Transnationale Zuwanderung von Sorgearbeit -  Frank Schulz-Nieswandt

Transnationale Zuwanderung von Sorgearbeit (eBook)

Eine Problematisierung
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
134 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-043264-2 (ISBN)
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Ein politisch gefördertes Mittel zur Behebung des Personalnotstands in der Pflege ist die Gewinnung von Pflegekräften aus dem Ausland. Mit der Methode einer Problematisierung beleuchtet das Buch die Hintergründe und Folgen der Personalgewinnung internationaler Pflegekräfte. Es wird gefragt, ob der Anspruch einer ethischen Gewinnungspraktik Maskerade und der arbeitsmarktpolitischen Bedürftigkeit geschuldet ist, bei der gleichzeitig einwandernde Menschen aus den Entsenderegionen aus relativer Not heraus handeln, obwohl sie andere Verbleibeperspektiven bevorzugen würden. Ziel ist es, eine Synthese der Perspektiven zu finden, die aufzeigt, was in diesem Push-Pull-Geschehen noch freier Wille und was struktureller Zwang ist.

Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt, Lehrstuhl für Sozialpolitik und Methoden der qualitativen Sozialforschung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln.

Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt, Lehrstuhl für Sozialpolitik und Methoden der qualitativen Sozialforschung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln.

Dichte Beschreibung der Logik der Abhandlung


Migrationsdynamiken sind Teil des Globalisierungsgeschehens. Neben dem Flucht-Phänomen, an dem sich kulturgeschichtlich die uralten Phänomene von Asyl und Gastfreundschaft knüpfen, führen die weltweiten sozioökonomischen Wohlstandsgefälle zwischen den Zentren, den semiperipheren Zwischenräumen und den Peripherien auch zur Arbeitsmigration. Das ist der allgemeine Hintergrund des Themas der vorliegenden Abhandlung. Doch handelt es sich nicht um eine einfache Bewegung von Dort nach Hier, von Außen nach Innen. Das wäre der Push-Effekt in den peripheren Räumen der Weltordnung. Es gibt interne Gründe im Innenraum der Zentren der Weltordnung. Es sind Pull-Effekte: Der Fachkräftemangel führt zu einem Interesse, Humankapital anzuwerben, dass die Lücken zu füllen in der Lage ist. Innerhalb des Rechtsraumes der EU ist diese Arbeitsmigration über die Freizügigkeitslogik des Binnenmarktes geregelt und reguliert. Aber es geht eben auch um die Push- und Pull-Beziehungen mit dem außereuropäischen Raum. Und zwischen diesen beiden Räumen des Austausches bestehen Unterschiede in der Dichte und Qualität der rechtlichen und politischen Regulierung.

Von den Push-Pull-Dynamiken der transnationalen Arbeitsmigration ist auch der weite Bereich der Care-Tätigkeiten geprägt. Der Titel der vorliegenden Abhndlung spricht von der »Sorgearbeit«, die transnational zuwandert.

Betroffen ist der Medizinsektor, und dort insbesondere die Krankenpflege (aber auch die Wanderung von Ärzt*innen) einerseits sowie andererseits vor allem auch die Langzeitpflege im Alter sowohl im ambulanten (häuslichen) wie auch im stationären Sektor. Angesichts des sog. Fachkäftemangels sind daher in diesem Zusammenhang zunehmend auch ethische Erwägungen und die durch Politik und Recht fundierten Regulierungen der sozialen Praktiken der Anwerbungen in das Zentrum der arbeitsmarktökonomisch dominierten Diskurse gerückt.

Das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) ist zum Träger des »Deutsches Kompetenzzentrum für internationale Fachkräfte in den Gesundheits- und Pflegeberufen (DKF)« im Auftrag des BMG geworden, um Ergebnisse der »Konzertierten Aktion Pflege« im Bereich »Anwerbung aus dem Ausland« umzusetzen. Dazu gehören der »Werkzeugkoffer Willkommenskultur & Integration« und das Gütesiegel (»Faire Anwerbung Pflege Deutschland«).

Deutlich an dieser Entwicklung wird das Bemühen um eine ethisch akzeptable, weil hochwertige Qualität einer Kultur der Praktiken der Personalgewinnung von internationalen Pflegefachkräften. Diese Aktivitäten des KDA stehen hier nicht im Zentrum der Analyse, sie sind aber eine Signatur in der Konstellation der Ideen und Interessen in der aktuellen Entwicklung des Feldes. Diese Regulierungsinstrumente sind exemplarisch, besser: paradigmatisch1 für die Art und Weise, wie das Problem gesehen und bewältigt werden soll. Diese Tätigkeit des KDA ist in der vorliegenden Abhandlung nicht Gegenstand einer prädikativen und normativen Evaluation. Es geht um die ganze Tiefe und Breite der Hintergründe des Kontextes, in den diese Politik eingefügt ist.

Ist das Phänomen damit hinreichend reguliert und somit auch ethisch erledigt? Ist die eher manageriale2 Sprache der Rede von einer hochwertigen Praxis der Personalgewinnung nicht eine Maskerade, hinter der sich weiterhin problematisierbare Tiefenstrukturen, nicht nur des konkreten Feldes der Pflegepolitik, sondern der Kultur des Sozialen insgesamt, auftun?

Die vorliegende Abhandlung »problematisiert« – ein Foucault’scher Begriff3 einer komplexen Diskursanalyse und zugleich einer extrem differenzierenden Analyse der Gewebestruktur der Landschaft der Diskurse und der Kultur der sozialen Praktien – das Feld, ohne dem Wunsch nach einfachen, weil eben auch eindeutigen Antworten auf komplizierte Fragen nachzukommen und auf ein Ja oder ein Nein bzw. auf Prädikationen von Gut und Böse hinzuarbeiten. Man könnte zuspitzen: Die Eindeutigkeitserwartung verweist nicht auf Naivität, sondern auf ein schlechtes Gewissen, wobei die gespürte Schuld eine Ablass-artige Bereinigung erfordert. Die kognitive Dissonanz4 ist ausgeprägt: Man erkennt einerseits die arbeitsmarktpolitische Bedürftigkeit, bekommt aber andererseits das Gefühl nicht los, dass diese Strategie bedenklich, vieldeutig, widersprüchlich, konfliktreich, kurz: keine »reine Bereinigung« der Situation ist.

Statt also sich auf die sehnsuchtsvolle Suche nach einer einfachen Eindeutigkeit zu begeben, geht es vielmehr um die Vielstimmigkeit der Aufführung des Spieles auf diesem theatralischen Feld der gesellschaftlichen Selbstinszenierung, um die Polyphonie der Erzählungen, die hier die mitunter antagonistischen Wahrheitsspiele dieses Feldes der Verstrickungen in der komplexen globalen Welt der sozialen Interdependenzen antreiben. Es ist ein Feld, dessen Gewebestruktur geprägt ist von Ideen und Interessen, von Märkten und deren Logik, von der Politik, von Recht und Kultur, von Freiheit und Zwängen, von Träumen und Notlagen, von Verantwortung und Schuld und von sozialen Dramen im Lichte von gesellschaftspolitischen Drehbüchern, die mittels der Problematisierung rekonstruiert und eben auch ein Stück weit dekonstruiert werden müssen.

Spitzen wir die Fragestellung als herausfordernde hypothetische Sichtweise auf das Feld zu, und überlassen wir – hierzu bei Cicero5 ein Vorbild findend – die Entscheidung zu einer Positionierung sodann am Ende der Lektüre der hoffentlich hinreichend begründeten Meinungsbildung der Rezeptionslandschaft. Ich gehe mehrschrittig vor.

1.)           These


Das dominante, von der Humankapitaltheorie der Wohlfahrtsproduktion geprägte Narrativ lautet: Erreichbar wäre eine Win-Win-Situation. Das wäre eine politisch attraktive Perspektive. Theoretisch – aus der Schnittfläche von Rechtphilosophie, Ethik und Ökonomik heraus – fomuliert: Es würde sich um eine Rawlsiansche, also faire Teilmenge von Pareto-Lösungen handeln, in denen sich keiner besserstellt, indem er dadurch andere ursächlich schlechter stellen würde. Im Gegenteil: Alle stellen sich, wenn auch nicht in gleicher Stärke, besser. Es ist keine Winner-Loser-Performanz, sondern eine Sog-artige relative Winner-Struktur, die eigentlich eine einstimmige Konsenslösung indiziert. Oder sollte man die Lage der Dinge auch anders sehen können?

2.)           Antithese


Doch, so eine mögliche Antithese und um hierzu Theodor W. Adorno aus seiner »Minima Moralia« aufzugreifen, hier wird eine Lüge als Wahrheit verkauft. Auf der Oberfläche des performativen Marketing-Designs mag die Pareto-Formel stimmen. In der Tiefe einer »problematisierenden« Analyse – so unsere Arbeitshypothese – ist diese soziotechnische Perspektive der Politik als Management eine kollektive Lebenslüge. Die Wohlstandszentren als Zielregion der Migration aus den mehr oder weniger peripheren Senderegionen braucht das Humankapital als Lückenfüller, obwohl sie diesen Zuzug an sich gar nicht will; die abwandernden Menschen als Humankapital der Entsenderegion müssen aus relativer Not heraus wandern, obwohl sie andere Verbleibeperspektiven bevorzugen würden.

Es treffen also von der Seite der Nachfrage wie von der Seite des Angebots zwei im jeweiligen Kern widersprüchliche Motivlagen aufeinander.

3.)           Fazit ohne problemlösende Synthese


Die wandernde Sorgarbeit ist – zwischen Metapher und Übertragungsleistung gesprochen – die »anatolische Gastarbeit-Formation 2.0«: Die neuen Gastarbeiter sind Fremde, definierbar also als das ganz Andere der eigenen Identität, nicht wirklich gewollt, aber dringend benötigt für die Arbeit, die die eigene Population nicht leisten will, weil die Gesellschaft die angemessene Wertschätzung nicht geregelt bekommt. Zwar geht es nicht mehr6 um einige Zweige in der fordistischen Industrie und um die Müllabfuhr (als existenzial wichtige Segmente der kommunalen Daseinsvorsorge7, die aber als »primitiv«8 angesehen wurden), sondern um die Pflegearbeit.

Auch diese Pflegearbeit zählt im Europarecht als soziale Dienstleistung von allgemeinem Interesse (vgl. neben den Textfundstellen im EUV/AEUV etwa in Art. 36 der Grundrechtscharta der EU) in Analogie zur sozialen Daseinsvorsorge des Art. 28 GG des sozialen Bundessstaates des Art. 20 GG. Hier fehlt jedoch die Attraktivität für das eigene Erwerbspersonenpotenzial: Das Wohlstandszentrum als Pull-Region bietet Arbeit und Arbeitsbedingungen den Menschen der mehr oder weniger wohlstandsperipheren Push-Region an,...

Erscheint lt. Verlag 11.1.2023
Zusatzinfo 1 Abb.
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Pflege
Schlagworte Personalmangel • Pflegefachpersonal • Pflegekräfte
ISBN-10 3-17-043264-8 / 3170432648
ISBN-13 978-3-17-043264-2 / 9783170432642
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