Evidenzbasiertes Arbeiten in der Physiotherapie (eBook)
553 Seiten
Thieme (Verlag)
978-3-13-244384-6 (ISBN)
1 Einführung
1.1 Wissenschaftliches Verständnis
Diese Einführung werden wir als schwere Kost dieses Buches bezeichnen. Doch diese schwere Kost bietet die Möglichkeit, auch den tieferen Sinn und Wert von wissenschaftlichem Arbeiten und reflektiertem Handeln anzunehmen. Alleine das Handwerkszeug für eine evidenzbasierte Physiotherapie zu kennen und zu erlernen, ist nur ein fragiles Fundament für eine langfristige Adhärenz für die in diesem Buch vermittelte Thematik. Weiter ermöglicht ein historischer und philosophischer Blick auf die Wissenschaft, dass sich auf einer Metaebene die Voraussetzungen ändern können, um wissenschaftlich zu handeln, Handeln zu reflektieren und auch bei komplexen Diskussionen, die ja in einer wissenschaftlich reflektierten Praxis erwünscht sind, zielvolle Fragen zu stellen und sachgerecht zu argumentieren.
1.2 Dimensionen von Wissenschaft
1.2.1 Was ist Wahrheit?
Wenn wir uns die Frage stellen, was eigentlich Wahrheit ist, dann scheint uns dies im ersten Moment vollkommen klar. Wenn wir jedoch länger und tiefgründiger darüber nachdenken, dann stellen wir eventuell fest, dass sich diese Frage nicht immer einfach beantworten lässt. Tatsächlich ist die Frage nach der Wahrheit eine der zentralen Thematiken, mit denen sich die Philosophie beschäftigt.
Wahrheit ist die Eigenschaft, mit Tatsachen oder der Wirklichkeit übereinzustimmen. In der Alltagssprache wird Wahrheit typischerweise Dingen zugeschrieben, die darauf abzielen, die Wirklichkeit darzustellen oder ihr auf andere Weise zu entsprechen, wie z.B. Überzeugungen, Thesen und erklärende Aussagen ▶ [4], ▶ [14].
Wahrheit wird gewöhnlich als das Gegenteil von Unwahrheit angesehen. Das Konzept der Wahrheit wird in verschiedenen Zusammenhängen diskutiert und erörtert, unter anderem in Philosophie, Kunst, Theologie und Wissenschaft. Viele unserer Handlungen hängen von diesem Begriff ab, da sein Status als Gegenstand der Diskussion vorausgesetzt wird; dazu gehören die meisten Bereiche der Wissenschaften, des Rechts, des Journalismus und des alltäglichen Lebens. Einige Philosophen betrachten den Wahrheitsbegriff als grundlegend und unfähig, ihn mit Begriffen zu erklären, die leichter zu verstehen sind als der Begriff der Wahrheit selbst ▶ [14].
In der Wissenschaft, Philosophie und Theologie werden nach wie vor verschiedene Theorien und Ansichten über die Wahrheit diskutiert ▶ [14], ▶ [6]. Es gibt viele verschiedene Fragen über die Natur der Wahrheit, die auch heute noch Gegenstand von Debatten sind, wie z.B.: Wie können wir Wahrheit definieren? Ist es möglich, eine aussagekräftige Definition von Wahrheit zu geben? Welche Sachverhalte sind wahrheitsgebend und können daher richtig oder falsch sein? Sind Wahrheit und Falschheit zweiwertig oder gibt es andere Wahrheitsgrade? Welches sind die Merkmale der Wahrheit, die es uns erlauben, sie zu erkennen und von der Unwahrheit zu unterscheiden? Welche Rolle spielt die Wahrheit bei der Konstituierung von Wissen? Und ist Wahrheit immer absolut oder kann sie auch relativ sein, je nach der jeweiligen Perspektive?
Wir können hier schon erkennen, dass die Antwort auf die Frage, was eigentlich Wahrheit ist, nicht pauschal gegeben werden kann. Für die wissenschaftliche oder auch wissenschaftsorientierte Arbeit ist die Suche nach Wahrheit ein unerreichtes Ideal und deshalb nicht besonders hilfreich. Wenn wir wissenschaftliches Arbeiten anstreben, dann ist die Suche nach der Wahrheit nicht geeignet, sondern wir sollten nach Erkenntnissen streben.
1.2.2 Erkenntnistheorie
Um Erkenntnisse zu erhalten, sollten wir uns als erstes mit der Erkenntnistheorie, auch als Epistemologie bezeichnet, beschäftigen. Die Erkenntnistheorie ist der Teilbereich der Philosophie, der sich mit dem Thema Wissen befasst. Erkenntnistheoretiker, auch Epistemologen genannt, erforschen die Natur, den Ursprung und den Umfang des Wissens, die wissenschaftliche Rechtfertigung, die Rationalität des Glaubens und verschiedene damit verbundene Fragen. Die Erkenntnistheorie gilt zusammen mit anderen wichtigen Teilgebieten, wie Ethik, Logik und Metaphysik, als ein wichtiger Teilbereich der Philosophie ▶ [17], ▶ [25].
Die Epistemologie beschäftigt sich mit der Art und Weise, wie wir zu Wissen kommen und wie wir Wissen erkennen. Das Wort leitet sich von den griechischen Wörtern epistéme und logos ab - ersteres bedeutet „Wissen“ oder „Erkenntnis“ und letzteres „Lehre von“ oder „Studium von“. Das Wort bedeutet also die Lehre der Wissenschaft ▶ [40]. Das Fachgebiet der Erkenntnistheorie beschäftigt sich seit jeher mit den folgenden grundlegenden Fragen ▶ [42]:
-
Was ist Wissen, und was meinen wir, wenn wir sagen, dass wir etwas wissen?
-
Was ist die Quelle des Wissens, und woher wissen wir, ob sie zuverlässig ist?
-
Was ist der Umfang des Wissens und was sind seine Grenzen?
Diese Fragen zum Wissen sind recht einfach formuliert, jedoch inhaltlich hochkomplex. Schon seit vielen Jahrtausenden versuchen Philosophen diese Fragen zu beantworten. Vor mehr als 2000 Jahren haben sich Sokrates (ca. 469–399 v. Chr.), Platon (428/427–348/347 v. Chr.) oder Aristoteles (384–322 v. Chr.) damit beschäftigt. Aber eine vollständige und allumfassende Antwort konnten sie nicht geben. Und die Antworten, die sie auf diese Fragen gegeben haben, wurden von bekannten Philosophen wie Descartes (1596–1650), Hume (1711–1776) und Kant (1724–1804) immer wieder kritisch hinterfragt. Selbst diese Größen der Philosophie waren nicht in der Lage, dauerhafte Antworten auf diese Fragen zu geben, und in der Tat hält die Diskussion bis zum heutigen Tag an.
1.2.3 Philosophie und Wissenschaft
Für viele Menschen hören sich die Begriffe Philosophie und Wissenschaft einerseits abstrakt und andererseits eher konträr an. Doch tatsächlich gehen Philosophie und Wissenschaft Hand in Hand und interagieren miteinander. Wenn Wissen geteilt wird, stellt sich oft die Frage, woher man eigentlich dieses Wissen hat, bzw. was hat dieses Wissen generiert, das geteilt wird. Die Beantwortung dieser Frage ist häufig nicht einfach und verlagert eine solche Diskussion oftmals in den Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnistheorie ▶ [42]. Die Thematik ist sehr umfangreich und verdient große Aufmerksamkeit. Diese Komplexität hier auf ein Kapitel zu reduzieren und inhaltlich stark zu begrenzen, wird dem Thema nicht gerecht. Doch dieses Buch handelt nicht von Epistemologie bzw. Erkenntnistheorie und trotzdem finden wir, dass eine gewisse Einführung zu dem Thema hilfreich für das Verständnis von Wissenschaft sein kann. Bekannte Autoren wie Galilei, Newton, Bacon, Locke, Hume, Kant, Mach, Hertz, Poincaré, Born, Einstein, Plank, Popper, Kuhn und viele andere haben in diesem Bereich der Wissenschaftsphilosophie ganze Bände geschrieben und wer sich tiefer mit dieser Materie beschäftigen möchte, sollte die Schriften solcher Autoren heranziehen.
Evidenzbasierte Therapeuten und Therapeutinnen müssen die Arten von Argumenten verstehen, die Wissenschaftler in der Praxis verwenden, um den Gegenstand, den sie als Wissen beanspruchen, zu stützen. Wissenschaft ist mehr als ein Sammelbecken von Fakten, und die Vermittlung von Wissenschaft besteht aus mehr als nur der Vermittlung von wissenschaftlichen Erkenntnissen ▶ [42]. Wissenschaft ist eine Art des Wissens, die eine starke philosophische Untermauerung erfordert (ob bewusst gesucht oder unbewusst gelernt). Man kann nicht davon ausgehen, dass Studierende, die die Fakten, Grundsätze, Gesetze und Theorien der Wissenschaft verstehen, notwendigerweise auch ihre Prozesse und deren philosophische Grundlagen kennen. Man kann nicht davon ausgehen, dass sie die Philosophie der Wissenschaft durch den physiologischen Unterricht lernen; sie sollte direkt vermittelt werden ▶ [42].
Wir hoffen, dass die Leser und Leserinnen nach diesem Kapitel ein besseres Verständnis für das Wesen und die Dilemmata der Wissenschaft entwickelt haben. Es wird erwartet, dass sich dieses Verständnis positiv auf das Handeln auswirkt. Wir hoffen auch, dass dieses Kapitel das Interesse der Leserinnen und Leser so weit weckt, dass sie den Weg zu einer umfassenderen Lektüre in diesem wichtigen Bereich finden.
1.2.4 Wissen versus Glaube
Wenn Historiker sagen, dass sie etwas wissen, ist dann ihre Art von Wissen die gleiche wie die von Wissenschaftlern, wenn diese sagen, dass sie etwas wissen? Sprechen Soziologen wie Wissenschaftler mit der gleichen Gewissheit? Wenn ein Theologe eine Aussage macht, ist der Grad der Gewissheit derselbe wie der eines Wissenschaftlers oder einer Wissenschaftlerin? Offen gesagt, die Antwort auf all diese Fragen ist zu verneinen. Wissenschaft, Soziologie, Geschichte und Religion haben jeweils ihre eigene Art des Erkenntnisgewinns und unterschiedliche Arten der Gewissheit ▶...
Erscheint lt. Verlag | 2.8.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Gesundheitsfachberufe |
Schlagworte | EBP • Evidenzbasierte Physiotherapie • Evidenzbasierte Praxis • Forschung • Literatursuche • Physiotherapie • Recherche • Studien |
ISBN-10 | 3-13-244384-0 / 3132443840 |
ISBN-13 | 978-3-13-244384-6 / 9783132443846 |
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