Projektive Diagnostik bei Kindern, Jugendlichen und Familien (eBook)
414 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-035060-1 (ISBN)
Dr. med. Dipl.-Psych. Franz Wienand ist Psychoanalytiker und als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Böblingen niedergelassen.
Dr. med. Dipl.-Psych. Franz Wienand ist Psychoanalytiker und als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Böblingen niedergelassen.
4 Kreativität, Imagination und Symbolisierung
4.1 Kreativität
Erstaunlicherweise wurden in den bisherigen Debatten über Sinn und Wert projektiver Diagnostik die Bedeutung von Kreativität, Vorstellungskraft und Symbolisierung so gut wie nicht erwähnt, obwohl sie eine entscheidende Rolle spielen. Projektive Verfahren fordern zu einer Gestaltung heraus, sei es in Form einer Zeichnung, einer Geschichte oder der Gestaltung einer Szene im Sandspiel oder Scenotest.
Damit wird im Probanden ein spielerischer, kreativer, gleichsam poetischer Prozess [von gr. ποίησις (poiesis) = »das Handeln, Machen, das Verfertigen, das Dichten«, n. Liddell et al. 1940] in Gang gesetzt, begleitet von einer Wendung nach innen (Wie mache ich das jetzt?) und der Aktivierung der Vorstellungskraft oder Phantasie. Phantasie [von gr. φαίνειν (phainein) = »sichtbar machen, in Erscheinung treten lassen«, n. Liddell et al. 1940] ist laut Duden die »Fähigkeit, Gedächtnisinhalte zu neuen Vorstellungen zu verknüpfen«. Diese Definition verweist auf die neurobiologische Basis der Vorstellungskraft: Schon ohne therapeutische Einflussnahme ist »unser Gehirn […] unablässig neuronal aktiv und baut dabei geistige Inhalte auf, die im Zustand der Abschirmung äußerer Reize und einer damit einhergehenden Innenorientierung zu sensorischen Wahrnehmungen führen. […] Unter Bedingungen regressiverer Art reichert sich das innere Erleben um weitere Qualitäten an« (Ullmann 2012, 21).
4.2 Imagination
Manche Verfahren wie z. B. der Rosenzweig Picture Frustration Test erfordern eine möglichst spontane, rasche und unmittelbare Reaktion. Hier beeinflussen in erster Linie vorbewusst bereitliegende, auf individuellen Mustern des Wahrnehmens, Urteilens und Verhaltens beruhende Schemata die Antworten. Bei den Zeichentests und spielerischen Gestaltungsverfahren hat der Proband demgegenüber Zeit, sich auf sein Inneres zu konzentrieren. Welchen Grad an Entspannung und Versenkung ein Proband bei einem projektiven Test erreicht, wird von seiner Bereitschaft bzw. Abwehr, der Haltung des Untersuchers und von der äußeren Situation beeinflusst. Die Spannbreite reicht von der auf die optische Dimension beschränkten Visualisierung bis zur Imagination im engeren Sinn, der »Umsetzung von Erlebnisinhalten in psychische Vorstellungen von sinnlicher und real anmutender Qualität« (Ullmann 2012, 23), die gedankliche und bildhafte Vorstellungen, motivationale und körperliche Zustände und ihre Interaktionen umfassen.
Eine entspannte und reizarme Situation, in der die Einflüsse der Außenwelt zurücktreten, ein wohlwollendes Beziehungsklima ohne Leistungsanspruch und die entsprechende Instruktion schränken die kognitive Kontrolle ein und fördern unter günstigen Umständen die Induktion eines leichten Trancezustandes. Der Zugang zu unbewussten Inhalten und primärprozesshaften Vorgängen wird so erleichtert. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich mehr oder weniger vom Wachbewusstsein (Sekundärprozess) weg auf den Primärprozess hin, wodurch die zugehörigen Prozesse wie Verschiebung, Verdichtung, assoziatives Verknüpfen und Symbolisierung aktiviert werden.
Sekundärprozess (Bewusstsein, Ich und Über-Ich, Realitätsbezug, kortikale Kognition, Planung und Kontrolle) und Primärprozess (Unbewusstes, Es, subkortikale Affekte, Assoziationen, Triebimpulse, Lustprinzip) sind keine Gegensätze, sondern stellen ein Kontinuum dar. Stigler und Pokorny (2008, 295) charakterisieren Primärprozess (PP) und Sekundärprozess (SP) wie folgt (kursiv im Original):
• »Der PP entwickelt sich lebenslang und beteiligt sich zu jedem Zeitpunkt am psychischen Geschehen als ein dem Sekundärprozess paralleler und komplementärer Modus. Es geht also nicht darum, ist jetzt der PP oder der SP am Zug, sondern in welcher Proportion stehen jetzt PP und SP zueinander.
• Der PP arbeitet im Dienste des Selbst, indem er Identität, Kohärenz und Kontinuität aufrechterhält: Er verarbeitet alles aktuell Erlebte in der Tiefe und nachhaltig. Der SP stellt sich in den Dienst der Realität: er sorgt im akuten Geschehen für effizientes Planen und Handeln.
• Den PP charakterisiert umfassendes Erleben des Ganzen; den SP selektives, fokussierendes, aus dem Ganzen herausschneidendes Erleben.
• Unverändert seit Freud verbleibt die Vorstellung, dass der PP mit den Mechanismen von Verschiebung und Verdichtung arbeitet und häufig mit verändertem Zeit- und Realitätserleben einhergeht.«
Im Ineinandergreifen von Sekundär- und Primärprozess werden die bildhaften Vorstellungen des Probanden sowohl von seiner aktuellen psychischen und körperlichen Verfassung als auch von den durch die Testinstruktion aktivierten Inhalten des deklarativen episodischen Gedächtnisses beeinflusst.
4.3 Symbolisierung
Wie Imaginationen re-präsentieren die Gestaltungen in projektiven Verfahren somit die vergangene, erinnerte und gegenwärtige Realität eines Probanden auf einem mehr oder weniger komplexen symbolischen Niveau. Symbole unterscheiden sich von Zeichen:
Ein Zeichen steht in direktem Verhältnis zu dem Bezeichneten, in dem sich seine Bedeutung im Allgemeinen erschöpft, wie etwa bei einem Verkehrs- oder Hinweiszeichen. Die inzwischen weltweit verbreiteten Piktogramme und Emoticons sind aufgrund ihrer Eindeutigkeit international verständlich und begleiten und erleichtern so den Prozess der Globalisierung unseres Daseins.
Ein Symbol verweist hingegen auf ein komplexes Bedeutungsfeld, das sich im Prinzip nicht vollständig erklären oder beschreiben lässt. Symbole überwinden Gegensätze und sind daher grundsätzlich mehrdeutig. Das Symbol stellt eine Repräsentation dar: Es verweist auf etwas anderes, das nicht angezeigt wird, sondern abwesend ist, aber im Symbol wieder vorgestellt, also (re-)präsentiert wird (Balzer 2006). In psychoanalytischer Sicht überwinden Symbole die Trennung (wie das Kuscheltier des Kindes die abwesende Mutter repräsentiert und dadurch trösten kann), die andererseits Voraussetzung und Anreiz zur Symbolbildung ist (das real Vorhandene braucht nicht symbolisiert zu werden). Symbole wie etwa die Sprache oder Bilder bilden das Material jeder Kultur. In der psychischen Entwicklung machen die Fähigkeit zur Symbolbildung und -verwendung das Kind unabhängig von der realen Erfahrung und dem Vorhandensein der Objekte. Damit wird Denken möglich, sich etwas vorstellen, Trost, Hoffnung, sich vorerst etwas versagen – Grundlagen für Motivation, Kommunikation, Identitäts- und Autonomieentwicklung, Gewissensbildung, Triebverzicht, Frustrationstoleranz, Arbeits- und Beziehungsfähigkeit, Gestaltungskraft und damit für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung.
Symbolisierung spielt vor allem bei den zeichnerischen und Gestaltungsverfahren eine wesentliche Rolle. Die Fähigkeit zur Symbolisierung wird mitbestimmt von der kognitiven Entwicklung (Piaget 1993, 19 ff), aber auch von den Bindungserfahrungen eines Kindes. Nach Dornes (2002, 203 f) bildet sich die Fähigkeit zur Regulation von Gefühlen im Spiel des Kindes durch Externalisierung seines inneren Zustandes in die Spielfiguren aus, mehr noch aber durch die Verinnerlichung der begleitenden Kommentare der Eltern zum kindlichen Spiel. Die Kenntnis der Entwicklung der Symbolisierungsfähigkeit spielt eine wesentliche Rolle bei der Einordnung von Gestaltungen im Kindesalter. Die Fähigkeit zur Symbolbildung ist wie die Entwicklung der Intelligenz, deren Teil sie darstellt, eine Funktion der Reifung und von individuellen Erfahrungen, insbesondere von sozialen oder Beziehungserfahrungen. In der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres entwickelt das Kleinkind eine symbolische Vorstellung von verschwundenen Objekten, die es sich jetzt bildhaft vorstellen und durch Nachdenken und Verstehen wiederfinden kann. Dieses Stadium der permanenten Objektkonstanz, der letzte Abschnitt der sensomotorischen Entwicklung nach Piaget (1975), bereitet die Entwicklung der verbalen Intelligenz vor, die mit dem Stadium der präoperativen Repräsentationen (2.–6. Lj.) beginnt und über das Stadium der konkreten Operationen (anschauliches Denken, 6.–11. Lj.) zum Stadium der formalen Operationen (abstrakt-logisches Denken, 11.–16. Lj.) führt. Das Auftauchen der Symbolfunktion ist die wesentliche Voraussetzung für die präoperationale Phase, in der das Kind lernt und übt, andere nachzuahmen,...
Erscheint lt. Verlag | 12.12.2018 |
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Mitarbeit |
Assistent: Michael Günter, Gabriele Meyer-Enders, Monika Wienand |
Zusatzinfo | 43 Abb., 6 Tab. |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Allgemeines / Lexika |
Schlagworte | Bindungsdiagnostik • Familientherapie • Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie • projektive Verfahren • Psychodiagnostik • Psychodynamik • Psychotherapie • Unbewusstes |
ISBN-10 | 3-17-035060-9 / 3170350609 |
ISBN-13 | 978-3-17-035060-1 / 9783170350601 |
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