I care Krankheitslehre (eBook)
Thieme (Verlag)
978-3-13-241826-4 (ISBN)
1 Gesundheitslehre versus Krankheitslehre
1.1 Gesundheit und Krankheit – subjektiv, aber objektivierbar?
1.1.1 Definitionen
Es gibt zahlreiche Versuche, die beiden Begriffe „Gesundheit“ und „Krankheit“ zu definieren. Wenn man sich verschiedene Definitionsversuche anschaut, wird deutlich, dass dabei eine Rolle spielt, wer die Begriffe definiert, vor welchem Hintergrund und mit welcher Absicht sie definiert werden. So gibt es Definitionen z. B. aus medizinischer Sicht, aus sozialrechtlicher Sicht oder auch aus Sicht der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Welche Sicht ist die der Pflegenden? Zunächst im Folgenden ein paar der genannten Definitionen.
1.1.1.1 Definitionsmöglichkeit für Krankheit aus medizinischer Sicht
In der Medizin spielt v. a. der Vergleich mit den als „normal“ geltenden Abläufen des menschlichen Körpers eine Rolle. Dabei versucht die Medizin, objektiv nachweisbare Befunde zu erheben, die die Abweichung von dem als normal Geltenden belegen. Der Patient schildert Beschwerden (Symptome), die Mediziner versuchen herauszufinden, zu welcher bekannten Krankheit diese Symptome passen könnten, um dann mit sog. diagnostischen Verfahren Befunde zu entdecken, die eine Verdachtsdiagnose bestätigen oder widerlegen.
1.1.1.2 Definitionsmöglichkeit für Krankheit aus sozialrechtlicher Sicht
Von sozialrechtlicher Seite betrachtet spielen v. a. Beeinträchtigungen der Leistungs- und Arbeitsfähigkeit und der Selbstständigkeit eines Menschen eine Rolle. Unser Sozialsystem sieht für verschiedene Situationen Hilfestellungen vor, die rein finanziell gesehen von der Gesellschaft getragen werden. Insofern ist es aus dieser Sicht ebenfalls wichtig, dass der Zustand möglichst objektivierbar ist.
Definition
Krankheit
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medizinische Sicht: Eine Krankheit ist eine Störung der normalen physischen und psychischen Funktionen, die einen Grad erreicht, der die Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden eines Lebewesens subjektiv oder objektiv wahrnehmbar negativ beeinflusst. Die Grenze zwischen Krankheit und Befindlichkeitsstörung ist fließend.
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sozialrechtliche Sicht: Krankheit ist ein objektiv fassbarer, regelwidriger, anormaler körperlicher oder geistiger Zustand, der eine Heilbehandlung notwendig macht und eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge haben kann.
1.1.1.3 Definition Gesundheit nach der WHO
Als Sonderorganisation der UNO beschäftigt sich die WHO (World Health Organization) v. a. mit internationalen Gesundheitsprojekten, ist viel in Entwicklungsländern tätig und bemüht sich dort insbesondere auch um die Bekämpfung von Seuchen. Mit der Definition der WHO wechselt die Perspektive von der Krankheit zur Gesundheit. Gesundheit wird definiert, nicht Krankheit.
Die in ihrer Verfassung von 1946 formulierte Definition ist eine der bekanntesten Definitionen des Begriffs „Gesundheit“.
Definition
Gesundheit (WHO)
„Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“
Diese Definition eröffnet einen ganzheitlichen Blick auf die Betreuung von Patienten. Die beiden folgenden Beispiele sollen dies verdeutlichen:
Beispiel
Medizinisch gesund und trotzdem krank?
Eigentlich ist der Patient mit einer Blinddarmentzündung nach der Operation doch wieder gesund!? Die Mediziner haben das Problem professionell gelöst, und der Patient ist nach der Wundheilung vollständig genesen. Die WHO geht an dieser Stelle jedoch weiter. Sie nimmt nicht nur die Erkrankung des Menschen in den Fokus, also die Blinddarmentzündung, sondern auch die geistigen und sozialen Auswirkungen. Verpasst der Patient durch die Blinddarmentzündung ein soziales Ereignis, zum Beispiel die Hochzeit seines besten Freundes, so kann das Auswirkungen auf sein soziales Wohlbefinden haben. Dann ist der Patient im Anschluss an die Operation zwar rein somatisch wieder gesund, jedoch nicht laut der Definition der WHO: Ihm fehlt das soziale Wohlbefinden.
Beispiel
Trotz Krankheit „gesund“?
Ein anderes Beispiel zeigt, dass Gesundheit nach der WHO paradoxerweise bei Menschen mit chronischen Krankheiten durchaus erreicht werden kann. Eine Patientin mit einer Krebserkrankung kann aufgrund guter medikamentöser und physikalischer Schmerztherapie körperliches Wohlbefinden erlangen. Sie ist schmerzfrei und fühlt sich gesund. Die Familie und die Freunde der Patienten unterstützen sie, sodass von einem sozialen Wohlbefinden ausgegangen werden kann. Psychisch hat sie zu Beginn der Erkrankung stark gelitten, aber inzwischen geht es ihr auch in diesem Bereich wieder sehr gut. Sie ist zuversichtlich, die Zeit, die ihr noch bleibt, sinnvoll und lebenswert verbringen zu können. Die Erläuterung des Gesundheitszustands der WHO beschreibt diese Patientin vielleicht sogar als eher gesund als den Patienten mit der Blinddarmentzündung.
Die Beschreibung von Gesundheit durch die WHO hat aber auch zu Kritik geführt. Der Zustand der Gesundheit ist durch die 3 Faktoren des körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens sehr abstrakt und fast unerreichbar. Wichtig an der Begriffsbestimmung der WHO ist jedoch, dass sowohl die Komplexität als auch die Individualität von Gesundheit deutlich werden. So bedeutet Gesundheit bei alten Menschen – die in der Mehrzahl an Beschwerden oder Krankheiten leiden – eher eine gelungene Anpassung an körperliche, geistige und soziale Einschränkungen. „Ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens“ ist nur schlecht objektiv messbar. Jeder Mensch kann im Grunde nur selbst entscheiden, ob er gesund ist oder nicht.
1.1.1.4 Krankheit und Gesundheit aus pflegerischer Sicht
Sowohl die subjektive Sicht als auch das Verständnis der biologischen, psychologischen und sozialen Ganzheitlichkeit finden sich in der Pflege wieder. Für die Pflege sind darüber hinaus Dynamik und Ressourcen wesentliche Aspekte. Was heißt das? Dynamik besagt, dass Gesundheit und Krankheit nie absolut getrennt voneinander betrachtet werden können. Im Grunde genommen ist immer beides vorhanden. Dabei sind die gesunden Anteile als Ressourcen zu betrachten, die es zu entdecken und zu mobilisieren gilt.
Die Dynamik dieses Prozesses ist auch in der Theorie der Salutogenese von Aaron Antonovsky beschrieben. Er spricht von einem „Gesundheits-Krankheits-Kontinuum“ eines jeden Menschen.
Für Liliane Juchli, eine der führenden Persönlichkeiten der Pflege, ist Gesundheit die Ressource, also die Kraft, mit Krankheit, Leid sowie medizinischen Symptomen und Befunden umzugehen. Wenn ich Kraft habe, die Herausforderungen so zu bewältigen, dass das Leben wieder lebenswert wird bzw. bleibt, bin ich gesund. Daraus leitet Juchli als Aufgabe der Pflege ab, gemeinsam mit dem Betroffenen herauszufinden, welche Kräfte ihm hierfür zur Verfügung stehen. Die Ressourcen können körperlich, geistig, spirituell, sozial, musisch sein oder auch in anderen Bereichen liegen.
Gesundheit und Krankheit.
Abb. 1.1 Aspekte eines dynamischen Kontinuums. Gesundheit und Krankheit können nicht absolut getrennt voneinander betrachtet werden, im Grunde genommen ist immer beides vorhanden.
Im Idealfall kann das Finden und Ausschöpfen der Ressourcen dazu führen, dass Menschen nach dieser Definition gesund sind, obwohl sie aus Sicht der Medizin eindeutig krank wären. Juchli betont dabei insbesondere auch die...
Erscheint lt. Verlag | 6.5.2020 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Pflege |
Schlagworte | Arzneimittellehre • Ausbildung Pflege • Generalistik • generalistische Ausbildung • Gesundheitsberufe • ICare • Integrierte Ausbildung • Kompendium • Krankheiten • Krankheitslehre • Lehrbuch • Lehrbuch Pflege • Medikamentenlehre • Medizin • Pflege • Pflegeausbildung • Pflegende • Pflegeschüler • Pflegeschülerin |
ISBN-10 | 3-13-241826-9 / 3132418269 |
ISBN-13 | 978-3-13-241826-4 / 9783132418264 |
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