Sportphysiotherapie (eBook)
664 Seiten
Georg Thieme Verlag KG
978-3-13-242437-1 (ISBN)
1 Sport braucht Physiotherapie
1.1 Was ist Sportphysiotherapie?
Martin Ophey, Harald Bant
Das Fachgebiet Sportphysiotherapie wurde in den letzten Jahren von zahlreichen Trends beeinflusst und hat sich – freiwillig oder notgedrungen – zu einer Spezialdisziplin innerhalb der Physiotherapie weiterentwickelt. In diesem Kapitel werden die bestimmenden Trends der letzten Jahre sowie die wichtigsten Schritte und heutigen Merkmale der Sportphysiotherapie beschrieben. Es zeigt sich, dass entgegen der gängigen Auffassung der Sportphysiotherapeut nicht nur mit (Hoch-)Leistungssportlern arbeitet, sondern auch mit Breitensportlern und Personen, die kaum körperlich aktiv waren, dies aber gern verändern möchten oder müssen. Außerdem spielt der Sportphysiotherapeut in den letzten Jahren eine immer größere Rolle bei der Behandlung von Menschen mit chronischen Erkrankungen.
1.1.1 Trends
1.1.1.1 Steigende Anzahl chronischer Erkrankungen
Seit geraumer Zeit sieht man in Europa eine stetige Zunahme der Inzidenz und Prävalenz von Wohlstandskrankheiten. Damit sind Krankheiten gemeint, deren Ursachen vor allem mit der Reduzierung körperlicher Tätigkeiten im Beruf, dem Überfluss von Nahrungsmitteln und veränderter Freizeitgestaltung zusammenhängen. Unter Wohlstandserkrankungen fallen z. B. Osteoporose, Arthrose, Koronarerkrankungen, Bluthochdruck, Diabetes Typ 2 und Übergewicht/ Obesitas. Hierzu ein paar Zahlen und Überlegungen zum Thema Diabetes:
Im Jahr 1998 sagte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) noch vorher, dass die weltweite Prävalenz von Diabetes Typ 2 von 4 % (1995) auf 5,4 % im Jahr 2025 steigen würde. 2003 schätzte die International Diabetes Federation (IDF) die weltweite Prävalenz schon auf 5,2 %. Die Diabetes-epidemie wird nicht kommen – sie ist schon da. Entscheidende Risikofaktoren für das Entstehen dieser Stoffwechselerkrankung sind unter anderen nicht ausreichende körperliche Bewegung und Übergewicht. Der Sportphysiotherapeut wird in den kommenden Jahren viel mehr mit dieser Art von Gesundheitsproblemen zu tun bekommen, ob er will oder nicht. Durch sein umfassendes Wissen im Bereich Trainingswissenschaften, Leistungsphysiologie und Coaching ist er ausgezeichnet in der Lage, gerade diese Patienten bei der Verbesserung der kardiovaskulären Fitness, Kraft und Gewichtskontrolle als Teil eines gesunden Lebensstils zu unterstützen.
Der Sportphysiotherapeut wird mehr und mehr mit Ernährungswissenschaftlern, Hausärzten und Internisten zusammenarbeiten (Kap. ▶ 1.3). Er wird sich in Zukunft jedoch spezifisch in den verschiedenen Erkrankungen weiterbilden müssen, um sowohl präventiv als auch kurativ eine Rolle spielen zu können. Es ist zu erwarten, dass auch die Sportphysiotherapie-Ausbildung sich diesen Herausforderungen stellen und die Lehrpläne entsprechend umstellen muss.
Ähnliche Szenarien lassen sich auch für andere Wohlstandserkrankungen beschreiben. In jedem Szenario spielt körperliche Inaktivität irgendwo im Erklärungsmodell zum Entstehen der chronischen Erkrankung eine Rolle. Die Gesundheitsministerien in vielen europäischen Ländern versuchen aus diesem Grund schon seit Jahren Bürger dazu zu stimulieren, in ihrer Freizeit körperlich aktiver zu werden (Kap. ▶ 3.1.1). Zudem steigert körperliche Fitness das allgemeine Wohlbefinden, erhöht damit die Produktivität und reduziert Fehlzeiten am Arbeitsplatz (WHO 2008). Negative Auswirkungen zunehmender körperlicher Ertüchtigung sind die damit verbundene Zunahme an akuten Sportverletzungen und Probleme mit Überlastungen des Haltungs- und Bewegungsapparates.
1.1.1.2 Steigende Anzahl von Sportverletzungen
In den letzten 20 Jahren haben immer mehr Menschen angefangen, in ihrer Freizeit Sport zu treiben. Dies hat nicht zuletzt als Konsequenz, dass in nahezu allen Sportarten auch immer mehr Sportverletzungen auftreten (Petridou et al. 2003). So ergab eine Studie, dass in Deutschland im Jahr 1998 3,1 % der Erwachsenen eine Sportverletzung erlitten haben (Schneider et al. 2006). Umgerechnet handelt es sich hier um etwa 2 Millionen Sportverletzungen jährlich. Laut dieser Studie waren 62 % dieser Erwachsenen aufgrund der Sportverletzung mindestens 1 Woche nicht in der Lage, ihrer Arbeit nachzugehen. 60 % aller Verletzungen bestanden aus Prellungen, Verstauchungen und Überdehnung oder Riss eines Bandes, 18 % waren Frakturen (vor allem der unteren Extremität).
Interessanterweise können anhand dieser Studie gängige Vorurteile bestätigt werden: 75 % der Verletzungen gehen auf das Konto männlicher Sportler. In der Altersgruppe der 18–29-Jährigen liegt die Prävalenz der Sportverletzungen bei 6,9 % im Vergleich zu 1 % bei über 60-Jährigen. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass 34–46 % aller Sportverletzungen in Deutschland beim Fußball passieren (Steinbrück 2004, Schneider et al. 2006). Die hier beschriebenen Trends gelten auch für andere europäische Länder (Petridou et al. 2003). Auffallende Unterschiede im Ländervergleich beziehen sich vor allem auf die höhere Prävalenz von Frakturen im nichtorganisierten Sport (Ski fahren) in den Alpenländern Österreich und der Schweiz.
In den Niederlanden wird seit geraumer Zeit sehr detailliert festgehalten, wie sich sportliche Trends, Sportverletzungen und damit einhergehende Kosten zueinander verhalten. Jährlich gibt in den Niederlanden 1,5 Millionen Sportverletzungen, die Hälfte davon bedarf medizinischer Betreuung. Die direkten Kosten für diese medizinische Betreuung liegen bei etwa 230 Millionen Euro jährlich. Die Kosten als Folge von körperlicher Inaktivität werden mit 907 Millionen Euro jedoch deutlich höher eingeschätzt (Breedveld et al. 2008). Solche Zahlen machen Diskussionen um höhere Krankenkassenbeiträge für Sportler unsinnig. Wenn schon höhere Kassenbeiträge fällig wären, dann höchstens für Personen, die körperlich inaktiv sind. Da jedoch beide Lösungsansätze ausgesprochen diskriminierend sind, sollte man mit dem Prinzip der Belohnung versuchen, das Gesundheitsverhalten ganzer Bevölkerungsteile positiv zu beeinflussen.
1.1.1.3 Veränderung von Trainingsumgebung und Material
Immer mehr Menschen treiben in ihrer Freizeit Sport. Dies hat in vielen Sportarten auch zur Weiterentwicklung von Trainingsumgebung und Material beigetragen, was wiederum Einfluss auf die Verletzungshäufigkeit und -art gehabt hat. In vielen Fällen wird durch die technologische Weiterentwicklung von Umgebung und Material der menschliche Körper höheren Belastungen ausgesetzt. Hierzu 2 Beispiele:
Beispiele
Beim Feldhockey hat in den letzten Jahrzehnten der Kunstrasen als bevorzugte Unterlage Einzug gehalten. Der Sport ist hierdurch schneller geworden und man erlebt entsprechend mehr Verletzungen von Hockeysportlern an der Wirbelsäule und Muskel-Sehnen-Verletzungen aufgrund von Überbelastung (Kirr et al. 2007).
Beim alpinen Skisport hat ein Großteil der Skifahrer (80–85 %) vom klassischen Alpinski zum Carvingski umgesattelt. Verstärkte Taillierung und reduzierte Skilänge haben einen Einfluss auf die Verletzungshäufigkeit und -art. Entgegen der gängigen Berichterstattung in den Medien hat es durch die Einführung des Carvingskis im alpinen Skisport einen rückläufigen Trend bei der Verletzungshäufigkeit gegeben. Seit dem Einführen der Carvingski haben sich 7 % weniger Unfälle auf den Pisten ereignet (Gläser 2006). Die Verletzungsart hat sich allerdings verändert: Es gibt deutlich mehr Schulterver-
letzungen beim Skifahren, während die Anzahl der Knieverletzungen rückläufig ist. Man geht davon aus, dass die reduzierte Skilänge für die niedrigere Rate von Knieverletzungen verantwortlich ist und die vermehrte Präparierung der Pisten mit Kunstschnee und die damit zusammenhängende Härte der Schneeunterlage bei der Zunahme der Schulterverletzungen eine Rolle spielt.
Sportphysiotherapeuten müssen ihr Wissen über diese Art von Veränderungen ständig aktualisieren, um sportartspezifisch präventiv und kurativ auftreten zu können. Dies bedeutet, dass sportartspezifische Bewegungshandlungen in ihrem Kontext (Trainingsumgebung und -material) analysiert werden müssen (Kap. ▶ 4.1). Das gilt sowohl für den Breiten- als auch den (Hoch-)Leistungssport (Kap. ▶ 1.2.3).
1.1.1.4 Veränderungen im Hochleistungssport
Steigende Preisgelder.
Gerade im Hochleistungssport gab es in den letzten 10 Jahren zahlreiche „finanzielle“ Entwicklungen. Geld spielt eine immer größere Rolle. Ein Beispiel dafür ist die Höhe der Preisgelder. Bei den All England Championships in Wimbledon wurden im Jahr 2009 insgesamt 14,17 Millionen Euro an Preisgeldern ausgeschüttet. 1999 waren es noch 8,92 Millionen Euro. In 10 Jahren hat die Höhe der Preisgelder somit um 60 % zugenommen.
Auch bei vielen anderen Sportarten kann man diese Entwicklung beobachten. Wenn die deutsche Fußballnationalmannschaft 2008 bei der Europameisterschaft den Titel gewonnen hätte, wären jedem Spieler vom deutschen Fußballbund (DFB) 250 000 Euro zugekommen. Jürgen Klinsmann erhielt als Spieler für den EM-Titel 1996 in England 52 000 Euro.
Höhere Transfersummen.
Mittlerweile werden für Sportler Transfersummen in einer Größenordnung gezahlt, mit der man in einer Wirtschaftskrise Unternehmen vor der Insolvenz retten könnte. So bezahlte 2009 der spanische...
Erscheint lt. Verlag | 9.5.2018 |
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Co-Autor | Harald Bant, Hans-Josef Haas, Martin Ophey, Mike Steverding |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Gesundheitsfachberufe |
Schlagworte | Amateursport • Physiotherapeut • Physiotherapie • Profisport • Sportphysiotherapeut • Sportphysiotherapeuten • sportphysiotherapeutische Maßnahmen • Sportphysiotherapie |
ISBN-10 | 3-13-242437-4 / 3132424374 |
ISBN-13 | 978-3-13-242437-1 / 9783132424371 |
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