Depersonalisation und Derealisation -  Matthias Michal

Depersonalisation und Derealisation (eBook)

Die Entfremdung überwinden
eBook Download: EPUB
2023 | 5. Auflage
224 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-043573-5 (ISBN)
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Menschen, die sich abgetrennt von sich selbst und von ihrer Umwelt erleben, die das Gefühl haben, nicht mehr richtig da zu sein, und die ihre Umwelt und andere Menschen als unwirklich wahrnehmen, sind dadurch zutiefst verunsichert. Verschlimmert wird ihr Leiden noch, wenn sie keine angemessene Hilfe erhalten. Oft hören Betroffene Sätze wie 'das gibt es nicht' oder 'damit kenne ich mich nicht aus'. Der Ratgeber soll hier eine Hilfe darstellen. Er bietet umfassende Informationen über Depersonalisation und Derealisation sowie die zugrundeliegenden Krankheitsmechanismen, beschreibt häufige psychische Begleiterkrankungen und stellt Selbsthilfe- und Behandlungsmöglichkeiten vor. Psychotherapeuten erhalten Anregungen und Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Behandlung. Für die 5. Auflage wurde der Ratgeber überarbeitet und aktualisiert, u.a. im Hinblick auf die neue ICD-11.

Prof. Dr. med. Matthias Michal, stellvertretender Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz, leitet seit 2005 die erste Spezialsprechstunde 'Depersonalisation-Derealisation' in Deutschland.

Prof. Dr. med. Matthias Michal, stellvertretender Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz, leitet seit 2005 die erste Spezialsprechstunde "Depersonalisation-Derealisation" in Deutschland.

2 Das Symptom, die Diagnose und die Krankheit


Zur Untersuchung bei einem Psychiater, Psychotherapeuten, Neurologen oder Nervenarzt gehört in der Regel die Erhebung eines psychischen oder psychopathologischen Befundes (»psychopathologisch« bedeutet krankhafte Veränderung der seelischen Funktionen). Im Rahmen dieser Befunderhebung beurteilen sie unter anderem auch, ob der Patient Symptome von Depersonalisation und Derealisation aufweist. Im deutschen Sprachraum werden diese Symptome den sogenannten Ich-Störungen zugerechnet, im anglo-amerikanischen den Wahrnehmungsstörungen. Da sehr häufig Patienten nicht spontan über diese Symptome klagen, sollte der Arzt gezielt danach fragen. Werden solche Symptome berichtet, sollte der Arzt den Patienten ermuntern, so ausführlich und konkret wie möglich seine Symptome zu schildern. Wichtig ist dabei auch, dass der Arzt etwas über den zeitlichen Verlauf der Symptome erfährt: Also, handelt es sich um eine Art von anfallsweisem Auftreten, bei dem die Symptome nur für ein paar Sekunden oder Minuten da sind, oder handelt es sich um längere über Stunden anhaltende Zustände, oder gar um einen über Monate und Jahre anhaltenden Dauerzustand? Diese Informationen sind für den Arzt wichtig, weil sie bereits Hinweise auf die zugrunde liegende Erkrankung liefern können. Zum Beispiel kommt es bei der Panikstörung nur zu kurzdauernden Anfällen von Depersonalisation/Derealisation, die üblicherweise noch von anderen Angstsymptomen begleitet sind. Genauso kommt es bei der Temporallappenepilepsie gleichfalls nur zu kurzdauernden Anfällen von Depersonalisation/Derealisation. Bei der Migräne hingegen können auch über Stunden andauernde Depersonalisationszustände auftreten. Es gibt aber auch das Krankheitsbild der Depersonalisations-Derealisationsstörung (DDS). Bei Patienten mit einer DDS ist das ganze Erleben von Depersonalisation und/oder Derealisation gekennzeichnet. Man spricht dann auch von primärer Depersonalisation, wohingegen Symptome von Depersonalisation, die ausschließlich im Rahmen einer anderen Erkrankung auftreten (z. B. Panikstörung, Epilepsie), als sekundäre Depersonalisation bezeichnet werden.

Das oben genannte Krankheitsbild der Depersonalisations-Derealisationsstörung ist eine offizielle Diagnose. Seelische Erkrankungen werden weltweit nach dem Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verschlüsselt. Dieses Klassifikationssystem heißt »Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme« (engl.: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, ICD). Es ist das wichtigste und weltweit anerkannte Klassifikationssystem für Krankheiten in der Medizin. Die Diagnose war bereits in jeder Version der ICD vorhanden und findet sich auch wieder in der neuen 11. Version (ICD-11), die seit Anfang 2022 gültig ist. Im Vergleich zur Vorgängerversion ICD-10 wurde erfreulicherweise die Definition an das amerikanische Diagnosesystem angeglichen. Die Diagnose der Depersonalisations-Derealisationsstörung wird in Zukunft nicht mehr unter den sonstigen neurotischen Störungen gemeinsam mit der Neurasthenie (chronisches Erschöpfungssyndrom) geführt, sondern zusammen mit den dissoziativen Störungen aufgelistet. In den Vereinigten Staaten von Amerika ist das in der Forschung mehr verwendete Diagnosesystem der American Psychiatric Association (APA, Amerikanische Psychiatrische Vereinigung) gebräuchlich (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, DSM; deutsch: Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen). Aktuell liegt die fünfte Version vor (DSM-5, APA 2013).

2.1 Die diagnostischen Kriterien


Die Tabelle zeigt die diagnostischen Kriterien der Depersonalisations-Derealisationsstörung der ICD-10 (F48.1) und des DSM-5 (300.6) (▸ Tab. 2.1). In der seit 2022 geltenden ICD-11 erfolgt eine weitgehende Angleichung der ICD-Kriterien an das DSM-5. Außerdem wird in der ICD-11 die Depersonalisations-Derealisationsstörung nicht mehr unter den sonstigen neurotischen Störungen geführt, sondern wie im DSM-5 unter den dissoziativen Störungen. Allerdings wird es noch mehrere Jahre dauern, bis die ICD-11 im Gesundheitssystem auch auf administrativer Ebene angewendet werden kann. Bis zur Umstellung werden die Abrechnungsdaten und Diagnosen in den Arztbriefen noch mit der ICD-10 verschlüsselt. In der ICD-10 wird die Depersonalisations-Derealisationsstörung auch als Depersonalisations-Derealisationssyndrom bezeichnet. In beiden Klassifikationssystemen fehlt ein Zeitkriterium. Experten sind sich aber einig, dass die Diagnose in der Regel nicht vergeben werden sollte, wenn die Symptome nicht über mindestens drei Monate (besser sechs) die meiste Zeit des Tages vorhanden waren.

Tab. 2.1:Diagnostische Kriterien der Depersonalisations-/Derealisationsstörung nach DSM-5 und ICD-10

DSM-5: 300.6

ICD-10: F48.1

  • A.

    Das Vorliegen andauernder oder wiederkehrender Erfahrungen der Depersonalisation, Derealisation oder von beidem:

    • 1.

      Depersonalisation: Erfahrungen der Unwirklichkeit, des Logelöstenseins oder des Sich-Erlebens als außenstehender Beobachter bezüglich eigener Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen, des Körpers oder Handlungen (z. B. Wahrnehmungsveränderungen, gestörtes Zeitempfinden, unwirkliches oder abwesendes Selbst, emotionales und/oder körperliches Abgestumpftsein).

    • 2.

      Derealisation: Erfahrungen der Unwirklichkeit oder des Losgelöstseins bezüglich der Umgebung (z. B. Personen oder Gegenstände werden als unreal, wie im Traum, wie im Nebel, leblos oder optisch verzerrt erlebt).

  • B.

    Während der Depersonalisations-/Derealisationserfahrung bleibt die Realitätsprüfung intakt.

  • C.

    Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

  • D.

    Das Störungsbild ist nicht Folge der physiologischen Wirkung einer Substanz (z. B. Substanz mit Missbrauchspotenzial, Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors (z. B. Krampfanfall).

  • E.

    Das Störungsbild kann nicht besser durch eine andere psychische Störung wie Schizophrenie, Panikstörung, Major Depression, Akute Belastungsstörung, Posttraumatische Belastungsstörung oder eine andere dissoziative Störung erklärt werden.

  • A.

    Entweder 1 oder 2:

    • 1.

      Depersonalisation: Die Betroffenen klagen über ein Gefühl von entfernt sein, von »nicht richtig hier« sein. Sie klagen z. B. darüber, dass ihre Empfindungen, Gefühle und ihr inneres Selbstgefühl losgelöst seien, fremd, nicht ihr eigen, unangenehm verloren oder dass ihre Gefühle und Bewegungen zu jemand anderen zu gehören scheinen, oder sie haben das Gefühl, in einem Schauspiel mitzuspielen.

    • 2.

      Derealisation: Die Betroffenen klagen über ein Gefühl von Unwirklichkeit. Sie klagen z. B. darüber, dass die Umgebung oder bestimmte Objekte fremd aussehen, verzerrt, stumpf, farblos, leblos, eintönig und uninteressant sind, oder sie empfinden die Umgebung wie eine Bühne, auf der jedermann spielt.

  • B.

    Die Einsicht, dass die Veränderungen nicht von außen durch andere Personen oder Kräfte eingegeben wurden, bleibt erhalten.

Kommentar: Diese Diagnose sollte nicht gestellt werden, wenn das Syndrom im Rahmen einer anderen psychischen Störung auftritt, (...), in Folge einer Intoxikation mit Alkohol oder anderen psychotropen Substanzen, bei einer Schizophrenie (...), einer affektiven Störung, einer Angststörung oder bei anderen Zuständen (wie einer deutlichen Müdigkeit, einer Hypoglykämie oder unmittelbar vor oder nach einem epileptischen Anfall). Diese Syndrome treten im Verlauf vieler psychischer Störungen auf und werden dann am besten als zweite oder als Zusatzdiagnose bei einer anderen Hauptdiagnose verschlüsselt.

Typischerweise empfinden die Betroffenen die Symptome als quälend. Häufig fühlen sich Betroffene durch die Symptome im zwischenmenschlichen und oder beruflichen Bereich beeinträchtigt. Sehr häufig sind vor allem Ängste, »verrückt« zu werden, die Kontrolle über den Verstand zu verlieren und peinlich aufzufallen (»man könnte mir ansehen, dass etwas mit mir nicht stimmt«). Im späteren Verlauf der Erkrankung leiden die Betroffenen vor allem unter dem Gefühl der Isolation und der Angst, ihr Leben oder den Sinn ihres Lebens zu verpassen. Mit Bezug auf die Arbeits- oder Studier- und Lernfähigkeit beklagen die Betroffenen...

Erscheint lt. Verlag 16.8.2023
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Medizin / Pharmazie
Schlagworte Depersonalisation • Depersonalisationsstörung • Derealisation • Entfremdung • Krisenintervention • posttraumatische Störungen • Psychodiagnostik • Psychogene Störungen • Psychosomatische Medizin
ISBN-10 3-17-043573-6 / 3170435736
ISBN-13 978-3-17-043573-5 / 9783170435735
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