Physiotherapie in der Pädiatrie (eBook)
560 Seiten
Georg Thieme Verlag KG
978-3-13-243422-6 (ISBN)
1 Elternarbeit
Daniela Blickhan, Martina Hess
1.1 Gut mit sich und anderen umgehen – Impulse der Positiven Psychologie für die Physiotherapie
Daniela Blickhan
Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein.
Voltaire, französischer Philosoph (1694–1778)
Warum haben Sie den Beruf des Physiotherapeuten gewählt? Die Bezeichnung Therapeut (altgriechisch therapeutés: der Diener, der Aufwartende, der Wärter, der Pfleger) bezeichnet laut Wikipedia den Anwender eines Heilberufes oder eines Heilverfahrens. Heilung zielt auf Gesundheit ab – was aber ist Gesundheit? Was ist das Ziel der Heilung, bei dem Sie als Therapeut unterstützen wollen?
„Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen.“ So steht es seit 1946 in der Verfassung der WHO, und wenn wir diese Definition von Gesundheit dem Berufsverständnis der Physiotherapie zugrunde legen, wird schnell klar, warum in dem Buch, das Sie hier in Händen halten und das Physiotherapeuten Orientierung in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen geben möchte, ein Kapitel über Positive Psychologie zu finden ist.
1.1.1 Warum Positive Psychologie für Physiotherapeuten?
„Positive Psychologie ist die Wissenschaft des gelingenden Lebens und Arbeitens.“ So antworte ich seit Jahren auf die mir häufig gestellte Frage: „Was ist denn eigentlich diese Positive Psychologie?“ Meist führt das zu einem verstehenden Kopfnicken, häufig auch zu interessierten Nachfragen, was denn ein „gelingendes Leben“ sei. Häufig folgt die schmunzelnde Frage, ob es denn auch eine „negative Psychologie“ gebe. Nein, natürlich nicht. Die Positive Psychologie wollte die bestehende Psychologie nie als „negativ“ abwerten, sondern sie sinnvoll ergänzen. Und zwar ganz im Geiste des bereits erwähnten WHO-Verständnisses von Gesundheit, bei dem es nicht nur darum geht, Krankheit oder Gebrechen zu lindern oder zu heilen, sondern zu einem lebenswerten, gelingenden Leben beizutragen, bei dem Menschen Erfüllung und Zufriedenheit finden. Die Positive Psychologie (im weiteren Verlauf des Kapitels mit PP abgekürzt) erforscht mit wissenschaftlichen Methoden die Grundlagen eines solchen lebenswerten Lebens und ist laut Christopher Peterson, einem ihrer Mitbegründer, „eine Wissenschaft, keine recycelte Version des positiven Denkens“ ( ▶ [5]).
Positive Psychologie als empirische Wissenschaft begann formal am Ende des 20. Jahrhunderts, also etwa vor 25 bis 35 Jahren. Ihre Ursprünge reichen aber viel weiter zurück bis zu den Philosophen der Antike wie zum Beispiel Aristoteles, der sich bereits vor mehr als 2300 Jahren mit Themen wie Glück, Sinnhaftigkeit und Tugend beschäftigte. Die Positive Psychologie zählt inzwischen zu den am schnellsten wachsenden Forschungsgebieten innerhalb der Psychologie. Kurz gesagt, geht es bei der PP um die wissenschaftliche Betrachtung dessen, was das Leben lebenswert macht. Dazu gehören sowohl Stärken, die es zu erkennen und zu fördern gilt, als auch Schwächen bzw. Widrigkeiten, mit denen man konstruktiv umgehen sollte. Im Englischen lässt sich das sehr prägnant formulieren: Positive Psychology is the Science of what goes right in Life – die Wissenschaft davon, was im Leben gut läuft. PP befasst sich also auf wissenschaftlicher Grundlage mit dem, was uns stärkt und woran wir wachsen können – und damit ist sie für Therapeuten eine ideale Ergänzung ihres professionellen Repertoires.
1.1.1.1 Worum geht es in diesem Kapitel?
In diesem Kapitel möchte ich Ihnen als (angehende) Physiotherapeuten Impulse der Positiven Psychologie anbieten, die Ihnen in ihrer Praxis und in Ihrem beruflichen Selbstverständnis nützlich sein können. Dabei geht es mir um die Anwendung bei Patienten, aber auch um Sie selbst, gerade weil Sie einen solchen helfenden Beruf gewählt haben. Als Psychologin ist mir das Paradox der Helfenden nur zu gut vertraut: Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf das Leiden der Patienten, versuchen, sie auf ihrem Weg der Heilung oder Besserung zu unterstützen und verlieren gar nicht so selten dabei uns selbst und unsere Bedürfnisse aus den Augen. Die Belastungen in diesem Berufsfeld werden nicht weniger, Kostenschrauben werden angezogen, Personal reduziert, und die persönliche Motivation war es doch eigentlich einmal, Menschen zu helfen. Also erhöht man das eigene Engagement noch weiter, und so zeigt sich – wenig überraschend – in helfenden Berufen eine hohe Burnout-Rate.
1.1.2 Die Beziehung zwischen Therapeut und Patient
1.1.2.1 „Machen Sie das bitte weg!“
Der Anlass für Ihre Begegnung mit Ihren Patienten ist im Regelfall ein defizitorientierter. Ihre Patienten leiden unter Symptomen und erhoffen sich von Ihnen Hilfe. Im Idealfall sollen die Symptome verschwinden, oder doch wenigstens weniger schmerzhaft oder einschränkend sein: „Machen Sie das bitte weg.“ Doch eine bloße Reduktion von Symptomen reicht nicht aus, und das ist genau auch eine der Kernaussagen der Positiven Psychologie: Es genügt nicht, Menschen von „minus 5“ auf „Null“ zu verhelfen. Wir müssen sie vielmehr dabei unterstützen, in den Bereich von „plus 5“ oder „plus 10“ zu kommen, und zwar unabhängig davon, ob sie eine Diagnose tragen.
Der Bereich „jenseits der Null“, also das Erleben von Zufriedenheit, Erfüllung und persönlichem Wachstum ist für jeden Menschen erreichbar. Die Forschungsergebnisse der Positiven Psychologie liefern dafür seit Jahrzehnten überzeugende Belege. Natürlich liegen auf diesem Weg unterschiedlich große Herausforderungen und Hindernisse, je nachdem, von welchem Punkt aus man startet und welcher Natur die Einschränkungen und Symptome sind. Doch selbst mit chronischen Symptomen lässt es sich in einen Bereich jenseits der Null kommen.
1.1.2.2 Stress
In der Praxis scheint der Bereich jenseits der Null allerdings oft recht weit weg. Die Patienten und ihre Angehörigen stehen durch ihre Symptome und oft auch durch die Gesamtsituation unter einer hohen Belastung. Sie erleben Stress. Und unter Stress reagieren wir Menschen anders als sonst, weniger freundlich, weniger überlegt, weniger entspannt. Betrachten wir also zunächst einmal, was bei Stress körperlich und psychologisch passiert.
Stress ist eine natürliche menschliche Reaktion, wenn wir eine Anforderung nicht einschätzen können und vor allem, wenn wir fürchten, sie nicht bewältigen zu können. Der Anlass für eine physiotherapeutische Behandlung ist oft genau das: Beschwerden und Symptome können alleine nicht bewältigt werden, sie verschlimmern sich vielleicht sogar. Die auslösende Diagnose bedeutet eine völlig neue Anforderung. Vielleicht ist sie auch mit der Erkenntnis verbunden, dass eine dauerhafte Einschränkung des eigenen Handlungsspielraums und des Alltags folgen werden. Jeder Patient und auch die Familie des Kindes oder Jugendlichen erlebt also ein mehr oder weniger hohes Maß an Stress durch die Symptombelastung. Daraus resultiert eine Stressreaktion, die sich körperlich und emotional manifestiert.
Wie wird Stress ausgelöst?
Drei Faktoren sind entscheidend für die Intensität einer Stressreaktion: Wie unerwartet kommt eine Situation, wie gefährlich scheint sie und wie schätzen wir unsere eigenen Fähigkeiten ein, damit gut umgehen zu können? Bei einer Diagnose kommen alle 3 Aspekte zusammen und verstärken sich auch noch gegenseitig:
Auch wenn die Diagnose quasi nur ein Etikett für eine Symptomlage ist, die unter Umständen schon länger besteht, so kommt sie doch fast immer unerwartet. Vielleicht, weil es die Hoffnung gab, dass doch alles wieder vorbeigehen könnte – und nun wurde es durch eine Diagnose „festgeschrieben“. Oder weil sich die Symptome schneller verschlimmert haben als gedacht.
Die Diagnose scheint für den Betroffenen gefährlich. Sie macht dem Kind oder Jugendlichen Angst – und seinen Angehörigen auch. Die Diagnose einer dauerhaften Einschränkung oder Behinderung kann für den Betroffenen und seine Familie traumatisch wirken, denn sie teilt das Leben in ein „vorher“ und „nachher“. Im Falle eines Traumas ist die Stressbelastung noch langfristiger und höher.
Wenn die Diagnose gerade erst gestellt wurde, wissen Patienten (und ihre Familien) oft noch gar nicht, wie sie mit der Situation umgehen können. Sie müssen sich im eigenen Alltag neu zurechtfinden und können oft nicht einmal...
Erscheint lt. Verlag | 8.12.2021 |
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Reihe/Serie | Physiolehrbuch | Physiolehrbuch |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Gesundheitsfachberufe |
Schlagworte | assesments • Bobath • Elternarbeit • Hilfsmittelversorgung • Kinderorthopädie • Kinderrheuma • kindliche Atemwegserkrankungen • Kindliche Entwicklung • kindliches Schädelhirntrauma • Meilensteine der Entwicklung • Motorisches Lernen • Neonatologie • Neuropädiatrie • Spina bifida • Trainingslehre • Vojta |
ISBN-10 | 3-13-243422-1 / 3132434221 |
ISBN-13 | 978-3-13-243422-6 / 9783132434226 |
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