische Forschung wird zunehmend als für die Praxis und Klinik irrelevant kritisiert. Die dominierenden reduktionistischen Forschungsansätze, so die Kritik, seien kaum in der Lage, der Vielfalt menschlichen Erlebens, den biographischen und sozialen Kontexten psychischen Leidens gerecht zu werden. Damit böten sie insbesondere für die psychotherapeutische Behandlung wenig Orientierung.

  • Nicht zuletzt erscheint das Fach vielen Medizinstudenten heute als eine unattraktive Berufswahl, und immer mehr Kliniken haben erhebliche Rekrutierungsprobleme.

Vieles spricht also dafür, dass sich die Psychiatrie in einer grundlegenden Krise ihres Selbstverständnisses, ihrer Identität und ihrer theoretischen Grundlagen befindet. In dieser Lage erscheint es besonders prekär, dass sie über kein Paradigma verfügt, das in der Lage wäre, die unterschiedlichen theoretischen und praktischen Ansätze zu integrieren, die zur Beschreibung, Erklärung und Behandlung psychischer Störungen entwickelt wurden. Ohne eine solche gemeinsame Grundlage können die genannten zentrifugalen Tendenzen zur Zerreißprobe für das Fach werden und womöglich sogar zu seinem Zerfall führen.

Dieses Buch hat zum Ziel, eine theoretische Grundlage für die Psychiatrie des 21. Jahrhunderts zu entwickeln. Dies geschieht vor allem auf der Basis von

  • aktuellen Theorien der Verkörperung und des Enaktivismus (embodied and enactive cognition),

  • Konzepten der phänomenologischen Psychopathologie, und

  • ökologisch-systemischen Ansätzen der Psychologie und Psychotherapie.

Bei allen Unterschieden ist diesen Ansätzen gemeinsam, dass sie die Psyche nicht als eine Innenwelt ansehen, die im Gehirn erzeugt wird, sondern als verkörperte Subjektivität in Beziehung zur Welt. Für psychische Störungen bedeutet dies, dass sie sich nicht auf neuronale Dysfunktionen reduzieren lassen, sondern gleichermaßen das organische Leben, das Selbstverhältnis und die intersubjektiven Beziehungen der Person betreffen. Die Zielsetzung des Buchs ist daher, ein Paradigma vorzustellen, das die Psychiatrie als Beziehungsmedizin im umfassenden Sinn begründen kann: als die Wissenschaft und Praxis von biologischen, psychischen und sozialen Beziehungen, ihren Störungen und ihrer Behandlung.

Im Folgenden gebe ich den Gang der Darstellung in Grundzügen wieder:

Kapitel 1 begründet das Erfordernis eines neuen Paradigmas für die Psychiatrie des 21. Jahrhunderts. Wie bereits erwähnt, hat das biomedizinische oder reduktionistische Modell psychischer Störungen zunehmend an Überzeugungskraft eingebüßt, da es für die klinische Praxis und die Verbesserung der Versorgung psychisch Kranker kaum eine Rolle spielt. Auf der anderen Seite hat das klassische biopsychosoziale Modell (Engel 1977) über seinen programmatischen Charakter hinaus bis heute keine überzeugende Ausarbeitung erfahren. Aus der Diskussion der beiden Modelle ergeben sich die Anforderungen, denen ein neues Paradigma genügen sollte. Sie bestehen (1) in der Anerkennung der zentralen Rolle der Subjektivität; (2) in der Überwindung des Dualismus ebenso wie des Epiphänomenalismus, und (3) in der Anerkennung eines explanatorischen Pluralismus.

Kapitel 2 stellt die Konzeption der verkörperten und enaktiven Kognition vor, die diese Anforderungen erfüllt und als Grundlage für ein neues Paradigma der Psychiatrie dienen kann. Die Konzeption beruht in hohem Maß auf der Biologie von Organismen bzw. lebendigen Systemen in ihrer Interaktion mit der Umwelt, die in sensomotorischen Funktionskreisen verläuft: Kognition ist danach in erster Linie an den beweglichen Körper gebunden. Im englischen Sprachraum wird die Konzeption häufig auch als »5E cognition« apostrophiert, wobei die fünf »E's« für ihre wesentlichen Charakteristika stehen: Verkörperung (embodied), Handlungsbezogenheit (enactive), Ausdehnung der Kognition und des Geistes in die Umwelt (extended), Einbettung in die soziokulturelle Sphäre (embedded) und Emotionalität (emotive). Seitenblicke auf die Psychopathologie verdeutlichen bereits in diesem Kapitel, inwiefern diese Konzeption auch ein verkörpertes und ökologisches Verständnis von psychischem Kranksein begründen kann.

Kapitel 3 untersucht den grundlegenden Zusammenhang zwischen der biologischen Organisation von Lebewesen und der verkörperten Subjektivität des Individuums. Zunächst stellt es das Prinzip der Selbstorganisation als Verhältnis des lebendigen Ganzen zu seinen Komponenten vor. Sodann geht es um die Frage, wie dieses Ganze als Grundlage für Subjektivität gedacht werden kann; dabei spielt die Integration des Organismus durch das Gehirn eine zentrale, wenn auch keineswegs die alleinige Rolle. Dies führt weiter zur Konzeption eines Doppelaspekts von Leib und Körper, unter dem das Lebewesen erscheint, und der an die Stelle des klassischen Leib-Seele- bzw. Gehirn-Geist-Dualismus tritt. Besondere Aufmerksamkeit gilt schließlich der zirkulären Kausalität des Lebendigen: Sie erlaubt es, Subjektivität als ein real wirksames Prinzip aufzufassen und damit der Gefahr des Epiphänomenalismus zu entgehen, wonach subjektives Erleben nur eine folgenlose Begleiterscheinung von Hirnprozessen wäre.

Kapitel 4 betrachtet, in Analogie zur Organismus-Umwelt-Beziehung, die verkörperten Beziehungen der Person zu ihrer sozialen Umwelt. Eine solche Ökologie der Person beruht primär auf der Zwischenleiblichkeit oder der leiblichen Kommunikation mit anderen, wie sie sich von früher Kindheit an entwickelt. Diese verkörperte Intersubjektivität erweitert sich zum Lebensraum der Person, d. h. der physischen und sozialen Umwelt, mit der sie in Beziehungen steht. Die Person gestaltet ihren Lebensraum durch ihr »beantwortetes Wirken« (Willi 1996), nämlich durch Prozesse und Erfahrungen der sozialen Resonanz, in denen sie ihre Beziehungsbedürfnisse realisiert und ihre Potenziale entfaltet. Diese Konzeption führt weiter zu einer ökologischen Psychopathologie, die psychisches Kranksein grundsätzlich als Störung der zwischenleiblichen und sozialen Existenz auffasst und verschiedenen Einschränkungen des Lebensraums zuordnet.

Aufbauend auf die Konzeptionen der Kapitel 2 – 4 entwickelt Kapitel 5 ein integrales ökologisches Paradigma für die Psychiatrie. Ihm zugrunde liegt ein Modell hierarchisch gestaffelter Systeme auf zunehmend höheren Ebenen, wobei die übergeordneten Systeme (z. B. der Organismus) die jeweiligen Subsysteme (z. B. Zellen) als Komponenten in sich enthalten. Zwischen den Ebenen besteht eine vertikale zirkuläre Kausalität, d. h., die übergeordneten Systeme werden einerseits durch ihre Komponenten realisiert (»Aufwärtskausalität«), sie ordnen und strukturieren andererseits das Verhalten der Komponenten (»Abwärtskausalität«). Zwischen den Komponenten eines Systems wiederum bestehen horizontale zirkuläre Beziehungen bzw. eine horizontale...

Erscheint lt. Verlag 8.11.2023
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Bewusstsein • Gehirn • Körper • Neurowissenschaften • Psychische Störungen
ISBN-10 3-17-036847-8 / 3170368478
ISBN-13 978-3-17-036847-7 / 9783170368477
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