Biomechanik in Osteopathischer und Manueller Medizin (eBook)
408 Seiten
Georg Thieme Verlag KG
978-3-13-244388-4 (ISBN)
1 Einleitung
1.1 Allgemeine Bemerkungen
Im Folgenden werden wichtige Begriffe erläutert und prinzipielle Zusammenhänge dargestellt.
1.1.1 Begriffe und Prinzipien
1.1.1.1 Ursache-Folge(n)-Kette(n)
Die Zusammenhänge zwischen den Symptomen, mit denen ein Patient in der Praxis zur Behandlung erscheint, und deren Ursachen gilt es zu verstehen und zu erkennen, um dem Patienten nachhaltig helfen zu können. Diese Zusammenhänge beschreiben die UFK = sog. „Ursache-Folge(n)-Kette(n)“. Es gilt, das sprichwörtliche „Übel von der Wurzel her anzugehen“!
Exemplarisch seien hier einige Beispiele für UFK gegeben:
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Ein Patient leidet am „Reizdarm“, seit er in seiner Firma aufgestiegen ist und nun einen besonders stressigen Posten bekleidet.
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Ursache: Stress
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Folge(n): Das vegetative Nervensystem (VNS) wird beeinflusst und reagiert sympathikoton, daraufhin kontrahieren sich die Sphinkter des Darmtrakts (angefangen bei den Kaumuskeln), und die Peristaltik sinkt (im Stress wird die Verdauung zurückgefahren, um das Überleben zu sichern). Da der schulmedizinische Lokalbefund am Darm unauffällig ist, wird vom Hausarzt die Diagnose „Reizdarm“ gestellt.
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Kette: Die Problematik des „Reizdarms“ lässt sich am Darm nicht in den Griff bekommen, sondern muss an der Stresssituation ansetzen (Kap. ▶ 30.1.13). Ob dies nun psychotherapeutisch, mit faszialen Release-Techniken (Kap. ▶ 32.8) oder über soziale Faktoren (Arbeitsplatzhygiene, familiäre Stärkung etc.) geschieht, muss im Einzelfall nach den individuellen Gegebenheiten entschieden werden.
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Ein Patient leidet an Kniescheibenschmerzen, die ca. 2 Monate nach einem Supinationstrauma des rechten Fußes begannen und inzwischen ständig vorhanden sind, außerdem hat er gelegentliche an tief sitzenden Rückenschmerzen. Der Fuß war bereits 6 Tage nach dem Trauma wieder beschwerdefrei einsetzbar, wegen der Knieschmerzen kann der Patient nun aber nicht mehr joggen.
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Ursache: Supinationstrauma rechtes OSG (oberes Sprunggelenk)
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Folge(n): Das rechte OSG supiniert und kaudalisiert dabei die rechte Fibula, welche über den rechten M. biceps femoris Zug auf die ischiokruralen Muskeln rechts ausübt und darüber das ISG (Ilio-Sakral-Gelenk) in eine Dysfunktion Ilium Posterior rechts bringt. Diese kranialisiert die rechte SIAS (Spina iliaca anterior superior) und SIAI (Spina iliaca anterior inferior), und der Zug auf den rechten M. rectus femoris erhöht den Anpressdruck der rechten Patella, gleichzeitig bringt der M. sartorius Spannung auf den rechten Pes anserinus, was häufig für eine mediale Knieschmerzsymptomatik sorgt (aber nicht bei diesem Patienten). Durch die entstandene muskuläre Dysbalance und Reizungen rund um das Knie ist forcierte Bewegung (Joggen, Treppensteigen, Kniebeugen etc.) dann meist nicht mehr (beschwerdefrei oder überhaupt noch) möglich. Die UFK kann sich noch weiter nach kranial fortsetzen, dies wird beim Lesen des Buches deutlich.
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Kette: Die Problematik lässt sich am Knie nicht in den Griff bekommen, sondern muss an der Ursache (Blockade OSG/Fibulargelenke) ansetzen. Welche Techniken dabei zum Einsatz kommen, hängt vom Lokalbefund an OSG und den Fibulargelenken ab, es muss in jedem Einzelfall nach den individuellen Gegebenheiten entschieden werden.
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Eine Patientin entwickelt lumbale Rückenschmerzen, nachdem sie 4 Jahre zuvor wegen Fehlstellung der Frontzähne kieferorthopädisch mit einer Bissschiene versorgt wurde. Allerdings besteht bei der Patientin seit ihrer Kindheit eine (beschwerdefreie) okzipitale Kopfdeformierung, seit sie als Dreijährige von der Schaukel gefallen und mit dem rechten Hinterkopf aufgeschlagen ist.
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Ursache: Okziput
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Folge(n): Das Kiefergelenk (TMG, Temporo-Mandibular-Gelenk) wird beeinflusst und reagiert mit kontrahierten Kaumuskeln. Diese muskuläre Fehlhaltung wird vom Kieferorthopäden in die Schienenversorgung „mit eingebaut“ und so der falsche Muskeltonus verstärkt. Dies reizt u.a. über die Verbindung Temporale – Ilium (Kap. ▶ 18.3) und HWS (Halswirbelsäule) – LWS (Lendenwirbelsäule; Gesetz von Lovett; Kap. ▶ 7.5) die Muskulatur von LWS und Becken, welche verspannt und so die Bewegung der Lenden-Becken-Hüft-Region schmerzhaft verschlechtert.
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Kette: Die Problematik lässt sich am Rücken nicht in den Griff bekommen, sondern muss an der Ursache ansetzen: Zunächst muss die Spannung des Okziputs (Kap. ▶ 20.2.1) und des TMG mit den Kaumuskeln korrigiert werden, dabei die kieferorthopädische Versorgung kontrolliert und ggf. korrigiert werden (Kap. ▶ 23.5) sowie möglicherweise ein Abbau der lokalen Folgen im LWS-Becken-Bereich erfolgen. Welche Techniken konkret zum Einsatz kommen, muss im Einzelfall nach den individuellen Gegebenheiten entschieden werden.
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Grundsätzliches zu UFK
Da jeder Patient aufgrund seiner körperlichen und psychosozialen/emotionalen Individualität einzigartig ist, reagiert auch jeder Patient in unterschiedlichem Ausmaß auf ursächliche Dysfunktionen.
Je mehr der Patient in seiner Balance ist, desto besser kann er Störreize kompensieren, wodurch die von einer ursächlichen Dysfunktion ausgelösten Folgestörungen sehr umfassend vorhanden sein oder auch völlig fehlen können.
Beispielsweise kann ein Supinationstrauma im günstigsten Fall auf das OSG beschränkt bleiben, oder sich – ungünstigerweise – bis zur Schulter-Nacken-Region über den ganzen Körper verteilt sei.
1.1.1.2 Muskuläre Dysbalance
Es gibt verschiedene Gründe für einen veränderten Muskeltonus:
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Die Innervation des Muskels wird gestört (Bandscheibenvorwölbung [Protrusion] oder -vorfall [Prolaps] oder ein Impingement [jeglicher Art] drückt auf den Nerven) und verändert so den Muskeltonus, entweder als Parese mit Hypotonus oder als Spasmus mit Hypertonus. Die Tonuserhöhung des Muskels lässt ihn sich verkürzen, er liegt dann hyperton-verkürzt vor. In diesem Fall muss man die Ursache (hier: Innervation) beheben.
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Der Muskel wird (durch Stellung oder Dysfunktion seiner beteiligten Gelenke) mechanisch gedehnt und erhöht reaktiv seinen Tonus, um einem Faser- oder Bündelriss vorzubeugen. Er liegt dann gedehnt-hyperton vor. In diesem Fall muss man die Ursache (hier: Gelenk-Dysfunktion) behandeln.
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Aufgrund von Stoffwechselbelastungen, z.B. durch Übertraining oder Nährstoff-/Sauerstoffmangel, kann der Muskel ebenfalls hyperton sein.
1.1.1.3 Läsion/osteopathische Dysfunktion
A. T. Still (1828–1917) prägte den Satz ▶ [19]:
„Find the lesion, treat the lesion, and leave it alone.“
Dabei meinte Still mit „the lesion“ nicht nur die Bewegungseinschränkung (osteopathische Dysfunktion, s.u.), sondern auch alle dadurch verursachten Störungen für den Körper, also die gesamte UFK. Nach Still zählte hierzu insbesondere die Versorgung des Gewebes, was er in seinem „arterial rule“ (mit den damaligen anatomischen Kenntnissen) so formulierte ▶ [19]:
„The rule of the artery must be absolutely universal and unobstructed, or disease will be the result!“
Beachte
Aus heutiger Sicht gehört dazu die gesamte (arterielle, venöse, lymphatische und neurologische) Infrastruktur (Ver-/Entsorgung) des Gewebes, insbesondere auch der Matrix (Kap. ▶ 27.2), welche jede Zelle und die Flüssigkeiten des Gesamtkörpers einbindet und somit die Infrastruktur des gesamten Körpers reguliert.
Erscheint lt. Verlag | 5.4.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Naturheilkunde |
Physiotherapie / Ergotherapie ► Behandlungstechniken ► Osteopathie | |
Schlagworte | absteigende Ketten • aufsteigende Ketten • Bewegungen • Biomechanik • Dysfunktionen • Freiheitsgrade • Funktionelle Störungen • Manuelle Therapie • Osteopathie • Osteopathie-Ausbildung • osteopathische Praxis • Physiologie • Ursache-Folge-Ketten |
ISBN-10 | 3-13-244388-3 / 3132443883 |
ISBN-13 | 978-3-13-244388-4 / 9783132443884 |
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