Kindliche Mehrsprachigkeit (eBook)
352 Seiten
Georg Thieme Verlag KG
978-3-13-244411-9 (ISBN)
2 Mehrsprachigkeit
Mehrsprachigkeit zählt zu den wichtigsten sozialen Phänomenen der Gegenwart. Obgleich es sie schon immer gegeben hat, unterscheidet sich Mehrsprachigkeit heutzutage darin, dass sie neben einzelnen Personen ganze Gesellschaften betrifft und diese als solche repräsentiert, während einst die Idee einer Kulturnation mit einer gemeinsamen Sprache als Grundlage des Zusammenlebens in einem Staat angesehen wurde. Die Bevölkerungsentwicklung im Herzen Europas hat zu einer anderen sprachlichen Realität geführt. Insofern ist das gegenwärtige soziolinguistische Arrangement diverser Gesellschaften eine neuartige Entwicklung ( ▶ [47]).
Mehrsprachigkeit ist weltweit real. Sie ist unabdingbare und neuartige Begleiterscheinung der zunehmend komplexer werdenden Globalisierung, mit paradoxen Auswirkungen auf unser Leben; zum einen erhöht sie einen bereichernden Austausch mit anderen Kulturen, zum anderen bringt sie soziale und kulturelle Konflikte mit sich. Es gibt nur noch wenige homogene Gesellschaften, und sie werden zunehmend vielfältiger. Dies betrifft ihre Lebensart wie auch die Sprachen, die sie sprechen.
Speaking two or more languages is the natural way of life for three-quarters of the human race. [This] principle […] has been obscured in parts of Europe as a consequence of colonial history. We urgently need to reassert it, and to implement it in practical ways, for, in the modern world, monolingualism is not a strength but a handicap.
Crystal 2006, S. 409
Konkrete Daten zur Anzahl der in der Welt gesprochenen Sprachen lassen sich aufgrund unterschiedlicher Auffassungen zur Abgrenzung von Sprache und Dialekt nicht nennen. Schätzungen zufolge werden weltweit noch rund 6500 Sprachen gesprochen – in insgesamt ca. 200 Staaten ( ▶ [999]). Anders als in Deutschland, ist Mehrsprachigkeit in den meisten Ländern der Welt der Normalfall ( ▶ [332], S. 360). Weit mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung bedient sich täglich mehrerer Sprachen. Weltweit wachsen Kinder damit in einer Umgebung auf, in der Mehrsprachigkeit normal ist. Wie groß der Anteil an mehrsprachigen Personen ist, hängt aber letztendlich davon ab, wie Wissenschaftler:innen Mehrsprachigkeit definieren und wo sie die Grenze zwischen Sprache und Dialekt ziehen.
Generell lassen sich spezifische Ausnahmen – wie Einsprachigkeit – einfacher beschreiben und definieren, da sie sich vom Allgemeinen besonders hervorheben und durch bestimmte Kriterien abgrenzen. Es bleibt aber die Frage, ob es Einsprachigkeit als solche überhaupt gibt. Schließlich wachsen Menschen in unterschiedlichen Sprachgemeinschaften auf. So bedürfte es vor einer eindeutigen Zuschreibung zunächst der Klärung, ob denn unterschiedliche Varietäten einer Sprache wie dem Deutschen als ein- sprachig gelten können (Standardsprache in Kap. ▶ 2.2). Dies betrifft neben der häufig als Hochsprache bezeichneten Form verschiedene Varietäten wie Dialekte und sog. Mundarten, aber auch Soziolekte (z.B. Jugendsprachen, Fachsprachen), sowie die Wahl des Sprachstils oder des Registers in Abhängigkeit vom jeweiligen Gesprächspartner und von den Gesprächssituationen.
Folgt man diesen Überlegungen, erscheint Einsprachigkeit eher eine Illusion zu sein, Mehrsprachigkeit hingegen – selbst in monolingual orientierten Gesellschaften – der Normallfall. Als Ergebnis einer Reflexion über die Vielgestaltigkeit von Sprachwelten als Ergebnis sozialen Handelns und die symbolischen Dienste, die verschiedene Sprachen leisten, wodurch auch Einsprachige über Sprachen und Kulturen lernen, regen ▶ [1022] an, dass auch einsprachige Kinder quersprachige Kompetenzen erwerben können. Ihr Konzept zeichnet sich dadurch aus, dass die Vielzahl an Menschen vielfältige sprachliche Ressourcen wie zur situations- und adressatengerechten Kommunikation und nicht nur ein einziges, einheitliches System verwendet, eine erweiterte Sprachbewusstheit bei monolingualen und monokulturellen Sprecher:innen fördern kann, die über metasprachliches Bewusstsein bezüglich der eigenen Sprache hinausgeht.
Wie Mehrsprachigkeit beschrieben und bestimmt wird, ist eine Frage der Ebenen und der Perspektiven: Wird die Gesellschaft, eine Gruppe und/oder ein Individuum betrachtet? Richtet sich der Fokus auf deren Herkunft, deren Identität, deren Sprachbeherrschung? Derlei Überlegungen führen unmittelbar zur Frage, welche Kriterien und welche Ebenen für die Ableitung einer Definition von Mehrsprachigkeit sowie mehrsprachiger Individuen möglich und für die logopädische Arbeit zweckdienlich sind. Klar ist, dass es keine allgemeingültige Antwort geben können wird. Im Folgenden werden deshalb verschiedene Betrachtungen und Aspekte von Mehrsprachigkeit dargestellt, die den Ausgangspunkt für die Ableitung einer zielführenden Arbeitsdefinition als Grundlage für das sprachtherapeutische Verständnis und Arbeiten bilden.
2.1 Bilingualismus oder Mehrsprachigkeit?
Wer sich mit dem Problem des Einflusses einer Sprache auf eine andere und mit dem der Bilingualität auseinandersetzt, hat in besonders starkem Maße mit dem Wirrwarr, ja mit dem Chaos in unserer gegenwärtigen Terminologie zu kämpfen.
Carstensen 1968, S. 32
In den Online-Materialien dieses Buches steht ein tabellarischer Überblick verschiedener Termini zur Beschreibung individueller Mehrsprachigkeit zur Verfügung (Kap. ▶ 11). Es handelt sich um eine Auswahl der in der Fachliteratur zum großen Teil noch heute verwendeten Begriffe, denen äußerst variable Faktoren zur Klassifikation der Mehrsprachigkeit zugrunde liegen. Gleichzeitig demonstriert das Spektrum der Termini, dass die ihnen zugrundeliegenden Vorstellungen von Mehrsprachigkeit teilweise inhaltlich übereinstimmen, teilweise stark divergieren. Die Verwendung unterschiedlicher Termini steht in engem Zusammenhang mit der Tatsache, dass es den Sprachwissenschaften – trotz oder gerade aufgrund zahlreicher Arbeiten – nicht gelungen ist, eine einschlägige Definition von Mehrsprachigkeit zu formulieren. Überdies kommt es aufgrund der unterschiedlichen Disziplinen, die den gleichen mehrdimensionalen Untersuchungsgegenstand behandeln, und möglicherweise auch aufgrund des wissenschaftlichen Diskurses in mehreren Sprachen, zu begrifflichen Vermischungen. So werden in der (vorwiegend englischsprachigen) Fachliteratur zur Entwicklung und Ausbildung mehrsprachiger Sprachfähigkeiten unterschiedliche Termini verwendet, wie folgende Auflistung zeigt:
Zweisprachigkeit, Bilingualismus, Bilingualism, Bilinguismus, Trilingualism, Mehrsprachigkeit, Multilingualismus, Multilingualism, Triglossie, Polyglossie, Polyglossia, Zweitspracherwerb, Zweisprachenerwerb, Second Language Acquisition, Mehrspracherwerb, Third Language Acquisition u.a.
Sämtliche Definitionen von Bilingualismus oder Mehrsprachigkeit sind willkürlich. Denn Forschende verwenden die Definition, die aus ihrer Sicht für ihre Vorhaben und in Bezug auf die Merkmale der untersuchten Proband:innen am besten passt. Sie entscheiden über die Ein- und Ausschlusskriterien in ihren Studien. So hängt es von den jeweils untersuchten Merkmalen und Eigenschaften der Proband:innen ab, welche Kriterien Forschende zur Bestimmung der Mehrsprachigkeit verwenden.
There are almost as many definitions of bilingualism as there are scholars investigating it. Every researcher uses the kind of definition which best suits her own field of enquiry and her research aims. In this sense all definitions are arbitrary.
Skutnabb-Kangas 1981, S. 81
Die von Wissenschaftler:innen herbeigeführte begriffliche Vielfalt für vergleichbare oder eben nicht vergleichbare Gegenstände erschwert Forschenden die Erarbeitung systematischer Übersichtsarbeiten und Praktiker:innen den Transfer von Erkenntnissen in die Praxis. So wirken beispielsweise wissenschaftliche Foren für Forschung und Entwicklung von Unterrichtskonzepten, die sich mit dem Themenbereich Migrationshintergrund und Spracherwerb unter dem Terminus Deutsch als Zweitsprache (DaZ) befassen, durchaus problematisch. DaZ als übergeordneter Begriff berücksichtigt unzureichend individuelle Spracherwerbsverläufe. Zwar kann schulischer DaZ-Unterricht und damit die gesteuerte Aneignung des Deutschen standardisiert werden, jedoch erfolgt eine ungesteuerte Aneignung in unterschiedlichen Unterrichtsfächern, und außerhalb des schulischen Settings gestalten sich die Sprachkontakte quantitativ und qualitativ sehr unterschiedlich und in Abhängigkeit individueller Lebensbedingungen. So kann bei Schüler:innen nicht davon ausgegangen werden, dass sie anders als DaF-Schüler:innen alltagssprachliche Register des Deutschen automatisch erwerben. Auch bleibt bei DaZ-Konzepten oft unberücksichtigt, dass ein Großteil der Zielgruppe sich doch eher mit Deutsch als Dritt- oder Viertsprache – und dies ausschließlich in der Schule – auseinandersetzt (Kap. ▶ 2.5.8).
In den letzten Jahren ist der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in deutschen Schulen gestiegen, der Anfangsunterricht findet in zunehmend vielsprachigen Situationen statt. Die Heterogenität zeichnet sich neben der Sprachenvielfalt in manchen Klassen auch durch die unterschiedliche Anzahl der Sprachen aus, die ein Kind verwendet. Im Jahr 2018 lag der Anteil der unter 6-jährigen Kinder mit Migrationshintergrund in Bremen bei 62% ( ▶ [61]) und damit deutlich höher als der...
Erscheint lt. Verlag | 17.5.2023 |
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Reihe/Serie | Forum Logopädie | Forum Logopädie |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Gesundheitsfachberufe |
Schlagworte | Bilingualismus • Erstsprache • interkulturelle Aspekte • kindlicher Spracherwerb • Mehrsprachigkeit • Migration • Muttersprache • Sprachdiagnostik • Sprachentwicklung • Sprachentwicklungsstörungen • Sprachförderung • Sprachkompetenz • Sprachtherapie • Zweitsprache |
ISBN-10 | 3-13-244411-1 / 3132444111 |
ISBN-13 | 978-3-13-244411-9 / 9783132444119 |
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