Praxiswissen Palliativmedizin (eBook)
240 Seiten
Georg Thieme Verlag KG
978-3-13-245128-5 (ISBN)
2 Schmerz- und Symptombehandlung
In der Palliativmedizin gelten für die Schmerz- und Symptombehandlung folgende Grundprinzipien:
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Ein Symptom kann nur dann gut behandelt werden, wenn wir es erfassen. Während in der Gesundheitsversorgung oft gewartet wird, bis sich die Betroffenen melden und über ein störendes Symptom klagen, wird in der Palliativversorgung schon im Vorhinein nach zu erwartenden störenden Symptomen proaktiv gefragt. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen.
Fallbeispiel
Frau M. hat ein Pankreaskopfkarzinom. Ihr behandelter Arzt fragt sie pauschal, wie es ihr gehe. Ihre Antwort ist, dass es ihr den Umständen entsprechend gut gehe. Anschließend wird sie gezielt nach zu erwartenden Symptomen gefragt. Auf Schmerzen angesprochen, gibt sie Bauchschmerzen von kolikartigem Charakter auf einer Skala von 0–10 bei 5 an. Auf die Frage, warum sie diese nicht mitgeteilt habe, erwidert sie, dass es ja noch auszuhalten sei und man mit Schmerzmitteln sparen müsse. Die Frage nach Übelkeit beantwortet sie mit mittelstarker Übelkeit, die sie aber noch aushalten könne. Auch die Frage nach Juckreiz bejaht sie. Eine eingeleitete Therapie mit Metamizol und Tilidin gegen Schmerzen, Metoclopramid gegen Übelkeit und Mirtazapin gegen Juckreiz führt zu einer deutlichen Besserung aller 3 Symptome.
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Ein Symptom sollte hinsichtlich seiner pathophysiologischen Ursache analysiert werden, damit es mechanismenbasiert, gezielt behandelt werden kann. Dies lässt sich an dem oben genannten Beispiel erläutern.
Fallbeispiel
Frau M. hat kolikartige Schmerzen bei einem Tumor in Bauchbereich. Es handelt sich um viszeral nozizeptive Schmerzen. Daher erhält sie das Stufe-1-Analgetikum Metamizol, das besonders gut bei viszeral nozizeptiven Schmerzen hilft, und ein Opioid. Die Übelkeit dürfte am ehesten eine gastrointestinale Ursache bei peritonealer Reizung haben, weshalb als Basisantiemetikum Metoclopramid zu empfehlen ist. Der Juckreiz ist bei gleichzeitig bestehendem leichtem Ikterus am ehesten cholestatisch bedingt, sodass ein Therapieversuch mit Mirtazapin erfolgversprechend sein könnte.
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Ein Symptom muss in regelmäßigen Abständen reevaluiert werden. Die Dosis muss individuell angepasst werden. Für das dargestellte Fallbeispiel bedeutet dies Folgendes.
Fallbeispiel
Am Folgetag wird klar, dass sich die Schmerzen auf der Skala von 0–10 von 5 auf 4 verbessert haben. Es sollte jedoch möglichst ein Schmerzlevel unter 3/10 erreicht werden, was Frau M. im Gespräch darüber auch wünscht, nachdem sie erlebt hatte, dass die Schmerztherapie hilft. Die Opioiddosis wird daher erhöht.
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Ein Symptom sollte nicht nur in körperlicher Hinsicht erfasst, analysiert und behandelt werden, sondern in seiner ganzen psychosozialen und spirituellen Tragweite nach dem Total-Pain-Modell betrachtet werden. Dementsprechend ist in der Palliativversorgung häufig die ganzheitliche Versorgung durch ein multiprofessionelles Team im Sinne der Total Care und nicht nur die Versorgung durch eine Berufsgruppe notwendig. Palliativmedizin bedeutet entsprechend dem Paradigma der Palliative Care, die Bedürfnisse und Symptome der Betroffenen aufzuspüren und ihnen mit Konzepten der Symptomerfassung und -behandlung, der psychosozialen und spirituellen Begleitung zu begegnen. Dabei gilt das Paradigma der „radikalen Patientenorientierung“. Unabhängig davon, welche Erkrankung vorliegt, müssen wir den Symptomen des jeweils einzigartigen Menschen, dem wir begegnen, gerecht werden.
Die folgenden Kapitel zur Schmerz- und Symptomerfassung bzw. -therapie vermitteln das notwendige Wissen, um mechanismenbasiert und ganzheitlich die jeweiligen Symptome mit medikamentösen und nicht medikamentösen Verfahren integriert behandeln zu können. Evidenzen der erweiterten S3-Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung werden dabei berücksichtigt.
Zusammenfassung
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Die Schmerz- und Symptombehandlung setzt eine regelmäßige Schmerz- bzw. Symptomeinschätzung voraus.
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Bei der Schmerz- und Symptombehandlung sollten alle Dimensionen (körperlich, psychisch, sozial, spirituell) des Total-Pain-Modells berücksichtigt werden.
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Hilfreich ist ein mechanismenbasierter Ansatz. Die Auswahl der Medikamente erfolgt nach pathophysiologischen Überlegungen und Evidenzen (S3-Leitlinie).
2.1 Erfassung von Schmerzen und Symptomen
In fast allen medizinischen Sachfragen sind die behandelnden Ärzte kompetenter als der Patient. Der behandelnde Arzt weiß z.B. genau, ob eine Pneumonie vorliegt oder nicht, da er das Blutbild, den Auskultationsbefund und die Lungenröntgenaufnahme kennt und analysieren kann. Dank eines geschulten klinischen Blicks und der Verwendung entsprechender Hilfsmittel ist der Arzt in der Regel Experte für die Situation des jeweiligen Patienten. Anders sieht es bei störenden Symptomen aus. Der Patient ist Experte für seine Schmerzen, für seine Luftnot etc., denn nur er erlebt das Symptom in seiner Charakteristik und Schwere mit allen psychosozialen und spirituellen Auswirkungen. Dieses individuelle Leiden lässt sich nicht von außen objektivieren. Die Analyse des Blutgasbefundes gibt beispielsweise keinerlei Aufschluss über das subjektiv erlebte Symptom Luftnot, und das Ausmaß der Tumorerkrankung korreliert nicht mit dem dabei empfundenen Schmerz. Schmerzen und andere Symptome sind daher nicht von außen beobachtbar und auch nicht durch andere beurteilbar.
Betrachten wir einen Patienten, der zunächst auf einer Krankenhausstation über starke Schmerzen klagt und anschließend vom Personal rauchend und lachend vor dem Krankenhauseingang angetroffen wird. Viele Mitarbeiter werden sich jetzt vielleicht fragen, ob der Schmerz wirklich so stark sein kann, wenn der Betroffene vor die Tür geht, raucht und lacht. Der Autor hat mehrfach in Palliativkursen die Teilnehmer nach nicht medikamentösen Strategien im Umgang mit Schmerz gefragt. Er erhielt wiederholt die Antwort, dass die Teilnehmer sich bei Schmerzen ablenken würden, z.B. dadurch, dass sie über einen Witz lachen, z.B. dadurch, dass sie rauchen …
Schmerz ist eben anders als jede andere Empfindung ▶ [27]. Er ist keine messbare Einzelreaktion, wie z.B. Blutdruck, Puls oder Temperatur. Für den Betroffenen ist es eine einmalige und höchst individuelle Erfahrung, Schmerzen zu haben. Sie lässt sich nicht objektiv messen. Die Erkenntnis, dass das Schmerzerleben höchst subjektiv ist, fällt gerade uns naturwissenschaftlich geprägten Ärzten schwer, da wir es gewohnt sind, ein Symptom zu objektivieren. Das Schmerzerleben hängt außer von der Stärke des Schmerzreizes vor allem auch von der Schmerzwahrnehmung ab. Nach dem Total-Pain-Modell von Cicely Saunders ▶ [122] wird die Stärke des empfundenen Schmerzes auch davon bestimmt, in welcher psychischen Verfassung der Betroffene ist, ob er soziale Probleme mit z.B. Vereinsamung oder Geldsorgen hat oder ob er mit seinem Schicksal hadert. Schmerz findet nach diesem Modell auf 4 Ebenen statt, der körperlichen, der psychischen, der sozialen und der spirituellen Ebene. Das Schmerzerleben hat darüber hinaus auch eine jeweils ganz persönliche Geschichte: individuell unterschiedliche Begleitumstände von Schmerzen, traumatische Erfahrungen, unterschiedliche Erfahrungen mit Schmerztherapien. All diese Empfindungen – die 4 Dimensionen des Total-Pain-Modells und die gemachten Erfahrungen des Individuums – spielen im höchst subjektiven Schmerzerleben des Betroffenen zusammen. Carr und Mann ▶ [27] formulieren ein solches umfassendes Modell des Schmerzes und berücksichtigen dabei, dass Schmerz auch von der Stimmung eines Menschen, der Erinnerung an frühere schmerzhafte Erfahrungen, dem Umgang mit früheren Schmerzepisoden und deren Kontrolle, der Schmerzursache und deren Bedeutung, dem kulturellen Hintergrund, der Tageszeit und dem Umfeld des Schmerzes, der genetischen Konstellation und vielen weiteren Variablen abhängt.
Dieses umfassende Modell des Schmerzes lässt sich auf andere, in der Palliativbetreuung häufige Symptome, wie Luftnot, Übelkeit etc. problemlos übertragen, denn auch hier ist das Erleben des jeweiligen Symptoms höchst subjektiv und von zahlreichen gemachten Erfahrungen und dem Erleben in anderen, nicht körperlichen Ebenen, wie sie im Total-Pain-Modell formuliert wurden, abhängig. Man kann daher das Total-Pain-Konzept von Saunders und Baines ▶ [122] zum Total-Symptom-Konzept erweitern.
Die detailliertesten Hinweise zur Schmerzerfassung finden sich im pflegerischen Expertenstandard des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege „Schmerzmanagement in der Pflege“ ▶ [36]. Er hat für Pflegeberufe einen den ärztlichen Leitlinien vergleichbaren Charakter. Dieser Expertenstandard liefert...
Erscheint lt. Verlag | 5.7.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Palliativmedizin |
Schlagworte | Akute Schmerzen • Altenheim • Angehörige • Chronische Schmerzen • Curriculum Palliativmedizin • Hospiz • Lebensende • Nichttumorpatienten • Palliativbetreuung • palliative Maßnahmen • Palliativkurse • Palliativstation • Palliativversorgung • Patientenautonomie • Patientenverfügung • Patientenversorgung • Pflegeheim • Repetitorium Palliativmedizin • SAPV • Schmerztherapie • Schwerpunktbezeichnung Palliativmedizin • Schwerstkranke • Seelsorge • Spezialisierte ambulante Palliativversorgung • Sterbebegleitung • Sterbende • Tumorerkrankungen • Tumorpatienten • Weiterbildung Palliativmedizin • Zusatzbezeichnung Palliativmedizin • Zusatzweiterbildung Palliativmedizin |
ISBN-10 | 3-13-245128-2 / 3132451282 |
ISBN-13 | 978-3-13-245128-5 / 9783132451285 |
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