Gewissen und Schuld -  Sabine Wöger

Gewissen und Schuld (eBook)

Wissenswertes und Praxiswerkzeuge für psychologisch Beratende
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
208 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7534-7471-7 (ISBN)
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Dieses Buch richtet sich an psychologisch Beratende und an jene Personen, deren Leben durch Schuld, Schuldgefühle oder durch die Erfahrung von Unrecht belastet ist. Neben zahlreichen fachlichen Aspekten bilden Praxiswerkzeuge für die logotherapeutisch fundierte psychologische Beratung einen wesentlichen Themenschwerpunkt. Den Geleittext zum Buch verfasste Dr. Klaus Gstirner.

DDDr.in Sabine Wöger, MMMSc, MEd, ist Gesundheitswissenschafterin und Psychotherapeutin mit einer logotherapeutischen und tiefenpsychologischen Ausrichtung. Palliative Care bildet einen Schwerpunkt ihres beruflichen Wirkens. www.sabinewoeger.at

I Über Viktor Frankl und seine
Logotherapie


Leidgeprüft durch den Holocaust


„Existenzanalyse und Logotherapie“ – die „Dritte Wiener Richtung der Psychotherapie“

Es gibt wohl keine andere psychotherapeutische Schule, deren Begründer derart radikal und tief greifend mit Gewissensfragen konfrontiert wurde, wie die von Viktor Frankl, 1905–1997. Er ist der Begründer der „Dritten Wiener Richtung der Psychotherapie“, die er nach Freuds Psychoanalyse und Adlers Individualpsychologie „Logotherapie und Existenzanalyse“ nannte (Frankl, 2002b, S. 315). Diese therapeutische Schule ist stark von den einschneidenden und todbringenden Erfahrungen rund um den Holocaust geprägt, die er und seine Angehörigen in den Jahren zwischen 1940 und 1945 erfahren mussten. Im Zusammenhang mit der lebensbegleitenden Auseinandersetzung mit Sinnfragen rund um Leid, Schuld und Tod, diese hatte bereits vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges begonnen, sprach Frankl von der „tragischen Trias“ (2009, S. 32) eines Menschenlebens. Die fortwährende Sinnsuche verwirklichte er gemäß seinem Theorem und vor allem in realen existenziell bedrohlichen Lebenssituationen, die von Zynismus, Verachtung und Gewalt geprägt waren. Insbesondere durch die konstruktive und mit einer intensiven Sinnsuche einhergehenden Bewältigung von Unrecht, das er und seine Familie durch den Holocaust erdulden mussten, gab Frankl ein eindrückliches personales Zeugnis, das hoffentlich noch vielen Generationen zugänglich sein wird.

Ein Wink des Himmels erweist sich als unüberhörbarer Sinnanruf

Der in Wien geborene Jude und Arzt Frankl erhielt 1940 die Möglichkeit, das ersehnte US-amerikanische Ausreisevisum für sein Überleben zu nutzen. Zunächst haderte er damit, ob er aus Österreich ausreisen sollte, wissend, dass er als Jude den Rassenwahn der Hitlerfaschisten wahrscheinlich nicht überleben würde. So sehr er sich im ersten Moment über das ersehnte Ausreisevisum freute, so sehr quälte ihn die Frage, welche Folgen seine Emigration für seine Eltern haben würden, denn sie standen mit ihm unter Deportationsschutz. Er überlegte: „Wo liegt meine Verantwortung?“ (BR alpha, 2017, Minute 11:47), bei seinem „geistigen Kind“ (ebd., Minute 11:59), der Logotherapie, oder lag sie darin, in Österreich zu bleiben, um die Eltern vor der Deportation zu schützen? An diesem Tag ging Frankl in den Wiener Stephansdom, um dort das tägliche Orgelkonzert anzuhören und um zu meditieren. Ohne eine Antwort auf seine Frage gefunden zu haben, machte er sich auf den Weg nach Hause, dabei immer noch auf einen „Wink des Himmels“ (ebd., Minute 12:46) hoffend. Zu Hause angekommen sah er auf dem Tisch einen Stein liegen. Frankl schildert in der berührenden Dokumentation von BR alpha (2017, Minute 12:47–14:05), was sein Vater zu ihm sagte:

Ach, Viktor, das habe ich vergessen, dir zu erzählen: Heute Vormittag bin ich um unseren Häuserblock herumgegangen und dort auf dem Terrain, wo die größte Wiener Synagoge von den Nazis niedergebrannt worden war, […] dort finde ich diesen Stein und bemerke, das ist etwas Heiliges, das darf ich nicht liegen lassen. Schau mal her, das ist ein Marmor. Darauf ist eingraviert, ganz groß und vergoldet, ein hebräischer Buchstabe. Und ich wusste sofort, das ist ein Stück von den Zehn-Gebote-Tafeln über dem Altar in der Synagoge. Und ich kann dir sogar verraten, zu welchem der zehn Gebote dieses Stück gehört, denn dieser hebräische Buchstabe dient als Abkürzung nur in einem einzigen dieser Zehn Gebote.

„Und das wäre?“, fragte ihn sein Sohn Viktor. Der Vater antwortete: „Ehre Vater und Mutter, auf dass du bleibest im Lande“ (ebd.). In diesem Augenblick beschloss Viktor Frankl, in Wien zu bleiben.

Schon der Entschluss, sich 1941 für den Verbleib in Wien zu entscheiden, und vom Ausreisevisum nach Nordamerika keinen Gebrauch zu machen, stattdessen das Deportationsrisiko und den eigenen Tod in Kauf zu nehmen, basierte auf einem starken Gewissensappell, dem Frankl letztlich folgte. Er nahm den Hinweischarakter einer „zufälligen“ Begebenheit wahr und ernst, und nicht nur das, er entschied sich in diesem Moment auch dazu, die zu diesem Zeitpunkt nicht absehbaren Folgen seiner Entscheidung mit in Kauf zu nehmen.

Das schwere Schicksal der Familie Frankl

Nachdem er 1941 die Krankenschwester Tilly Grosser geheiratet hatte, zwangen 1942 die Nationalsozialisten das Ehepaar zur Kindesabtreibung, eine der unzähligen menschenverachtenden Taten an jüdischen Frauen zur Zeit des Nationalsozialismus. Im selben Jahr wurden er, seine Ehefrau und seine Eltern in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, danach in die Lager Auschwitz, Dachau und Kaufering II. Der Alltag in den Lagern war von der Ausbeutung der Arbeitskraft, von Hunger, von Krankheiten, von desolaten hygienischen Bedingungen und von der ständigen Todesbedrohung geprägt. Vater Gabriel starb 81-jährig, sechs Monate nach der Zwangsverschickung nach Ausschwitz infolge einer Lungenentzündung (Frankl, 2002a, S. 6). Mutter Elsa verlor 65-jährig unmittelbar nach Ankunft in Ausschwitz ihr Leben im Gas. Auch Schwester Stella und Bruder Walter wurden ermordet. Im letzten KZ erlitt Frankl selbst eine Fleckfiebererkrankung. Dem Schicksal von Tilly Grosser haftet eine besondere Tragik an. Sie kam am Tag der Befreiung aus dem KZ Bergen-Belsen durch die Engländer zu einem Zeitpunkt ums Leben, zu dem ein Überleben bereits möglich gewesen wäre. Sie war extrem geschwächt, kam deswegen zu Fall und wurde von den in die Freiheit drängenden Häftlingen zu Tode getrampelt. Am 27. April 1945 wurde Frankl von US-Truppen befreit und kehrte im August 1945 nach Wien zurück, wo er vom Ableben seiner Angehörigen erfuhr.

Ich an seiner Stelle? Frankl hat tröstende Worte …

Oft denke ich darüber nach, wie ich anstelle von Viktor Frankl wohl reagiert hätte. Angenommen, ich wäre mit der grausamen Realität konfrontiert worden, dass alle meine Liebsten ermordet worden waren. Welche Antwort hätte ich auf diese Zumutung gegeben? Ich bezweifle, dass ich die menschliche Größe aufbringen könnte, mich von Hass und Rachegefühlen auf die Nazis zu distanzieren. Im Kleinen ist mir dies möglich, im Großen würde ich wahrscheinlich kläglich scheitern. Die Psychotherapeutin und Psychologin Elisabeth Lukas, geboren 1942, eine Schülerin von Frankl, fragte ihn: „Sie sind so glaubwürdig, durch das, was sie selbst gelebt haben […]. Ihnen nimmt man ab, dass man […] unter den schwierigsten Bedingungen seelisch heil bleiben kann. Aber wie sollen Ihre Schüler nun das glaubhaft machen, die ja nicht alle durch ein Konzentrationslager gehen können?“ Er antwortete: „Ach, […], jeder hat sein Ausschwitz“ (BR alpha, 2017, Minute 09:40–10:25).

Sollte ich jemals in eine ähnliche Lage wie Frankl geraten, kann ich nur hoffen, dass sein Geist mich in den Talgängen des Schicksals begleitet. Wenn ich mich mit ihm auch geistig verbunden fühle, so bedauere ich es, ihn nicht persönlich gekannt zu haben.

Frankl: „Es gibt keine Kollektivschuld!“ (Frankl, 2002b, S. 300)

Frankl setzte sich mit den Schuldbeladenen intensiv auseinander und sprach sich gegen die Kollektivschuld aus. Ausdrücklich distanzierte er sich von jeglicher kollektiven pauschalen Abwertung und Beschuldigung von Menschen. Hingegen lag ihm daran, in einem jeden Menschen Gutes wie Böses differenziert zu erkunden: „Schuld kann jedenfalls nur persönliche Schuld sein […]. Aber ich kann nicht schuld sein an etwas, das andere Leute getan haben, und seien es auch die Eltern oder die Großeltern“ (Frankl, 2002b, S. 297), und weiter: „Wen sollte ich auch hassen? Ich kannte ja nur die Opfer, aber ich kenne nicht die Täter […]. Es gibt keine Kollektivschuld“ (aus der Rede1 von Viktor Frankl am 11. März 1988; in Frankl, 2002b, S. 300). „Experimentum crucis“ (Frankl, 2002a, S. 75) bezeichnete Frankl unpathetisch die Erfahrungen in den Lagern der Nationalsozialisten, die sein weiteres Leben entscheidend prägen sollten und Anlass für die Entwicklung einer psychotherapeutischen Richtung gaben, die insbesondere den leidenden, vom Schicksal hart getroffenen und/oder schuldig gewordenen Menschen in den Fokus der Aufmerksamkeit stellte. Weil Schuld wie auch Leid und Tod zur „tragischen Trias“ (Frankl, 2009, S. 32) eines jeden Menschen gehören, keine Person dem Schuldig-Werden entrinnen kann, liegt eine zentrale Aufgabe des Lebens darin, den Auftragscharakter von Schuld zu erkennen und diesem bestmöglich gerecht zu werden.

Für das Leben, das ihm nach dem Überleben des Holocaust geschenkt war, wollte sich Frankl würdig und dankbar erweisen. Er entsagte sich jeglichem anti-deutschen Völkerhass und begegnete gar jenen Täter*innen, die sich aus der Verantwortung entzogen und/oder sich zu zweifelhaften Kompromissen bereit...

Erscheint lt. Verlag 14.6.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
ISBN-10 3-7534-7471-1 / 3753474711
ISBN-13 978-3-7534-7471-7 / 9783753474717
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