Erfahrungsschatz Notfallmedizin (eBook)
268 Seiten
Georg Thieme Verlag KG
978-3-13-241545-4 (ISBN)
1 Status epilepticus am Bahnhof
Sebastian Casu, David Häske
1.1 Einsatzmeldung
„Epileptischer Krampfanfall“
1.2 Klinischer Fall
Ein 38-jähriger Patient liegt am Bahnhof auf dem Boden und scheint einen Krampfanfall zu haben. Passanten werden auf den Mann aufmerksam und alarmieren den Rettungsdienst. Die Leitstelle entsendet mit dem Einsatzstichwort den Rettungsdienst inklusive Notarzt. Die am Klinikum stationierten Einsatzkräfte erreichen nach 4 Minuten zeitgleich den Einsatzort. Der am Boden liegende Mann zeigt nach erster Einschätzung das klinische Bild eines generalisierten, tonisch-klonischen Krampfanfalls. Der Mann scheint in einem schlechten und verwahrlosten Allgemeinzustand zu sein und wird als potenziell kritisch eingestuft. Nach Sicherstellung eines adäquaten Eigenschutzes beginnt das Notfallteam mit der Versorgung des Patienten. Die Atemwege sind frei, werden jedoch bei schnarchenden Atemgeräuschen und schaumigem, weißem Sekret vor dem Mund als gefährdet eingestuft. Eine Absaugbereitschaft wird hergestellt. Es findet sich keine Zyanose, die Atmung ist schnell (Atemfrequenz ca. 24/min) und flach. Die Lungen bieten auskultatorisch ein seitengleich vesikuläres Atemgeräusch. Der Patient erhält initial 15 Liter/min Sauerstoff über eine Sauerstoffmaske mit Reservoir. Aufgrund des Krampfes ist ein Puls im Bereich der A. radialis nicht gut beurteilbar. Zentrale Pulse sind gut tastbar, rhythmisch und tachykard (ca. 140/min). Die Rekapillarisierungszeit liegt unter 2 Sekunden. Die Pupillen sind isokor und reagieren beidseits regelrecht auf Licht. Der Patient ist wach und allseits orientiert bei einer Glasgow-Coma-Score (GCS) von 15. Er berichtet unter dem persistierenden Bild des tonisch-klonischen Krampfanfalls, solche Krämpfe häufiger zu erleiden. Gleichzeitig fügt er hinzu, dass eine Standardtherapie wie beispielsweise Lorazepam nicht ausreiche, um einen solchen Status adäquat zu behandeln. Er benötige Trapanal, um die Krämpfe zum Stillstand zu bringen. Basierend auf den Aussagen des Patienten und dessen Vorerfahrungen entschließt sich der Notarzt dazu, einen periphervenösen Zugang zu legen und auf eine orale, bukkale oder nasale Gabe von Benzodiazepinen zu verzichten. Die Anlage eines Zugangs erweist sich als äußerst schwierig. Die Frage nach Drogenkonsum verneint der Patient und offensichtliche Einstichstellen sind nicht zu sehen. Trotz mehrerer Versuche gelingt es dem Notfallteam nicht, einen periphervenösen Zugang zu etablieren. Hierdurch entsteht eine zunehmende Stresssituation, da der weiterhin krampfende Patient einfordert, dass ihm endlich geholfen wird. Das Notfallteam bespricht in einem kurzen Team-Time-Out das weitere Vorgehen. Motiviert durch den Vorschlag des Patienten entschließt man sich zur präklinischen Anlage eines zentralvenösen Zugangs, um das als dringend notwendig vermutete Thiopental (Trapanal) applizieren zu können. Unter erschwerten Bedingungen schlägt der erste Versuch fehl. Erst im zweiten Versuch kann ein zentraler Venenzugang gelegt und Thiopental appliziert werden. Erst nach Gabe von 750mg kommt es zu einer dezenten Vigilanzminderung des Patienten und zum Sistieren des Krampfanfalls. Eine suffiziente Spontanatmung bei fortgesetzter Sauerstofftherapie bleibt weiterhin erhalten. Unter engmaschigem Monitoring wird der Patient nun in die 4 Minuten entfernte Klinik transportiert und im Schockraum übergeben. Den Kollegen ist der Patient aus vorhergehenden Einlieferungen bereits einschlägig bekannt. Dem Notarzt wird berichtet, dass der Patient unter Polytoxikomanie leide und in immer kürzer werdenden Abständen verschiedene Symptome wie beispielsweise Krampfanfälle vortäusche, um dadurch die Möglichkeit einer Medikamentengabe zu erzielen.
1.3 Konsequenzen für den Patienten
Abgesehen von der Tatsache, dass die Gabe von Trapanal eventuell hätte vermieden werden können, muss die Indikation des zentralvenösen Katheters unter erhöhtem Risiko im präklinischen Umfeld kritisch hinterfragt werden. Die Folgen für den Patienten sind in diesem Fall unklar. Der Transport in die Klinik war sicherlich angebracht. Retrospektiv muss allerdings die Frage gestellt werden, ob eine alternative Klinik mit zusätzlicher Möglichkeit einer psychiatrischen Betreuung geeigneter für den Patienten gewesen wäre.
1.4 Interpretation aus Sicht des Notfallmediziners
In der präklinischen Behandlung generalisierter Krampfanfälle steht die symptomatische Behandlung im Vordergrund ▶ [1]. Dies ist nicht zuletzt dadurch begründet, dass durch die eingeschränkten diagnostischen Möglichkeiten im außerklinischen Umfeld die zugrunde liegenden Ursachen nicht ausreichend untersucht werden können. Dennoch sollte niemals außer Acht gelassen werden, dass generalisierte Krampfanfälle unterschiedliche Ursachen haben können, die insbesondere bei erstmaligem Auftreten durch eine stationäre Diagnostik aufgearbeitet werden müssen. Hierbei ist es wichtig, auf das Umfeld des Patienten während der präklinischen Versorgung zu achten und alle Informationen bei Übergabe in der Klinik zu kommunizieren. Durch diese Zusatzinformationen kann ein wichtiger Beitrag für die Ursachenforschung geleistet werden. Mittel der Wahl in der Initialbehandlung des Status epilepticus ist Lorazepam (Tavor) ▶ [2]. Es kann nicht nur intravenös, sondern auch bukkal oder über ein Mucosal Atomization Device (MAD) nasal appliziert werden. Dadurch kann trotz erschwerter Anlage eines periphervenösen Zugangs umgehend eine Initialtherapie begonnen werden. Persistiert der Krampfanfall trotz ausreichender Dosierungen des ausgewählten Benzodiazepins, kommen in der weiteren Therapie Phenytoin und Levetiracetam in Betracht. Als Ultima Ratio gilt noch immer die Notfallnarkose mittels Barbituraten (Thiopental 500–1000mg). Im vorliegenden Fall müssen mehrere Entscheidungen infrage gestellt werden. Untypisch ist das Vorliegen eines klinisch imponierenden, generalisierten tonisch-klonischen Krampfanfalls bei gleichzeitig vollkommen vigilantem Patienten, der formal eine GCS von 15 aufweist und sich zu allen Qualitäten orientiert zeigt. Hier hätte das Notfallteam bereits kritisch die von Beginn an verfolgte Diagnose infrage stellen müssen. Weiterhin sind Informationen von Patienten zwar ausgesprochen wichtig und müssen auch unbedingt erfragt werden. Doch sollten nicht nur Befunde erhoben werden, sondern diese müssen auch kritisch auf ihre Plausibilität geprüft und unklare Zusammenhänge hinterfragt werden. In diesem Fall wurden durch den Patienten bewusst falsche Informationen an das Notfallteam kommuniziert, um sicherzustellen dass er mit Medikamenten therapiert wird, die seine Sucht befriedigen.
1.5 Weiterführende Gedanken
In diesem Fall nahm der Patient keinen Schaden. Dennoch unterlag das Notfallteam einem Fixierungsfehler. Dieser entsteht insbesondere durch klinisch präsentierte Beschwerden, die einem häufig vorkommenden Erkrankungsbild in der Notfallmedizin zugeordnet werden können und nicht selten auch durch die Leitstelle bereits entsprechend interpretiert und formuliert werden. Insbesondere in solchen Fällen ist Weitblick gefragt, da sich bei Vorliegen alternativer Diagnosen die medizinischen oder organisatorischen Maßnahmen maßgeblich unterscheiden können. Mögliche Differenzialdiagnosen müssen deshalb von Beginn an mit in Betracht gezogen werden. Wichtige Hinweise von Therapieoptionen durch betroffene Patienten, die mit ihrem Krankheitsbild häufig ausgesprochen vertraut sind, können hilfreich sein und müssen nicht stets zu negativen Beeinträchtigungen des Einsatzablaufes führen. Dennoch muss die letztliche Therapieentscheidung nach kritischer Evaluation gesammelter Befunde und Informationen vom behandelnden Notfallmediziner ausgehen.
Take Home Message
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Vermeidung von Fixierungsfehlern und der Einbezug von Differenzialdiagnosen sind eine alltägliche Herausforderung.
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Erweiterte Maßnahmen in der Präklinik sollten stets nur dann angewendet werden, wenn vergleichbar gute Ziele nicht mit weniger invasiven Maßnahmen erzielt werden können und der rasche Transport in die nächstgelegene geeignete Klinik nicht als Alternative infrage kommt.
1.6 Literatur
[1] Lowenstein DH, Alldredge BK, Allen F, et al. The prehospital treatment of status epilepticus (PHTSE) study: design and methodology. Control Clin Trials ...
Erscheint lt. Verlag | 7.11.2018 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Notfallmedizin |
Schlagworte | Anästhesiologie • CIRS-AINS-Datenbank • CIRS-AINS-Datenbank, • Critical Incident Reporting System • Ersteinschätzung • Fehler • Fehleranalyse • Fehler und Irrtümer • Intensivmedizin • Kasuistiken • Komplikationen • Kritische Ereignisse • Notfallmedizin • Notfallversorgung • Reevaluation • Rettungsdienst • Rettungsleitstelle • Schockraum • Triage • Zentrale Notaufnahme |
ISBN-10 | 3-13-241545-6 / 3132415456 |
ISBN-13 | 978-3-13-241545-4 / 9783132415454 |
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