Praxisbuch Sucht (eBook)
368 Seiten
Thieme (Verlag)
978-3-13-242941-3 (ISBN)
1 Allgemeine Grundlagen
1.1 Diagnostik und Klassifikation
Oliver Bilke-Hentsch, Anil Batra
1.1.1 Einleitung
Eine eingehende multiaxiale Diagnostik auf verschiedenen klinischen Ebenen hat für die Therapieplanung bei Patienten mit substanzbezogenen Störungen, d.h. riskantem, schädlichem oder abhängigem Konsum, eine große Bedeutung. Häufig vorkommende Vorstellungsanlässe mit akuter krisenhafter Zuspitzung (schwere Intoxikation, pathologischer Rausch, Suizidalität, aggressive Durchbrüche, delirante Zustände) und soziale Notlagen (drohende Ausschulung, Arbeitsplatzverlust, Zerbrechen der Partnerschaft, Scheidungen usw.) lassen im klinischen Alltag aufgrund des Handlungsdrucks beim ersten Kontakt oft eine breit und sorgfältig angelegte Diagnostik zur langfristigen Interventionsplanung in den Hintergrund treten.
Daher betonen die Leitlinien der wissenschaftlichen Fachgesellschaften die Notwendigkeit einer standardisierten Diagnostik, eine operationalisierte Klassifikation und Erfassung aller relevanten komorbiden Störungen. Trotz der aktuellen Überarbeitung in der ICD-11 stellen die ICD-10 (Internationale Klassifikation der Krankheiten, International Classification of Diseases, Version 10) der WHO (Weltgesundheitsorganisation) ▶ [8] sowie im angloamerikanischen Sprachraum und auch im Forschungskontext das DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of mental Disorders, Version 5) ▶ [10] die Grundlage der auch sozialrechtlich relevanten Diagnostik und Klassifikation dar.
Ergänzt werden diese Klassifikationssysteme sinnvollerweise durch klinische Interviews, standardisierte, möglichst veränderungssensitive symptom- und syndrombezogene Fragebögen und insbesondere im Kinder- und Jugendbereich auch durch fremdanamnestische Instrumente, z.B. CBCL (Child Behaviour Checklist), TRF (Teacher Report Form), sowie durch familiendiagnostische Verfahren.
Daneben gehört selbstverständlich eine eingehende allgemein-körperliche und neurologische Untersuchung dazu, nicht nur in Bezug auf aktuelle somatische Symptome, sondern auch auf chronifizierende Begleiterkrankungen wie Diabetes oder Hauterkrankungen. Die körperliche Ebene stellt ▶ im multiaxialen Klassifikationsschema für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter mit einer eigenen Achse je nach Einzelfall einen diagnostischen und interventionellen Schwerpunkt dar.
1.1.2 Allgemeine störungsbezogene Diagnostik
1.1.2.1 ICD-10 und DSM-5
Die ICD-10 kennzeichnet mit dem Code „F1“ substanzbezogene Störungen. Die Differenzierung der verschiedenen Substanzen wird mit der 2. Stelle festgelegt (F1x; ▶ Tab. 1.1 ).
Tab. 1.1 Klassifikation der substanzbezogenen Störungen nach ICD-10. Klassifikation | Substanz |
F10 | Alkohol |
F11 | Opioide |
F12 | Cannabinoide |
F13 | Sedativa/Hypnotika |
F14 | Kokain |
F15 | Stimulanzien einschließlich Coffein |
F16 | Halluzinogene |
F17 | Tabak |
F18 | flüssige Lösungsmittel |
F19 | multipler Substanzgebrauch, Konsum anderer psychotroper Substanzen |
Konsumassoziierte Zustände werden auf der 3. Stelle kodiert (F1x.y). Unterschieden werden dabei folgende Zustände:
-
F1x.0: akute Intoxikationen
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F1x.1: schädlicher Gebrauch
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F1x.2: Abhängigkeitssyndrom
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F1x.3: Entzugssyndrom
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F1x.4: Entzugssyndrom mit Delir
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F1x.5: psychotische Störung während oder nach dem Substanzgebrauch
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F1x.6: amnestisches Syndrom mit einer andauernden Beeinträchtigung des Kurz- und Langzeitgedächtnisses infolge eines Substanzmittelkonsums
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F1x.7: Veränderungen der kognitiven Fähigkeiten, des Affekts, der Persönlichkeit oder des Verhaltens (z.B. Alkoholdemenz, Flashbacks)
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F1x.8: sonstige psychische und Verhaltensstörungen
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F1x.9: nicht näher bezeichnete psychische und Verhaltensstörungen
Ein schädlicher Gebrauch nach ICD-10 wird diagnostiziert, wenn der Substanzkonsum verantwortlich für körperliche, psychische und interpersonelle Konsequenzen ist, eine klar beschreibbare Schädigung vorliegt und die übrigen, nachfolgend beschriebenen Merkmale einer Abhängigkeit nicht erfüllt sind.
Eine Abhängigkeitserkrankung ist charakterisiert durch eine Unfähigkeit zur Abstinenz, einen Verlust der Kontrolle über den geregelten Substanzkonsum, eine Toleranzentwicklung bezüglich der Substanzwirkungen und das Auftreten körperlicher Entzugssymptome ▶ [13].
Merke
Diagnostische Merkmale der Substanzabhängigkeit nach ICD-10
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starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren
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verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Substanzkonsums
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körperliches Entzugssyndrom bei Absetzen oder Reduktion des Substanzkonsums oder Substanzkonsum mit dem Ziel, Entzugssymptome zu mildern
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Nachweis einer Toleranz (um die ursprünglich durch niedrigere Dosen erreichten Wirkungen zu erzielen, sind zunehmend höhere Dosen erforderlich)
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fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums; erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen
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anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen
Bei Vorliegen von 3 dieser 6 Kriterien im Verlauf der letzten 12 Monate ist von einer Abhängigkeit auszugehen.
Das DSM-5 hat nach eingehenden kontroversen Diskussionen die bis 2013 klare kategoriale Aufteilung der substanzbezogenen Störungen aus dem DSM-IV (Einteilung von „Sucht und verwandte Störungen“ in „abhängig“ versus „nicht abhängig“ bzw. „missbräuchlichen“ oder „riskanten“ Konsum aufgegeben und eine „quasi-dimensionale“ Einteilung in „mild“, „moderat“ und „schwer“ vorgenommen. Die Störungsdiagnose berücksichtigt nunmehr eine größere Zahl von insgesamt 11 Kriterien.
Merke
Diagnostische Merkmale substanzbezogener Störungen nach DSM-5
-
wiederholter Substanzgebrauch, der zum Versagen bei wichtigen Verpflichtungen in der Schule, bei der Arbeit oder zuhause führt
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wiederholter Substanzgebrauch in Situationen, in denen es aufgrund des Konsums zu einer körperlichen Gefährdung kommen kann
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fortgesetzter Substanzgebrauch trotz ständiger oder wiederholter sozialer oder zwischenmenschlicher Probleme
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Toleranzentwicklung charakterisiert durch ausgeprägte Dosissteigerung oder verminderte Wirkung unter derselben Dosis
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Entzugssymptome oder deren Linderung bzw. Vermeidung durch Substanzkonsum
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Einnahme der Substanz in größeren Mengen oder länger als geplant
- ...
Erscheint lt. Verlag | 19.10.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Suchtkrankheiten |
Schlagworte | Abhängigkeit • Alkohol • Alkoholsucht • Biodrogen • Cannabis • Computersucht • Cue Exposure • Drogensucht • Ecstasy • Entzugssymptomatik • Hypnotika • Kognitive Therapie • Kokain • Liquid Ecstasy • Nikotin • Opiate • Pharmakotherapie • Polytoxikomanie • Psychoeduktion • Psychostimulation • Sedativa • Spielsucht • substanzassoziierte Störung • Suchtarbeit • Suchtbehandlung • Suchtentzug • Suchterkrankungen • Suchtmedizinische Grundversorgung • Suchtprophylaxe • Suchttherapie • Tabak • Verhaltenssucht |
ISBN-10 | 3-13-242941-4 / 3132429414 |
ISBN-13 | 978-3-13-242941-3 / 9783132429413 |
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