Stufen zur Pflegekompetenz (eBook)

From Novice to Expert
eBook Download: PDF | EPUB
2017 | 3. Auflage
336 Seiten
Hogrefe AG (Verlag)
978-3-456-95771-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Stufen zur Pflegekompetenz -  Patricia Benner
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'From Novice to Expert' - der Klassiker zum Thema Pflegekompetenz und -expertise sowie die Rolle der Intuition in der Pflege von Patricia Benner. Wie sich erfahrene Pflegende mit großer Expertise in komplexen Pflegesituationen verhalten und in welcher Weise sich ihr professionelles Verhalten von dem lernender und weniger erfahrener Kolleginnen und Kollegen unterscheidet, zeigt Patricia Benner in ihrem zum Klassiker und Standardwerk avancierten Werk. Sie beschreibt eine professionelle Pflege, die ein tieferes Verständnis des Patienten voraussetzt und von Pflegenden fordert, die Perspektive des Patienten einzunehmen, um eine individuelle und respektvolle Pflege anbieten und gestalten zu können. Benner beschreibt eine Pflege, die das krankheitsbedingt verletzte oder bedrohte Selbst des Patienten aufrechterhält, schützt und durch Caring, Coping und Selbstmanagement ermöglicht. Die von Benner beschriebene professionelle Pflege • fasst alle klinischen Entscheidungen zugleich als ethische Entscheidungen auf • gründet auf einem Menschenbild der Verletzlichkeit • beruht auf intensivem inneren Beteiligtsein am Erleben der Patienten • fasst Menschenwürde als zwischenmenschliches Geschehen auf. Die zweite und dritte deutsche Auflage wurde um einen Beitrag zur exzellenten Pflege im 21. Jahrhundert ergänzt, der Patricia Benners Impulse für eine patientensensible Pflegepraxis verdeutlicht.

Stufen zur Pflegekompetenz 2
Nutzungsbedingungen 6
Inhaltsverzeichnis 7
Geleitwort zur ersten deutschen Ausgabe (1994) 13
Vorwort 15
Einleitung 17
Ein Wort an die Skeptiker 17
Sinneswahrnehmung als Ursprung ausgezeichneten pflegerischen Könnens 18
Entscheidungsspielräume 18
Die ungeschminkte Realität 20
Pflegeperson-Patienten-Beziehung: Nähe und Distanz 20
Nur ein Anfang 21
Danksagung 23
Exzellente Pflege im 21. Jahrhundert 25
Eine Zeitenwende in der Pflege 25
Wegweiserin der professionellen Pflege 27
«Vertieftes Patientenverstehen» 28
Pflegerische Phänomenologie 29
«Existenziales Krankheitserleben» 30
Das pflegerische Menschenbild 31
Klinische Kompetenz 32
Expertise und Exzellenz 34
«Nursing Presence»: Pflegerische Nähe 35
«Psychoneuroimmunologie» der Pflegebeziehung 36
Die patientensensible Erkenntnisweise: Intuition 37
Neurobiologie der Intuition 38
Kritische Anfragen an Patricia Benners Pflegeverständnis 39
Der Zukunftsauftrag der Pflege 40
Kompetenz in «Performance» übersetzen 40
Expertise evaluieren 41
«Ethische Sensitivität» 41
Teamexzellenz fördern 42
Patricia Benners Botschaften: Die Pflege der Zukunft gestalten 42
Zusammenfassung: 44
Definition professioneller patientensensibler Pflege nach Patricia Benner 44
1 Klinisches Praxiswissen entdecken 47
Unterschiede zwischen praktischem und theoretischem Wissen 48
Expertenwissen 49
Praktisches Wissen ausbauen 50
Ein gemeinsames Verständnis 51
Annahmen, Erwartungen und Einstellungen 52
Paradigmatische Fälle und persönliches Wissen 53
Maximen 55
Nicht vorgesehene Aufgaben 55
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 56
2 Das Dreyfus-Modell des Kompetenzerwerbs auf die Pflege anwenden 59
Methoden 60
Interpretation der Daten 61
Stufe 1: Anfänger 65
Stufe 2: Fortgeschrittene Anfängerin/fortgeschrittener Anfänger 66
Konsequenzen für Aus- und Fortbildung 66
Stufe 3: Kompetente Pflegende 69
Konsequenzen für Aus- und Fortbildung 70
Stufe 4: Erfahrene Pflegende 70
Konsequenzen für Aus- und Fortbildung 72
Stufe 5: Pflegeexpertin/Pflegeexperte 73
Konsequenzen für Aus- und Fortbildung 75
Die Rolle der Erfahrung 77
3 Klinisches Wissen erfassen und beschreiben – Ein interpretativer Ansatz 81
Leistung beurteilen 85
Bereiche und Kompetenzen identifizieren 85
Zusammenfassung 87
4 Helfen 89
Die heilende Beziehung: ein heilendes Klima schaffen und sich dafür einsetzen, dass Heilung geschehen kann 92
Beispiel I 92
Beispiel II 93
Dem Patienten seine Lage so angenehm wie möglich gestalten sein Gefühl, ein Mensch zu sein, auch angesichts von Schmerz und schwerstem Zusammenbruch erhalten
Beispiel I 96
Beispiel II 96
Einfach da sein 97
Beispiel I 97
Beispiel II 97
Beispiel III 97
Den Patienten befähigen, sich so stark wie möglich an seiner Genesung zu beteiligen und Verantwortung dafür zu übernehmen 98
Beispiel I 99
Beispiel II 99
Schmerzen einschätzen und geeignete Maßnahmen auswählen 101
Beispiel 101
Trost spenden und Kontakt herstellen über körperliche Berührung 101
Beispiel I 102
Beispiel II 102
Angehörige emotional und durch Informationen unterstützen 103
Beispiel I 103
Beispiel II 103
Patienten durch emotionale Krisen und Entwicklungsprozesse führen 104
Als psychologische und kulturelle Vermittler handeln 105
Beispiel I 105
Beispiel II 106
Beispiel III 107
Ziele therapeutisch einsetzen 107
Beispiel 108
Eine therapeutische Gemeinschaft aufbauen und aufrechterhalten 109
Beispiel 110
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 110
5 Beraten und Betreuen 113
Das richtige Timing: den Zeitpunkt erfassen, an dem sich der Patient auf neue Erfahrungen einlassen kann 115
Beispiel 115
Dem Patienten helfen, die Folgen seiner Krankheit in sein Leben zu integrieren 116
Beispiel I 116
Beispiel II 117
Den Patienten über sein Krankheitsverständnis sprechen lassen und seine Sichtweise nachvollziehen 119
Beispiel I 119
Beispiel II 119
Dem Patienten eine Deutung seines Zustandes anbieten und Interventionen erklären 120
Beispiel I 121
Beispiel II 122
Die Funktion der Betreuung: kulturell heikle Aspekte der Krankheit zugänglich und verstehbar machen 122
Beispiel I 123
Beispiel II 124
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 125
6 Diagnostik und Patientenüberwachung 129
Bedeutsame Veränderungen des Patientenzustands erkennen und dokumentieren 131
Beispiel I 132
Beispiel II 132
Beispiel III 133
Frühe Alarmsignale geben: Komplikationen und Verschlechterungen gedanklich vorwegnehmen, noch ehe messbare diagnostische Anzeichen vorliegen 133
Beispiel I 133
Beispiel II 134
Zukünftige Probleme erahnen: Vorausschauendes Denken 135
Beispiel 136
Wissen, welche besonderen Probleme und Erfahrungen mit den verschiedenen Krankheiten verbunden sind: Die Bedürfnisse des Patienten gedanklich vorwegnehmen 137
Beispiel 137
Die Möglichkeiten des Patienten einschätzen, gesund zu werden und auf verschiedene Behandlungsstrategien anzusprechen 138
Beispiel 138
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 139
7 Wirkungsvolles Handeln in Notfällen 141
Kompetent handeln in lebensbedrohlichen Notfallsituationen: Probleme schnell erfassen 142
Beispiel I 142
Beispiel II 143
Das Unvorhersehbare bewältigen: Handlungsbedarf und Ressourcen in Notfallsituationen rasch aufeinander abstimmen 144
Beispiel I 144
Beispiel II 145
Beispiel III 145
Kritische Zustände beim Patienten erkennen und bewältigen, bis der Arzt eintrifft 146
Beispiel I 147
Beispiel II 147
Beispiel III 148
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 149
8 Durchführen und Überwachen von Behandlungen 151
Infusionen möglichst risiko- und komplikationslos beginnen und fortführen 153
Beispiel I 153
Beispiel II 153
Medikamente mit Sorgfalt und geringem Risiko verabreichen: Überwachung von therapeutischen und unerwünschten Effekten wie Toxizität und Unverträglichkeiten 154
Beispiel I 155
Beispiel II 155
Beispiel III 155
Mögliche Folgen von Immobilität bekämpfen 156
Beispiel I 156
Beispiel II 157
Beispiel III 157
Eine Wundversorgung vornehmen, die schnelles Abheilen, Wohlbefinden des Patienten und gutes Abfließen von Wundsekreten ermöglicht 157
Beispiel I 158
Beispiel II 158
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 159
9 Die Qualität der medizinischen Versorgung überwachen und sicherstellen 163
Maßnahmen auf ihre medizinische und pflegerische Sicherheit überprüfen 164
Beispiel I 165
Beispiel II 165
Beispiel III 166
Beurteilen, was ohne Risiko aus dem Behandlungsplan gestrichen und was hinzugefügt werden kann 166
Beispiel I 167
Beispiel II 168
Ärzte zur rechten Zeit zu den notwendigen Schritten bewegen 168
Beispiel 169
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 169
10 Organisation und Zusammenarbeit 173
Mit den vielfaltigen Bedürfnissen und Wünschen der Patienten umgehen: Prioritäten setzen 174
Beispiel I 175
Beispiel II 176
Ein therapeutisches Team aufbauen und funktionsfähig erhalten zur Gewährleistung optimaler Therapie 177
Beispiel I 177
Beispiel II 177
Die Folgen von Personalmangel und hoher Fluktuation bewältigen 178
Beispiel I 181
Beispiel II 181
Beispiel 182
Beispiel 182
Beispiel I 183
Beispiel II 183
Beispiel I 184
Beispiel II 184
Beispiel III 185
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 185
11 Konsequenzen für Forschung und klinische Praxis 189
Nähe und Distanz 189
Pflegeperson-Patienten-Beziehung 190
Frühe Alarmsignale 192
Über die Grenzen der Krankenpflege hinaus 193
Überwachung und Organisation 194
Anteilnahme und Engagement 195
12 Konsequenzen für die berufliche Entwicklung und die Ausbildung 199
Berufliche Entwicklung 200
Klinische Spezialisierung 205
Personalentwicklungsprogramme 206
Personalstabilität 207
Leistungsbeurteilung 208
Ermessensspielräume 208
Ausbildung 209
Klinische Spezialisierung 210
Ausbildung in praktischen Fähigkeiten 211
Klinische Anleitung von Berufsanfängern 211
13 Auf dem Weg zu einer neuen Identität und einem neuen Anspruch in der Pflege 221
Leistungen angemessen würdigen und Anreize schaffen 225
Aufstiegsmöglichkeiten 227
Kooperativere Beziehungen 229
Zunehmende Anerkennung 230
14 Hervorragendes Können und Macht in der klinischen Pflegepraxis 233
Die Macht, Veränderungen zu bewirken 236
Integrierende Anteilnahme 237
Fürsprecher des Patienten sein 237
Heilende Kräfte 238
Persönliches Engagement 239
Probleme lösen 240
Epilog: Praktische Anwendung 247
Gebrauch und Missbrauch formaler Modelle in der Pflegepraxis 251
von Deborah R. Gordon, Dr. phil. Medical Anthropology Program University of California, San Francisco 251
Formale Modelle 252
Formale Modelle als Landkarten: Eine Möglichkeit zum Ausgleich praktischer Defizite 253
Formale Modelle als Grundlage für Übereinstimmung und Standardisierung 259
Missbrauch von Modellen 261
Standardisierung situativer Bedingungen und die Ersetzung persönlicher Urteile durch allgemeingültige Regeln 262
Übermäßiger Einsatz formaler Modelle und Regeln zur Gewährleistung von Struktur und Kontrolle 263
Verschleierung von Sachverhalten 265
Zusammenfassung 266
Einführung einer neuen Position für Pflegende am El Camino Hospital 269
von Ann Huntsman Janet Reiss Lederer10 und Elaine M. Peterman 269
Das Beförderungsverfahren 271
Beispiel I (Kathy Brown) 273
Beispiel 2 (Lucy Ann Nomura) 275
Beispiel 3 (Janet Crowley) 276
Die Entscheidung des Ausschusses 277
Wirkung auf den Gesamtbetrieb 278
Zusammenfassung 280
Exzellenz in der Pflege 281
von Jeanette Ullery Leiterin der Abteilung für Personalentwicklung, St. Luke’s Regional Medical Center, Mountain States Tumor Institute, Boise (Idaho) 281
Leistungen graduierter Pflegefachpersonen erfassen zur Aufstellung und Bewertung von Lehrplänen 285
von Mary V. Fenton University of Texas Medical Branch School of Nursing at Galveston 285
Zusätzliche Kompetenzen 287
Konfliktsituationen 289
Einstellungen 290
Unerwähnt bleibende Aspekte der Pflegepraxis 291
Wissenslücken 293
Neue Erkenntnisse gewinnen 293
Bewertung 295
Brücken zwischen Berufsausbildung und Berufspraxis bauen 297
von Kathleen Dolan Stellvertretende Leiterin der Abteilung für Ausbildung und Forschung in der Krankenpflege, University of California, San Francisco 297
Das Einführungsprogramm 299
Training von Praxisbegleitern 300
Fortbildungsseminare 301
Pflegende in leitender Funktion 303
Zusammenfassung 304
Schlussbemerkung 307
Glossar 309
Anhang 315
Leitfaden für die Erfassung kritischer Ereignisse 315
Literaturverzeichnis 319
Über die Autorin 327
Patricia Benner, RN, Ph.D., FAAN, FRCN, Prof. em. 327
Quellen 329
Ausgewählte Publikationen 329
Bücher 329
Bücher (dt.) 329
Originalartikel 329
Buchbeiträge 330
Bibliographie Patricia Benner 330
Sachwortverzeichnis 335

Einleitung


Dieses Buch beruht auf vertieftem Nachdenken über pflegerisches Handeln und auf Gesprächen mit Pflegenden. Im Rahmen unseres Forschungsansatzes zeigten sich fünf Entwicklungsstufen in der Pflegepraxis: Anfänger, fortgeschrittene Anfänger, kompetente Pflegende, erfahrene Pflegende und Pflegeexperten. Diese Stufen werden hier mit den Worten von Pflegenden beschrieben, die einzeln oder in Gruppen befragt und beobachtet wurden. Viele Situationen, in denen Pflegende effektiv zum Wohl des Patienten beitragen konnten, haben wir in dieses Buch aufgenommen. In Beispielen kommt anschaulich zum Ausdruck, wodurch gute Pflege sich auszeichnet. Dabei handelt es sich nicht um abstrakte Ideale, sondern um Realitäten in einem Umfeld, das von Unvollkommenheit und unvorhersehbaren Ereignissen geprägt ist. Pflegende bemühen sich Tag für Tag, diese Ungewissheit zu meistern.

Ein Wort an die Skeptiker


Wer die Beispiele liest, empfindet möglicherweise Zweifel und sich fragt sich, ob das beschriebene Vorgehen in der Pflegepraxis überhaupt möglich ist. Solche Skepsis ist berechtigt, denn die Beispiele beziehen sich auf außergewöhnliche klinische Situationen, in denen Pflegende neue Einsichten gewonnen haben oder einen bedeutsamen Beitrag zum Wohl eines Patienten geleistet haben. Beruht diese Skepsis auf einer grundsätzliche Ernüchterung über die Möglichkeit, als Pflegende einfühlsam und wirkungsvoll zu handeln, – dann bietet dieses Buch dem Zweifelnden eindringliche Gegenbeweise. Ein Hoffnungsstrahl für die Ernüchterten wird sichtbar.

Sinneswahrnehmung als Ursprung ausgezeichneten pflegerischen Könnens


Dieses Buch stellt einige der unerschütterlichen Überzeugungen und Annahmen im Bereich professioneller Pflege in Frage. Wir behaupten, dass Wahrnehmen eine zentrale Rolle für die Qualität pflegerischer Entscheidungen spielt. Häufig bilden vage Ahnungen und allgemeine Einschätzungen den Ausgangspunkt der Pflege. Eine systematische Analyse findet zunächst noch nicht statt. Theoretische Klarheit steht oft nicht am Anfang, sondern erst am Ende des Prozesses. Pflegeexpertinnen und -experten beschreiben ihre Wahrnehmungen oft mit Worten wie «ich hatte ein ungutes Gefühl », «es kam mir seltsam vor» oder «ich ahnte, dass irgendetwas nicht stimmte». Solche Worte sind für Lehrpersonen und Praktikerinnen problematisch. Denn es gilt, über solche ersten Eindrücke hinauszugehen und zu belegbaren Schlussfolgerungen zu kommen. Pflegeexpertinnen und -experten wissen, dass mehr als nur vage Vermutungen notwendig sind, um die Verfassung eines Patienten klinisch zu beurteilen. Ihre Erfahrung hat sie jedoch gelehrt, sich bei der Informationssuche auch von unscharfen Empfindungen und Eindrücken leiten zu lassen.

Auf der Suche nach wissenschaftlichen Begründungen übersehen Pflegende, Ärzte und Berater häufig, wie bedeutsam die Wahrnehmungsfähigkeit ist. Wären Pflegende seelenlose Computer oder Monitore, so wären sie auf eindeutige Signale angewiesen, um einen bestimmten Aspekt eines Problems zu erkennen. Glücklicherweise können Menschen bei ihren Entscheidungen auf eine ganzheitliche Gestaltwahrnehmung zurückgreifen. Sie reagieren auf feinste Veränderungen bei einem Patienten, indem sie nach weiteren Informationen suchen und dabei vom Team unterstützt werden. Experten und Expertinnen bleiben niemals bei bloßen Vermutungen stehen. Zugleich lassen sie jedoch auch vage Vermutungen niemals unbeachtet. Sie begreifen sie als Chance, um ein Problem möglichst früh zu erkennen, um nach weiteren Informationen zu suchen, die Klarheit schaffen können.

Entscheidungsspielräume


Es wäre nicht in unserem Sinn, das hier beschriebene Modell des Kompetenzerwerbs als Plädoyer für unsystematisches Lernen und für eine Rückkehr zu frühen Ausbildungsformen zu verstehen. Dies wäre ein Missverständnis. Deshalb möchten wir erwähnen, dass wir ein Modell des Kompetenzerwerbs verwendet haben («Dreyfus-Modell»), das ursprünglich im Rahmen eines Forschungsprojekts für Piloten in Notfallsituationen entstand. Piloten fliegen nicht einfach los, um durch Versuch und Irrtum ein Gefühl für das Flugzeug zu entwickeln. Unter diesen Bedingungen würde ein angehender Pilot nicht einmal seine Grundausbildung überleben. Dasselbe gilt für die Pflege. Pflegerische Tätigkeiten sind mit ebenso gro- ßen Risiken verbunden − sowohl für Patienten als auch für Pflegende. Es bedarf gut geplanter Unterrichtsprogramme, um fähige Pflegefachpersonen auszubilden. Fähigkeiten durch Erfahrung zu erwerben, gelingt sicherer und schneller, wenn eine solide Grundausbildung vorhanden ist.

Die Absicht dieses Buches besteht darin, die Grenzen formaler Regeln aufzuzeigen und auf die Bedeutung der Urteilsfähigkeit der Pflegenden hinzuweisen. Das heißt nicht, über die Prinzipien von Physiologie, Krankenpflege und Medizin hinwegzusehen. Wir plädieren nicht für Chaos und Anarchie. Auch behaupten wir nicht, es gäbe keine Regeln – das wäre so, als erlaubten wir, generell die Regeln der Asepsis außer Acht zu lassen, nur weil unter Notfallbedingungen manchmal auf steriles Arbeiten verzichtet werden muss. In außergewöhnlichen Situationen dürfen allgemeingültige Grundsätze nicht einfach ignoriert werden. Ich befürworte keineswegs, sorglos Regeln zu vernachlässigen, sondern vertrete die Position, dass ein sachverständiges, auf Erfahrung gestütztes Erfassen der Situation auch ohne starres Befolgen von Regeln möglich ist.

Sobald die Situation erfasst ist, wird klar, was vernünftigerweise zu tun ist. Dies entspricht den Erfordernissen der Situation besser als sich starren Grundsätzen und Regeln zu unterwerfen. Es könnten immer neue Regeln erzeugt werden, um eine große Spannbreite von Ausnahmen zu berücksichtigen. Doch ein Experte oder eine Expertin wissen auch in neuen Ausnahmesituationen, was das Richtige ist.

Dieses Buch beschäftigt sich mit riskanten, situationsspezifischen Entscheidungen, über die man normalerweise nicht spricht. Sich hinter Regeln und vorgegebenen Verfahrensweisen zu verstecken, stellt für Menzies (1960) eine Form der Angstabwehr dar. Es handelt sich um eine Bewältigungsstrategie, die zusätzlich belastend ist, weil sie echte Erkenntnis verhindert und dem eigentlichen pflegerischen Handeln im Weg steht.

Die ungeschminkte Realität


Manche Leser hätten es wahrscheinlich bevorzugt, wenn ich nur Beispiele ausgewählt hätte, in denen eine vorbildliche Zusammenarbeit und eine ideale Beziehung zwischen Ärzten und Pflegenden zum Ausdruck kommen. Tatsächlich haben mich Ärzte und leitende Pflegefachpersonen darauf angesprochen. Beispiele, in denen die Beziehung zwischen Ärzten und Pflegenden in einem negativen Licht erscheinen, finden sie problematisch. Auch ich hätte mir gewünscht, bei dieser Untersuchung nur auf vorurteilsfreie, kooperative Beziehungen zwischen Pflegenden und Ärzten zu stoßen. Das wäre jedoch reines Wunschdenken und keine beschreibende Forschung – ein ideales Modell anstelle eines empirisch überprüften. Probleme zwischen den Berufsgruppen sind in dieser Studie eher zu wenig thematisiert, wenn man berdenkt, wie viel Raum dieses Thema in den Interviews einnahm.

In der Realität haben Pflegende und Ärzte gute und schlechte Tage. Ist ärztliche Hilfe in Krisensituationen nicht sofort verfügbar, springen Pflegende viel häufiger ein als offiziell zugegeben wird. Wer sagt, es handle sich hier nicht um Pflege, lässt außer Acht, was Pflegende in ihrem Beruf tatsächlich tun. Eine Leistung gilt als ausgezeichnet, wenn trotz widriger Umstände (z.B. keine kooperative Beziehung oder keine ursprünglich pflegerische Aufgabe) für den Patienten getan wurde, was notwendig war. Hätten wir nur ein Idealbild dargestellt, wäre uns vieles entgangen, was charakteristisch für die heutige Pflegepraxis ist. Nicht zu wissen, wer und was wir jetzt sind, macht es uns schwer, dahin zu gelangen, wo wir in Zukunft sein möchten.

Pflegeperson-Patienten-Beziehung: Nähe und Distanz


Zu Recht mag die Leserin oder der Leser die Repräsentativität dieser Arbeit in Frage stellen. Es war nicht das Ziel, den ganz normalen Alltag zu beschreiben, sondern die Höhepunkte − die Momente, in denen praktisches Wissen erweitert wird. Die Teilnehmenden wurden gebeten, klinische Situationen zu beschreiben, die sich durch etwas Besonderes auszeichneten. Pflegende sind Tag für Tag in engem Kontakt mit Patienten. Den größten Teil der Zeit sind sie sich nicht bewusst, welchen Einfluss ihre Handlungen auf die Patienten haben. An viele Begegnungen erinnern sich Pflegende später nicht mehr. Die Beziehung zwischen Patienten und Pflegenden stellen ein Kaleidoskop aus Nähe- und Distanzmomenten dar. Dabei handelt es sich um einige der dramatischsten, ergreifendsten und auch unscheinbarsten Momente im Leben. Die unscheinbaren Augenblicke wurden hier ausgespart, denn unsere Forschungsstrategie legte das Hauptaugenmerk auf außergewöhnliche klinische Situationen. Da wir herausragende Leistungen darstellen wollten, sind keine negativen Beispiele aufgeführt, in denen Fehler gemacht wurden (Beispiele für das Erkennen von Defiziten enthält der Beitrag von Fenton, S. 248ff.)

Nur ein Anfang


Es beunruhigt mich, dass die 31 beschriebenen Kompetenzen für «absolut» angesehen werden könnten, um daraus ein starres System zu errichten bzw. eine ein für alle Mal festschriebene Kompetenzliste daraus zu machen. Die Absicht dieser Arbeit liegt darin, Pflegende zu motivieren, ihre eigenen Beispiele zu sammeln und sich mit Forschungsfragen zu beschäftigen, die sich aus ihrem eigenen...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2017
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Pflege
Schlagworte 21. Jahrhundert • Caring • Coping • Menschenwürde • Pflege • Pflegekompetenz • Pflegemodell • Pflegepraxis • Pflegesituationen • Pflegetheorie • Pflegewissenschaft • Selbstmanagement
ISBN-10 3-456-95771-8 / 3456957718
ISBN-13 978-3-456-95771-5 / 9783456957715
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