Der große Hack

Wie stellen Sie sich einen Hacker vor? Ein pubertierender Jugendlicher, umgeben von Chipstüten und leeren Coladosen, der sich in seinem Kinderzimmer aus Spaß ins Pentagon einhackt? Ein sympathischer Robin Hood des Internets, der als Aktivist Freiräume schaffen und Staaten oder Konzernen ihre Grenze aufzeigen will? Ein böse-genialer Terrorist im Kapuzenpulli, der finsteren Endzeitvisionen anhängt und im Stil eines Hollywood-Thrillers die Kontrolle über Nuklearwaffen erringen will, um die Menschheit zu vernichten?

Das mag es geben, aber im 21. Jahrhundert sind diese Vorstellungen vor allem Spiegel romantischer oder bizarrer Bilder, geschaffen von Drehbuchautoren und Schriftstellern. Und diese Bilder haben mit der Wirklichkeit so wenig zu tun wie ein James Bond-Film mit der Realität von Geheimdiensten.

Im 21. Jahrhundert entdecken immer mehr Staaten und Armeen den Digitalen Raum als Operationsgebiet und richten eigene Cyber-Kommandos ein. Der typische Hacker ist ein Angestellter mit geregelten Arbeitszeiten, der professionell seine Arbeit erledigt. Als Projektmitarbeiter innerhalb eines gut ausgebildeten, hervorragend ausgestatteten und wohlorganisierten Teams, das Teil einer Organisation mit klarer Hierarchie ist. Die Lagebilder von Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz decken jährlich neue Einzelheiten dazu auf: Die Organisation kann ein militärischer oder ziviler Nachrichtendienst sein, aber auch eine Art privatwirtschaftlicher „Hacker GmbH“, die man als Cyber-Söldner mieten kann. Söldner, die ihre Dienste geschäftsmäßig im DarkNet anbieten und als hochbezahlte Dienstleister für Staaten oder die Organisierte Kriminalität arbeiten, gerne auch auf eigene Rechnung.

Und die 2010er Jahre werden in die Geschichte eingehen als das Jahrzehnt, in dem es zum größten und schwerwiegendsten Hack der Menschheit kam.

Das Jahrzehnt, in dem die Demokratie gehackt wurde.

Als im Frühjahr 2015 bekannt wird, dass der alternde Showmaster der einst beliebten Reality Show The Apprentice in das Rennen um die US-Präsidentschaft einsteigt, scheint es der gelungene PR-Gag eines kauzigen Typen zu sein. Ein bizarrer Typ, der sich als vermeintlich schwerreicher Immobilienmakler und Betreiber von Spielcasinos selbst zur Marke gemacht und seine besten Tage hinter sich hat: Donald Trump.

Kaum jemand nimmt den politischen Niemand ernst. Ein Chauvinist und Selbstvermarkter, dessen geistiger Zustand irgendwo zwischen grenzenlos übersteigerter Selbstwahrnehmung und Größenwahn angesiedelt ist und der seine irrlichternden politischen Ansichten wechselt wie die Kandidaten seiner Reality-Show.

Für ihn ist die Welt eine große Inszenierung mit ihm in der Hauptrolle, eine einzige große Reality-Show: „Wirklichkeit“ ist das, was das Publikum glaubt, „Wahrheit“ ein anderes Wort für die glaubwürdigste Lüge, Fakten Fiktion und Fiktion das einzige Fakt. Die Frage ist für ihn nicht: „Stimmt das?“, sondern „Glauben es mir die Leute?“. Seine Welt ist eine Welt, in der man keine Physiker braucht, sondern Psychologen, keine Journalisten, sondern Marketingexperten. Es zählt nur der Effekt, und erlaubt ist alles, was man sich und anderen schönreden kann. Demagogie statt Demokratie.

Mit anderen Worten: Niemand, dem man sein Geld oder seine Kinder anvertrauen würde.

Oder ein ganzes Land.

Oder die Weltordnung.

Als ihm schon das Geld für seinen Wahlkampf auszugehen scheint, bekommt seine Kampagne unerwarteterweise einen ganz neuen Spin, und bald sticht er seine innerparteilichen Konkurrenten aus. Es ist eine reine Formalität, als Trump am 19. Juli 2016 auch formell zum Präsidentschaftskandidaten der ultrakonservativen Partei “Die Republikaner” gekürt wird.

Damit tritt er offiziell gegen die Kandidatin der - für amerikanische Verhältnisse liberalen - Partei „Die Demokraten“ an: Hillary Clinton, eine kompetente, engagierte und erfahrene Politikern: Politisch aktiv seit ihrer Studienzeit, Professorin für Rechtswissenschaften, Frau des Gouverneurs von Arkansas und späteren US-Präsidenten Bill Clinton, erste weibliche Senatsabgeordnete von New York, Außenministerin unter Barack Obama.

Auf der einen Seite ein abgehalfterter Showmaster, Immobilienhai und Glücksspielbetreiber, der vor allem durch bizarre und frauenfeindliche Äußerungen auffällt und ohne jeden Hauch von Anstand andere Menschen persönlich verletzt und hemmungslos attackiert. Auf der anderen Seite eine erfahrene und verantwortungsbewusste Politikern, die seit Jahren für ihr Land arbeitet – wer von beiden könnte den Wählerinnen und Wählern für das höchste Staatsamt geeignet erscheinen…?

Die Antwort scheint eindeutig zu sein. Doch es passieren merkwürdige Dinge.

Im Internet und vor allem im Sozialen Netzwerk Facebook entstehen etliche neue Gruppen und Websites, die gesellschaftliche Konflikte schüren, neue aufreißen und sich in immer extremere Ansichten und eine immer radikalere Sprache steigern.

Im Juni 2016 werden auf einer Website namens DCleaks.com interne Dokumente der Demokratischen Partei veröffentlicht, nachdem ihr IT-Netzwerk gehackt wurde. Kurz vor dem offiziellen Nominierungsparteitag der Demokraten werden unter dem Pseudonym Guccifer 2.0 tausende weiterer gehackter Dokumente und E-Mails der Demokratischen Partei über die Plattform WikiLeaks veröffentlicht.

Ab Juni und Juli erscheinen vermehrt Anzeigen und Hashtags von Gruppierungen, die Trump unterstützen. Sie tragen Namen wie „#Hillary4Prison“, „#HillaryForPrison2016“ oder „Ohio wants Hillary for prison“. Vorläufer der Anzeigen sind bereits seit Anfang 2016 im Umlauf.

Parallel dazu und wie aufeinander abgestimmt, verhöhnen der republikanische Präsidentschaftskandidat Trump und sein Gefolge die demokratische Kandidatin immer wieder als „verbrecherische Hillary“ („crooked Hillary“) - und die Leute scheinen es zu glauben.

Landesweit kommt es zu verschiedenen, aufsehenerregenden politischen Kundgebungen, die sich gegen Clinton richten. Kundgebungen, deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer von einem unerklärlichen Hass erfüllt sind. Menschen, die offenbar in einer ganz eigenen Welt leben. Eine Welt, die von einem zutiefst empfundenen Gefühl der Verfolgung, Ohnmacht und Bedrohung geprägt ist. Menschen, die in den demokratisch gewählten Abgeordneten und Regierenden ihres eigenen Landes eine Art feindlicher Macht zu sehen scheinen. Menschen, die im Internet verbreitete, offensichtliche Falschnachrichten und Verschwörungsmythen für bare Münze nehmen. Gleichzeitig misstrauen sie kritisch berichtenden Journalisten und seriösen Medien zutiefst und werfen ihnen brüllend Lüge und Falschnachrichten vor. Das gesellschaftliche Klima wird immer aufgeheizter, angefeuert selbst von Fernsehsendern wie Fox News.

Parallel dazu feiern Trump und sein Team Erfolge mit dem gegen das Parlament gerichteten Slogan „Legt den Sumpf trocken“ („drain the swamp“). Er wettert gegen Ausländer („Build the wall“) und gegen Medien mit kritischer Berichterstattung, die er als „Lügenpresse“ (fake media) bezeichnet – und die Leute scheinen das alles ernsthaft zu glauben.

Anfang August berichtet der Daily Times Herald aus dem verschlafenen 500-Einwohner-Nest Arcadia im US Bundesstaat Iowa von einem verstörenden Ereignis beim örtlichen, 100jährigen Feuerwehr-Jubiläum. Dort wird während des Umzugs auf einem selbst gebauten Anhänger eine Art Gitterkäfig hinter einem Quad hergezogen: Darin ein Mann in einem orangenen Gefängnis-Overall, der als die demokratische Präsidentschaftskandidatin Clinton verkleidet ist. Auf dem Foto grinst der Fahrer des Quads fröhlich in die Kamera, an dem Käfig hängt ein Schild mit der Aufschrift „Hillary for Prison“. Parallel werden hunderte von Wasserbomben verteilt und die Leute aufgefordert, damit die dargestellte Präsidentschaftskandidatin und frühere Außenministerin zu bewerfen.

Ende August gibt es im umkämpften Bundesstaat Florida eine Reihe von Kundgebungen unter dem Titel Florida goes Trump. In West Palm Beach wird auf einem Tieflader wiederum ein Käfig zur Schau gestellt, in dem sich eine als Hillary Clinton verkleidete Person in Gefängniskleidung befindet. Kurze Zeit später kommt es bei einer Kundgebung in New York zu ähnlichen Bildern.

Im Oktober veröffentlicht die Zeitung Washington Post den Mitschnitt eines Gesprächs von 2005, in dem Präsidentschaftskandidat Trump damit prahlt, dass er Frauen nach Belieben küssen und zwischen die Beine fassen kann, weil er so berühmt ist. Es scheint niemanden nachhaltig zu stören.

Ebenfalls im Oktober erscheinen Online-Anzeigen wie „Hillary ist ein Satan, und ihre Verbrechen und Lügen haben gezeigt, wie böse sie ist“ – und viele Leute scheinen es ernsthaft zu glauben.

Im November 2016 kriechen zwei Frauen klopfend auf der Terrasse der Washingtoner Pizzeria Comet Ping Pong herum. Wie sich herausstellt – jetzt wird es wirklich bizarr – suchen sie geheime unterirdische Gänge, durch die Kinder in den Keller der Pizzeria geschmuggelt werden, um dort von Hillary Clinton, ihrem Mann und ihrem Wahlkampfmanager missbraucht zu werden.

Auslöser des als PizzaGate bezeichneten Verschwörungsmythos‘ war ein – wohl automatisiertes – Twitter-Profil. Darüber hinaus wurde am 30. Oktober 2016, eine Woche vor den Wahlen, die frei erfundene Behauptung aufgestellt, die Polizei sei in den gehackten Mails der Demokratischen Partei auf einen Pädophilenring gestoßen. Diese Falschmeldung wird in...