Kompendium der Sozialmedizin - Jens-Uwe Niehoff, Max-Erik Niehoff, Hoffmann Wolfgang, Henker Uwe, van den Berg Neeltje

Kompendium der Sozialmedizin

Heft 10: Perspektiven der Sozialmedizin
Buch | Softcover
233 Seiten
2020
SalusCon Akademie Verlag
978-3-948267-10-0 (ISBN)
10,00 inkl. MwSt
Diese Schriftenreihe folgt den wichtigsten Grundlagen der Sozialme- dizin. Das sind vor allem:
• Die Medizinische Demografie
• Die Allgemeine Epidemiologie
• Die Allgemeine Sozialepidemiologie
• Ausgewählte Probleme der speziellen Sozialepidemiologie
• Die sozialmedizinischen Grundlagen der Gesundheitsökonomie
• Systeme der Gesundheitssicherung
• Systeme der Gesundheitsversorgung
• Dienstleistungen, Inanspruchnahme, Regulierung und Steuerung
der Krankenversorgung (Grundlagen der Versorgungsforschung)
• Prävention und Gesundheitsförderung
• Sozialmedizinische Aspekte der Gesundheits- und Sozialpolitik
Die Orientierung auf „Grundlagen“ ist zugleich eine Einschränkung. Und es geht eher am Rande und an Beispielen um die Sozialmedizin wie sie sich spezifisch in Deutschland entwickelt hat und heute in For- schung und Praxis darstellt.
Unverkennbar gibt es bei einer solchen Orientierung auf Grundlagen jedoch ein Problem: Es besteht in der universellen Bedeutung des Forschungsfeldes Sozialmedizin und seiner dennoch eher kümmerlichen Entwicklung, auch kenntlich an der fehlenden globalen Verbreitung dieser Fachbezeichnung. Das Forschungs- wie Praxisfeld ist heute weltweit unter vielen Begriffen subsummiert und so auch parzelliert.
Der englischen Tradition aus der Mitte des 19. Jahrhunderts folgend ist es in vielen Regionen heute unter „Public Health“ in anderen als „Soziale Hygiene“, wieder in anderen z.B. als Versorgungsmanage- ment, Sozialepidemiologie, Versorgungsforschung, Medizinische Soziologie oder Gesundheitsökonomie etabliert. Die Klärung der „richtigen“ Bezeichnung ist keine Absicht dieser Hefte. Es ist allerdings die Absicht, ein Forschungsfeld und seine praktischen Implikationen darzustellen.
Von Sozialmedizin ist zu reden, weil Menschen biologische Individuen sind, die nur als gesellschaftliche (oder sozialen) Lebewesen leben können. Mehr als dies: Menschen können nur mittels ihrer gesellschaftlichen Lebensweise auch ihre Individualität entfalten. Dies hat selbstverständlich auch Folgen für die Entstehung und für die Verteilung von Krankheiten, für den Zugang zu medizinischen Hilfeleistungen und die individuelle wie soziale Folgenbewältigung von Behinderungen und die von diesen bedingten Einschränkungen.
Diese Zusammenhänge sind universell, wie sie auch spezifisch sind, je nach der Art der Lebensweisen, die menschliche Bevölkerungen teilen oder die sie voneinander unterscheiden. Soweit es sich um universelle Zusammenhänge handelt gelten sie grundsätzlich für den Menschen. Soweit sie hingegen spezifisch sind, sind sie es für die jeweiligen historischen, regionalen, zeitgeschichtlichen oder kulturellen Bedingungen.
Die Schriftenreihe beginnt mit einer orientierenden Übersicht, die auch als eine „Zusammenfassung“ gelesen werden kann.
Sie wendet sich an Studierende der Medizin, an Studierende und Experten des Public Health und des Versorgungs- und Versicherungsmanagements, vor allem aber auch an Fachärzte, die die Zusatzbezeichnungen Sozialmedizin oder Rehabilitationswesen anstreben.
Das Wissen über die biologischen und die sozialen Grundlagen menschlicher Existenz begründen die Praxis der medizinischen Wissenschaften. Die sozialen Grundlagen umfassen im Besonderen die gesellschaftlichen Lebensweisen menschlicher Gemeinschaften, die von diesen Lebensweisen geformten sozialen Strukturen mit den spezifischen Wirkungen auf die gesundheitlichen Verhältnisse.
Ein maßgeblicher Aspekt der Lebensweisen von Bevölkerungen ist ihr Zugang zu medizinischen Hilfeleistungen.
Für die Sozialmedizin sind die Ursachen sowie die Folgen des Wan- dels dieser Lebensweisen jeweils im Kontext des Wandels der gesundheitlichen Probleme sowie der gesellschaftlichen Gegebenheiten ihr Forschungs- und Praxisfeld. Bevölkerungen und ihre Strukturen sind die Objekte der Forschung.
Nicht nur die medizinischen Wissenschaften, auch die weltweit vor- findlichen Systemlösungen für ihre praktische Nutzung sind einem beständigen Wandel unterworfen. Dieser Wandel schafft ein eigenes Spannungsfeld, weil gesellschaftlicher Wandel zwar regelhaft Folgen für die gesundheitlichen Verhältnisse hat, diese aber für diesen Wan- del nicht zwingend auch normensetzend sind. Das schafft ein perma- nentes Spannungsfeld zu dem, was auch in einem gesellschaftlichen oder sozialen Kontext als Innovation bezeichnet werden kann.
Die Fragen nach der Zukunft der Gesundheit und der Krankenversorgung folgt dem gesellschaftlichen Wandel. Die Antworten auf diese Fragen sind Angebote an den gesellschaftlichen Diskurs und an die Akteure des gesellschaftlichen Wandels.
Innovation ist mit J. Schumpeter (1883-1950) eine beständige De- struktion des „Alten“. Sowohl die sozialmedizinische Forschung wie die Praxis der Sozialmedizin müssen sich mit dieser „Destruktion“ auseinandersetzen, sie ggf. forcieren und Alternativen prüfen.
Allerdings: das setzt neue mehrheitlich akzeptierte Lösungen voraus und auch Mechanismen, für die Sicherung einer solchen „Mehrheit“ im Dschungel von partikularen Interessen und ihren „Mehrheitsma- chern“. Wandel folgt bestenfalls zeitversetzt dem innovativen An- spruch von Wissenschaft.
Es ist immer auch die Frage zu beantworten, wie mehrheitliche Kon- sense entstehen, wie diese gegen Partikularinteressen geschützt und gefördert und bei positiver Bewährung auch erhalten werden können.
Und natürlich: Auch der Wandel sozialmedizinischer Fragestellungen und Aufgaben hat seine eigene Geschichte. Diese ist Spiegel des gesellschaftlichen Wandels und zugleich Reflex auf ihn.

Vorwort Die Schwäche der Sozialmedizin und deren letztlich weltweit nicht vorhersagbare Perspektiven sind der Anlass, die Zukunft des Faches im Rahmen dieses Kompendiums abschließend zu thematisieren. Sozialmedizin und Sozialhygiene sind als medizinische Entitäten Kinder des Zeitalters der industriellen Revolutionen. Diese bewirkten neue soziale Chancen wie auch Gefährdungen und Konflikte. Das intellektuelle und politische Ringen um das Verständnis der Zeit mit ihren neuen Erfordernissen und ihren sozialen Verwerfungen und deren Folgen vor allem auch für die Gesundheit bedurften der Analyse. Neue gesellschaftliche und vor allem existenzielle Handlungszwänge verlangten neue soziale Ordnungen und Deutungen der tiefen sozialen Widersprüche. Sie erzwangen zudem die Begrenzung der sozialpolitischen Interessenkonflikte. In diesem Umfeld entstanden im Westeuropa des 19. Jahrhundert die beiden Fachgebiete. Die Namensgebungen sind nicht sicher zuzuordnen. Der franzö-sisch-belgische Orthopäde J.R. Guérin (1801-1886) ist aber zwei-felsfrei einer ihrer frühen Protagonisten. Guérin glaubte, eine unent-geltliche Versorgung der Pariser Armenkinder mit Milch könne der Rachitis vorbeugen (J. Guérin, Médicine sociale au corps médical de France. Gazette Médicale de Paris, 11.03.1848). Diese Erinnerung mahnt, dass auch beste Absichten einer belegbaren wissenschaftli-chen Evidenz bedürfen. Die Zukunft der Sozialmedizin wird auch künftig nur in ihrer for-schenden Kompetenz gründen können. Diese Kompetenz muss sie an der Schnittstelle von Medizin und Gesellschaft beweisen, durch Fragen, durch Empirie und durch Antworten. Das in vielen Staaten fehlende Förderinteresse für eine Wissenschaft, die die Wechselwirkungen von gesellschaftlichem und gesundheitlichem Wandel untersucht, ist ein wichtiger Grund ihrer Schwäche. Eine solche Wissenschaft kann schließlich nur für öffentlichen Ärger gut sein und für nicht mehr. Die absehbaren Brüche in den Lebensweisen werden die globalen Gesellschaften erneut erheblich verändern. So werden auch die Fragen zu den Wechselwirkungen von Gesellschaften und Gesundheit wieder drängender. Ein neuer sozialer Gestaltungsdruck wächst heran. Dieser wird auch den Schutz der Gesundheit und die Hilfen für Kranke sowie weiterhin und erneut die soziale Friedenssicherung betreffen. Neben ihren analytischen Beiträgen zu den medizinischen und zu den Gesundheitswissenschaften wird die Zukunft der Sozialmedizin von ihrer akzeptierten Funktion in den sich wandelnden Sys-temen der Gesundheitssicherung und -versorgung bestimmt werden. Ihre Aufgaben folgen dem politischen Willen, eine Form der Krankenversicherung aufzubauen oder fortzuführen, die kollektiv gesichert wird. Ist dieser Wille gegeben, werden kollektiv getragene Ver-sicherungen zwingend durch normierte Bedarfe reguliert werden müssen, und das öffentliche Leben wird neuer gesundheitsschützender Ordnungsentwürfe bedürfen. Gibt es diesen Willen nicht, wird einem großen Teil der Weltbevölkerung der Schutz der Gesundheit und der Zugang zu professionellen Hilfen im Krankheitsfall versagt bleiben. Neben den Aufgaben in der Forschung, ist es die Garantie eines allgemeinen Zugangs zur Krankenversorgung, die das Fachgebiet prägt und trägt. Von der Bereitschaft, eine solche allgemeine Zugänglichkeit im Bedarfsfall zu sichern, wird dann auch die Zukunft der So-zialmedizin bestimmt werden. Dieser Bereitschaft stehen global wirkmächtige Lobbyisten einer deregulierten Welt gegenüber. Die Zugangssicherung zu medizinischen Hilfen steht so im Spannungsfeld der Alternativen sozial, ökologisch und ökonomisch „regulierender“ oder „deregulierender“ Politikkonzepte. Ohne einen evidenzgesicherten normativen Rahmen bedarf die Praxis der Prävention und der Krankenversorgung auch keiner spezifischen sozialmedizini-schen Fachkunde. Die Praxisaufgaben der Sozialmedizin folgen dem Charakter der Gesundheitspolitiken. Das Fachgebiet ist dann Akteur oder Kritiker. Die Art und Weise wie der Risikoschutz für den Krankheitsfall organi-siert wird, variiert weltweit. Selbst, wenn sich die Systeme global annähern sollten, kann kaum unterstellt werden, die verfügbaren Ressourcen und die Akzeptanz für deren Verwendungen seien in den globalen Bevölkerungen künftig gleich. Die Kluft zwischen egalitärem Zugang zur Krankenversorgung und den verfügbaren Ressourcen kann nur durch Innovationen geschlossen werden – durch soziale und durch technische. Zumindest darf angenommen werden, dass die zunehmende Asymmetrie der bevölkerungsbezogenen Bedarfe die Akzeptanz kollektiv finanzierter Versorgungssysteme nicht un-berührt lassen wird. Es ist folglich eine dauerhafte Aufgabe, deren Notwendigkeit zu belegen und die soziale Wirksamkeit der kollektiv getragenen Mitteleinsätze zu einem Evaluations- und Bewertungsthema zu machen. Zukunftssicherung heißt auch Innovationsbereitschaft. Diese bezieht sich auf sehr viel mehr als nur auf medizinische Interventionsmethoden. Sie bezieht sich ebenso auf neue Infrastrukturen für Hilfeleistungen und auf neue, bzw. zu revidierte Konzepte zu deren wirtschaftlicher Absicherung. Die Penetration neuer Interventionsmethoden scheitert leicht an der Unfähigkeit, ihrer potenziellen Effektivität auch geeignete Voraussetzungen zu schaffen. Mit Joseph Schumpeter (1883-1950) ist dann Innovation, die beständige kreative Destruktion des Alten – auch bezüglich der gesellschaftlichen Voraussetzungen für das Neue. Die Perspektiven der Sozialmedizin werden letztlich auch darüber entscheiden, welche evidenzgesicherten Chancen die Heilberufe bei der Mitgestaltung der Zukunft gemeinsam mit anderen Interessengruppen oder auch in Konkurrenz zu diesen haben werden. Das wirft unvermeidbar die Frage auf, von wem die Gestaltung der Krankenversorgung wem übertragen oder mangels Interesses überlassen wird und welche Ziele jeweils die einen und die anderen Akteure ver-folgen. Dies wird sich letztlich mit den Antworten auf zwei Fragen klären: 1. Welche Ziele der Krankenversorgung sind in den globalen Bevölkerungen vereinbarungsfähig? 2. Kann, soll oder muss die Kommerzialisierung der medizinischen Versorgungsziele, verbunden mit der Entstehung gewaltiger und weltweit agierender Anbietertrusts verhindert oder vorangetrieben werden? Diese beiden Fragen sind von einer Fachwissenschaft nicht zu beantworten. Die gegebenen Ant-worten muss sie aber auf der Grundlage ihrer analytischen Kompetenz und aus der Perspektive konsentierter Ziele kommentieren. Die Perspektiven der Sozialmedizin werden dann nicht zuletzt von der Fähigkeit abhängigen, die für solche Kommentare notwendigen Kompetenzen vorzuhalten. Wenn dieses abschließende 10. Heft des Kompendiums der Zukunft der Sozialmedizin gewidmet ist, dann sind Annahmen zur Zukunft der globalen Lebensweisen sowie zu den mit ihnen verbundenen sozial-strukturellen Differenzierungsprozessen von Bedarfen, Interessen und Entscheidungskompetenzen notwendig. Die Absicht, zu solchen Annahmen eine Diskussion zu führen, bleibt jedoch in vier Aspekten spekulativ: 1. Wir wissen wenig über die Gestaltungspotentiale des künftigen Wandels der Lebensbedingungen und über die Folgen dieses Wandels für die globalen Bevölkerungen. 2. Wir wissen wenig über unsere Anpassungspotenziale an sich ändernde ökosphärische Lebensbedingungen. 3. Wir wissen auch wenig über die durchsetzungsfähigen und die Zukunft gestaltenden Kräfte und deren Legitimation. Und 4. wissen wir wenig über die langfristigen Folgen unseres bisherigen, heutigen und künftigen Tuns für das Leben auf dem Planeten Erde. Die Autoren dieses 10. Bandes können diese Zukunftsunsicherheiten nicht auflösen. Dieses Heft kann so nur eine Folge von zu diskutierenden Thesen zu den vermuteten künftigen sozialmedizinischen Arbeitsfeldern anbieten.

Erscheinungsdatum
Reihe/Serie Kompendium der Sozialmedizin ; 10
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Maße 147 x 210 mm
Themenwelt Medizin / Pharmazie Studium
Schlagworte Epidemiologie • Sozialmedizin • Versorgungsforschung
ISBN-10 3-948267-10-3 / 3948267103
ISBN-13 978-3-948267-10-0 / 9783948267100
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