Ein Lebensversuch mit Demenz (eBook)
226 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-043512-4 (ISBN)
Prof. Dr. phil. Gerd Steffens hat am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel gelehrt und war zuvor Lehrer. Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs, Heidelberg.
Prof. Dr. phil. Gerd Steffens hat am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel gelehrt und war zuvor Lehrer. Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs, Heidelberg.
Vorwort
Wir hatten schon etliche Jahre mit diesem ungebetenen Hausgast gelebt, bevor ich begann, über unser Leben mit der Demenz meiner Frau zu schreiben. Lange hatten wir ihn nicht zur Kenntnis genommen, als sei sein Räuspern nur ein Knarren der Tür, nichts Beunruhigendes in der fortdauernden Normalität unseres Lebens. Als er lauter wurde, entwickelten wir Techniken des Überspielens, jeder auf seine Weise. Doch wiesen K.s Versuche, zu verbergen, was ihr an ihr selbst fremd wurde, nur umso stärker auf das Befremdliche hin. Und mein Ausweg, mir als vorübergehend zu erklären, was mich doch immer wieder erschreckte, führte von Mal zu Mal ins Leere. Der ungebetene Hausgast hatte die Regie unseres Lebens übernommen.
Als ich mir das eingestand, wurde klar: Ich musste lernen, auf eine andere Weise mit K.s Demenz umzugehen, als sie mal genervt, mal gelassen zu ertragen. Ob Schreiben dabei helfen könnte, besser zu sehen, vielleicht zu verstehen, wie die Demenz unser Leben veränderte? Und welche Spielräume für einen Alltag blieben, in dem wir beide weiterleben könnten? Wenn ich nicht nur Mit-Leidender und Mit-Handelnder in einer unentrinnbaren Geschichte wäre, sondern zugleich deren Beobachter? Ich würde zumindest versuchen, auch von außen auf das zu blicken, was ihr, uns und mir geschah.
Was als ein verzweifelter Griff nach einem Haltepunkt begann, hat sich in zahlreichen Tagebucheinträgen niedergeschlagen. Ich lese sie heute als einen dokumentierenden Bericht über unseren »Lebensversuch mit Demenz«. Die Einträge gehen fast immer von konkreten Beobachtungen aus und versuchen, an ihnen etwas zu verstehen. Oft sind es rätselhafte Verhaltensweisen oder Reden, Verstörungen in Raum und Zeit, an denen sie anknüpfen. Oder Verwirrungen über Identitäten oder überschießende Gefühle und heftige Auftritte.
Nach und nach veränderte sich, so merkte ich bald, mein Blick. Zuerst hatte er auf K. wie auf ein Objekt geschaut, dessen rätselhafte Bewegungen es zu registrieren galt, damit ich besser auf sie reagieren könnte, ihnen vielleicht ausweichen oder sie einbeziehen könnte. Doch je deutlicher ich bemerkte, dass K.s rätselhafte Äußerungen und Verhaltensweisen, auch wenn sie wie Eruptionen einer unverstehbaren Welt wirkten, an mich gerichtet waren, K. mir also etwas sagen wollte, desto nachdrücklicher fragte ich mich: War da nicht doch – entgegen verbreiteten Meinungen über Demenz – ein Selbst, das sich erhalten wollte und um sein Überleben kämpfte? Eine Person, die sich gegen ihr Entschwinden stemmte? Ich begann, auf die Hilferufe dieses Selbst zu achten, verstand nun, dass ich es dort abholen sollte, wo es sich in Raum oder Zeit verloren hatte oder wo K. sich in der Geschichte ihres Lebens nicht mehr auskannte. Klar, ihre endlos sich wiederholenden Fragen dokumentierten einen erschreckenden Gedächtnisverlust – doch waren sie nicht auch der verzweifelte Versuch, sich selbst in der Welt festzuhalten, auch wenn es nur mehr die kleine Welt der unmittelbaren Umgebung war?
K.s »dementes Selbst«, wie ich es für mich nannte, wurde nach und nach, darüber berichten die Tagebucheinträge, zu einem Schlüssel. Durch ihn verstand ich sie selbst, ihre oft rätselhaften Aktionen, ihre Krankheit und deren Erscheinungsweisen besser. Aber auch mich selber und wie ich mit ihrer Krankheit und unserem Leben umgehen könnte. Und für K. muss meine Aufmerksamkeit auf ihr beschädigtes Selbst wie eine Befreiung gewirkt haben. Denn nun sprach sie wieder von sich und schaute auf uns. Sie lebte wieder in einem geteilten Horizont. Auch wenn es nur der Horizont einer schmalen Welt des Hier und Jetzt war, immer vom Zusammenbruch bedroht, doch immer wiederherstellbar, sogar noch in K.s letzten Tagen.
K.s unerwarteter Tod im Mai 2020 hat mich im Gefühl einer ungewöhnlichen Erfahrung zurückgelassen. Für uns beide hatte sich ein Stück geteilten Lebens wiederhergestellt, ein Winkel der Gemeinsamkeit, in den K. aus allen Turbulenzen und Verwirrungen zurückkehrte, in welche die Demenz sie und uns stürzte. Selbst bei einer so schweren Demenz konnte ein Lebensgleichgewicht gefunden werden, in dem beide sich spürten und gut fühlten. Wie war es dazu gekommen? Wie hatte nach hoffnungsloser Entfremdung ein wieder geteilter Horizont entstehen können, warum hatte sich der Vorhang, der unsere Welten getrennt hatte, wenigstens ein Stück weit wieder gehoben?
Als ich meine Notizen später im Zusammenhang las, sah ich die Spuren unseres Wegs deutlich. Trotz der abrupten Wendungen, totalen Orientierungsverluste, Stürzen in Abgründe des Vergessens, die die Demenz erzwang, kamen die beiden Spuren immer wieder zusammen. Und beide, die da gegangen waren, hatten dazu beigetragen. K. durch ihre Resonanzbedürfnisse, deren Anrufe ich zu vernehmen lernte. Ich selbst, indem ich beobachtete und nachdachte, um auch im zunächst Unverstehbaren eine Mitteilung, eine an mich gerichtete Botschaft zu finden und K.s Blick auf ein gemeinsames Sichtfeld zu erkennen.
Ob diese Erkundungen im unwegsamen Gelände der Demenz, die mir so sehr geholfen haben, auch anderen hilfreich sein könnten? Vertraute Menschen, die die Notizen lasen, sahen das so, und auch die, die von weiter her davon gehört hatten und aus Interesse am Umgang mit Demenz gelesen hatten. Dann aber, wenn sie auch für andere sein sollten, brauchten die Tagebucheinträge, die die letzten zweieinhalb Jahre unseres Lebens protokolliert hatten, eine Einbettung in die Geschichte unseres Lebens.
Deshalb erzählt das einleitende Kapitel, wie die Demenz in unser Leben kam und seine selbstverständlichen Gewissheiten nach und nach zerstörte. Demenz ist ja nicht nur eine neurologische Erscheinung, sondern auch eine soziale Krankheit. Sie trennt die Erkrankten Schritt für Schritt von den Gewissheiten, an denen unser Leben mit den anderen hängt. Und so wenig die Erkrankten durchschauen können, was da mit ihnen geschieht, so wenig können ihre Nächsten die Merkwürdigkeiten einordnen, die zunächst nur gelegentlich vorfallen. Wenn solche rätselhaften Findlinge in der Landschaft des normalen Lebens sich nach einiger Zeit zu unwegsamen Geröllfeldern gehäuft haben, kann auch bei den Angehörigen der Erkrankten eine Orientierungskrise ausbrechen, die durch Selbstbeschwichtigungen nicht mehr zu besänftigen ist. So ist es mir ergangen. Daher berichte ich davon, wie sich unser Leben unter der Hand veränderte, bis das verstörende Gefühl, im eigenen Leben nicht mehr zu Hause zu sein, auch mich ergriff und meine Suche auslöste, wie wir trotz Demenz und mit ihr weiterleben könnten.
Diese Suche ist in den Tagebucheinträgen dokumentiert, die den Hauptteil dieses Buches bilden. Sie sind authentisches, dokumentarisches Material des jeweiligen Tages. Ich habe sie gekürzt, manches leichter lesbar gemacht, Wiederholungen vermieden, wo das möglich war. Aber da Wiederholung eine bestimmende Eigenart der Demenz ist, kehren Themen und Verhaltensweisen unvermeidlich wieder, erzeugen eine eigentümliche Bewegtheit im Immergleichen. Diese eigenartige Dynamik ginge verloren, wenn die Einträge unter thematischen Gesichtspunkten zusammengefasst würden, z. B. den Raum- und Zeitverlusten, den Identitätshavarien, den Verlusten von Wörtern und Begriffen, K.s Teilhabebedürfnissen oder auch meinen Gewissens- und Selbstkonflikten. Statt die Texte nach solchen Gesichtspunkten meines Beobachtens und Nachdenkens zu ordnen, habe ich die ereignishafte, chronologische Folge der Notizen lieber durch Worte von K. rhythmisiert, mit denen sie sich selbst oder Situationen kommentiert hat oder die sich der rätselhaften Poesie der Demenz verdankten.
Einige Zeit nach K.s Tod konnte ich ein Stück weiter zurücktreten und neu auf unseren »Lebensversuch mit Demenz« blicken. Der Erfahrungsbericht, den ich nun schreiben konnte, bildet den dritten Teil dieser Publikation. Die Frage seiner Überschrift Demenz und Menschen mit Demenz verstehen? zielt auf die vielleicht größte Unsicherheit im alltäglichen Umgang mit Demenz. Die Frage wird ganz unterschiedlich, fast schroff gegensätzlich beantwortet. Indem ich meine Suche nach Sinnspuren in K.s Verhalten als einen Weg beschreibe, auf dem ich lerne, ihre Stimme als Stimme eines eigenen, sehr lebendigen Selbst wahrzunehmen, beantworte ich die umstrittene Frage mit einer klaren Ermutigung. Es lohnt sich, von einem – wenngleich beschädigten – Selbst der von Demenz Betroffenen auszugehen, statt sich hinter den Schutzwall der Unverstehbarkeit zurückzuziehen. Wie das jeweilige »demente Selbst« sich äußert und zur Geltung bringt, ist gewiss von Fall zu Fall verschieden und wird sehr stark von den Lebenseindrücken abhängen, die sich in ihm erhalten haben. Genauso wird der Zugang, den andere Menschen zum Selbst von Demenzkranken finden, sich von meinem Weg unterscheiden. Ehrlichkeit und Authentizität verlangen, meinen Weg konkret zu beschreiben. Doch verallgemeinerbar an ihm sind nicht die einzelnen Schritte, sondern das Ziel und die Aufmerksamkeit, die der Weg erfordert.
Die Dokumentation meiner Erfahrung wäre nicht vollständig, wenn ich nicht auf Literatur hinwiese, die mir geholfen hat. Daher...
Erscheint lt. Verlag | 13.9.2023 |
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Vorwort | Thomas Fuchs |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie |
Schlagworte | Alzheimer • Biografie • Biographie • Demenzbegleitung • Kommunikation • Perspektive • Selbsterkenntnis • Verständigung • Verständnis |
ISBN-10 | 3-17-043512-4 / 3170435124 |
ISBN-13 | 978-3-17-043512-4 / 9783170435124 |
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