Angewandte Physiologie (eBook)
432 Seiten
Georg Thieme Verlag KG
978-3-13-244742-4 (ISBN)
Das Bindegewebe des Bewegungsapparates verstehen und beeinflussen
Dieses erfolgreiche Lehrbuch - gegliedert in vier Teile - führt Sie in die Physiologie des Bindegewebes ein. Alle mechanischen und thermischen Reize der Physiotherapie sprechen das Bindegewebe an. Kenntnisse über Strukturen und Vorgänge im Bindegewebe verbessern das therapeutische Verständnis für den Bewegungsapparat und ganz besonders für Situationen nach Verletzungen und in Heilungsphasen.
- Grundlagenwissen: Sie lernen die Bausteine des Bindegewebes kennen und die Mechanismen der ständigen Gewebeerneuerung: Synthese, Abbau und kontrollierende Regelkreise.
- Bindegewebsphysiologie der einzelnen Strukturen: Vom Knochen bis zum Muskel und Nerv werden alle an einem physiologischen Gelenk bzw. Bewegungssegment beteiligten Bindegewebsarten differenziert erklärt. Sie finden physiologische Vorgänge, aber auch ausgewählte Pathologien wie z.B. durch Degenerationen entstandene Phänomene.
- Haut und ihre vielfältigen Rezeptoren: Der Zugang zum Patienten findet in der Regel über unser größtes Organ statt. Sie lernen das komplexe System der Haut kennen und auch die Bedeutung der Thermoregulation.
Positive und negative Effekte auf unser Bindegewebe: Unsere Ernährung und ganz besonders Bewegung beeinflussen das Bindegewebe im Idealfall positiv. Überlastung und Unterforderung oder gar Immobilisation dagegen wirken sich negativ aus.
Sehr anschauliche Zeichnungen, Praxisbeispiele und Zusammenfassungen am Ende der Kapitel leiten Sie mühelos durch die komplexen und spannenden physiologischen Vorgänge
1 Grundlagen der Bindegewebsphysiologie
1.1 Einleitung
In der Physiotherapie spielt die Behandlung des Bewegungsapparates häufig eine zentrale Rolle. Strukturen, die untersucht und behandelt werden, bestehen zum größten Teil aus Bindegewebe. ▶ Abb. 1.1 zeigt eine Übersicht über die verschiedenen Bindegewebsarten unseres Körpers mit den physiotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten.
Abb. 1.1
Abb. 1.1 Übersicht über die Bindegewebsarten unseres Körpers mit den hauptsächlichen physiotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten.
Die Bindegewebsart, die traditionell im primären Fokus der physiotherapeutische Behandlung liegt, ist das straffe faserige Bindegewebe, bei dem man eine ungeformte und geformte Variante unterscheidet. Man sollte sich aber immer bewusst sein, dass es fast nie möglich ist, nur ein Gewebe zu behandeln bzw. zu beeinflussen. In den meisten Fällen werden immer gleichzeitig mehrere Gewebe mit (therapeutischen) Reizen konfrontiert.
▶ Abb. 1.2 verdeutlicht die Unterschiede zwischen ungeformtem ( ▶ Abb. 1.2, ▶ Abb. 1.2a) und geformtem straffen ( ▶ Abb. 1.2, ▶ Abb. 1.2b) Bindegewebe.
Abb. 1.2 Straffes Bindegewebe.
Abb. 1.2a ungeformtes straffes Bindegewebe, z. B. in der Gelenkkapsel.
Abb. 1.2b geformtes straffes Bindegewebe, z. B. in Sehnen.
Beim geformten straffen Bindegewebe weisen die kollagenen Fasern einen mehr oder weniger parallelen Verlauf auf. Dieser Faserverlauf entsteht, wenn Gewebe immer wieder auf die gleiche Weise und vor allem in die gleiche Richtung belastet wird. Dies trifft auf Strukturen wie Sehnen, Bänder und Aponeurosen zu. Diese Strukturen sind schlecht durchblutet und werden nach Verletzungen primär mit Friktionen und anderen durchblutungsfördernden Maßnahmen behandelt, um die Wundheilung zu optimieren.
In ungeformtem Bindegewebe verlaufen die kollagenen Fasern in unterschiedlichen Richtungen. Es kommt folglich in Strukturen vor, die in unterschiedlichen Richtungen belastet werden. Durch die unterschiedlich verlaufenden Fasern entstehen kollagene Netzwerke, die sich während Belastung entfalten und so Mobilität erzeugen können. Dies trifft auf Strukturen wie Gelenkkapseln und Faszien sowie auf das intramuskuläre und intraneurale Bindegewebe zu. Innerhalb dieses Netzwerks entstehen unter pathologischen Bedingungen (z. B. Immobilisationen) Verbindungen, pathologische Crosslinks, wodurch die normale Entfaltbarkeit der Struktur und ihre Mobilität verlorengehen ( ▶ Abb. 1.3). Physiotherapeutisch werden diese Strukturen mit Mobilisations- bzw. Dehnungstechniken behandelt. Durch Mobilisationstechniken werden die Bindegewebszellen (Fibroblasten) zu einer verstärkten Freisetzung des Enzyms Kollagenase stimuliert. Dieses Enzym ist in der Lage, Crosslinks abzubauen (Carano et al. 1996).
Abb. 1.3
Abb. 1.3 Entfaltbarkeit des kollagenen Netzwerks und Crosslinks.
Das hyaline Knorpelgewebe, das sich innerhalb synovialer Gelenke als Gelenkknorpel befindet, wird nach einer Schädigung oder bei Degeneration mit rhythmischer Druckbe- und -entlastung behandelt, um die physiologischen Regenerationsprozesse zu stimulieren. Die Bandscheibe, die aus kollagenfasrigem Knorpelgewebe aufgebaut ist, benötigt für den Nukleus und den Anulus unterschiedliche Behandlungsansätze. So braucht der Nukleus einen regelmäßigen Wechsel von axialer Druckbe- und -entlastung, der Anulus dagegen einen regelmäßigen Wechsel von Zugbe- und -entlastung, der während der Bewegungen in der Wirbelsäule entsteht.
Auch das Knochengewebe ist Bindegewebe und braucht ebenfalls die für dieses Gewebe spezifischen physiologischen Belastungsreize, um Funktion und Stabilität beizubehalten. Dabei handelt es sich vor allem um Druckbelastungen. Das bedeutet, dass alle zulässigen physiotherapeutischen Maßnahmen, bei denen der Knochen mit einer Druckbelastung konfrontiert wird, den Knochen und die Knochenzellen informieren und zu Aktivität stimulieren. Genauer gesagt ist es so, dass die Druckbelastungen, die auf den Knochen einwirken, im kollagenen Netzwerk Zugbelastungen auslösen.
Interessanterweise ist das Hauptindikationsgebiet der Physiotherapie – die Behandlung von Bindegewebsstrukturen nach einer Verletzung – nach Verletzungen des Knochens verboten. So lernt man in der Physiotherapieausbildung, dass Verletzungen eines Knochens (Fraktur) im Behandlungsgebiet eine absolute Kontraindikation darstellen. Es ist aber nachvollziehbar, dass auch ein Knochen während seiner Heilung physiologische Belastungsreize braucht (s. auch ▶ Knochen).
Embryonales und retikuläres Bindegewebe, Fettgewebe, lockeres und elastisches Bindegewebe sowie Zahnbein und Zahnzement können durch Physiotherapie nicht spezifisch beeinflusst werden.
Warum aber bei den anderen oben genannten Bindegewebsstrukturen die genannten physiotherapeutischen Maßnahmen wichtig sind, um die physiologischen Funktionen zu verbessern bzw. nach einer Schädigung wiederherzustellen, erklärt sich aus der speziellen Zusammensetzung der Bindegewebsbestandteile und den physiologischen Abläufen innerhalb ihrer Mikrostruktur. Diese Abläufe müssen Physiotherapeuten verstehen, um zu erkennen, welche Maßnahmen zur Behandlung eines Gewebes eingesetzt werden müssen, wie diese Maßnahmen wirken und was zu beachten ist, damit sie zu einem Behandlungserfolg führen.
Bevor ich im zweiten Kapitel auf jede der einzelnen Strukturen eingehe, möchte ich die allgemeinen physiologischen Abläufe im Bindegewebe beschreiben, auf deren Grundlage die jeweils spezifischen Probleme der einzelnen Strukturen verständlich werden.
Das Bindegewebe besteht aus Zellen und extrazellulären Bestandteilen, der Matrix ( ▶ Abb. 1.4). Diese bilden zusammen mit den Kapillaren eine Trias, die Grundlage aller mehrzelligen Organismen ist. Über die Kapillaren gelangt sauer- und nährstoffreiches Blut in das Bindegewebe. Die Bindegewebszellen erhalten also ihre Nährstoffe sowie den Sauerstoff über die Matrix. Diese bildet, zusammen mit der Gefäßwand, ein Sieb, das darüber entscheidet, welche Stoffe zur Zelle gelangen und welche nicht. Die Zellen können die so zu ihnen gelangenden Stoffe aufnehmen und weiter verwenden.
Abb. 1.4
Abb. 1.4 Die verschiedene Komponente eines Bindegewebes.
Die von der Zelle produzierte Matrix schützt die Zellmembran und sie selbst gegen mechanische Belastungen. Die Evolutionstheorie lehrt uns, dass Leben auf diesem Planeten im Wasser entstand, zunächst mit Einzellern. Diese Zellen, selbst mit Wasser gefüllt, befanden sich in einem wässrigen Milieu. Das hatte zur Folge, dass auf die Zelle bzw. auf die Zellmembran kaum mechanische Belastungen einwirkten. Nachdem dann später Mehrzeller und in der weiteren Entwicklung Gewebe entstanden, wurde die Zelle mit mechanischen Belastungen konfrontiert. Dies stellte eine Bedrohung für sie dar. Vielleicht war der Grund für das Entstehen der extrazellulären Matrix, dass so die Zelle vor mechanischer Belastung und damit einer möglichen Schädigung geschützt war. Die Bindegewebszellen stammen embryonal alle von der Mesenchymzelle ab, die sich nach Bedarf zu einer spezifischen Bindegewebszelle entwickelt. Zu welcher Bindegewebszelle sie sich entwickelt, ist sicherlich von vielen Faktoren abhängig wie u. a. von der Art der mechanischen Belastung, mit der die Zelle konfrontiert wird, und von der Sauerstoffversorgung im Gewebe ( ▶ Abb. 1.5).
Wird eine Zelle immer wieder mit Zug belastet, wird sie eine Matrix produzieren, die reich an Komponenten ist, die gegen Zugbelastungen schützen. Diese Zelle wird primär Fasern produzieren, vor allem kollagene Fasern des Typs I. Diese sind die dicksten und damit stabilsten kollagenen Fasern, die die Zelle bilden kann. In einer Sehne z. B. beträgt der Gehalt an Kollagen Typ I ca. 97 %. Dazu kommen ca. 1 – 2 % elastische Fasern und nur ca. 0,5 – 1 % Grundsubstanz. Die Funktion der Grundsubstanz in der Sehne ist eine Reduktion der Reibung zwischen kollagenen Fasern während der Be- und Entlastung und sie ermöglicht Diffusions- und Osmoseprozesse, die für die Ernährung vorhandener Zellen nötig sind.
Wird eine Zelle primär mit Druck belastet, wird sie überwiegend Grundsubstanz produzieren. Grundsubstanz ist durch ihre extrem hohe Wasserbindungsfähigkeit in der Lage, Druckbelastungen zu absorbieren. Im Nucleus pulposus der Bandscheibe beispielsweise beträgt der Grundsubstanzgehalt und das daran gebundene Wasser ca. 98 %. Dazu kommt ca. 1 – 2 % Kollagen Typ II, das primär die Aufgabe hat, die Grundsubstanz zusammenzuhalten und zu stabilisieren.
Die Situation im Gelenkknorpel und im Nucleus pulposus der Bandscheibe lässt sich mit einer PET-Flasche vergleichen. Leer oder nur gering gefüllt lässt sich die Flasche leicht zusammendrücken, bis zum Rand gefüllt ist sie dagegen stabil und kaum verformbar.
Abb. 1.5
...Erscheint lt. Verlag | 23.3.2022 |
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Reihe/Serie | Physiofachbuch | Physiofachbuch |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Gesundheitsfachberufe |
Schlagworte | Abbau • Bewegungsapparat • Bindegewebe • Bindegewebsphysiologie • Degeneration • Ernährung • Faszien • Gelenke • Gewebeerneuerung • Haut • Heilung • Heilungsphase • Kollagen • Kollagensynthese • Lamb • Manuelle Therapie • Physikalische Therapie • Physiotherapie • Praxisbeispiele • Rezeptoren • Sehnen • Stress • Stresshormon • Synthese • Thermoregulation • Überlastung • Unterforderung • Verletzung • Wundheilung |
ISBN-10 | 3-13-244742-0 / 3132447420 |
ISBN-13 | 978-3-13-244742-4 / 9783132447424 |
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