Die Entdeckung der Unendlichkeit (eBook)
416 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-27918-9 (ISBN)
Diese Fragen haben enorme praktische Bedeutung: Erst durch sie konnte geklärt werden, was Zahlen wie 7 oder Pi genau sind und dass elementare Rechentechniken, etwa zum Bestimmen eines Flächeninhalts oder der Steigung einer Kurve, tatsächlich präzise und ohne böse Überraschungen funktionieren. Letztlich beruht die gesamte heutige Mathematik darauf.
In den Jahren 1870 bis 1970 machten es sich fünf geniale Köpfe zur Aufgabe, das Undenkbare zu ergründen und die Grenzen der Mathematik zu sprengen. Als Erster wagte es Georg Cantor die Unendlichkeit mathematisch zu untersuchen - er revolutionierte dabei die gesamte Mathematik. Was er herausfand, beschäftigte Wissenschaftler bis in die 1960er Jahre: Unter ihnen Bertrand Russell, der einen folgenschweren Widerspruch in Cantors Mengenlehre entdeckte, David Hilbert, der mit einer Auflistung der bedeutendsten mathematischen Fragen seiner Zeit weltberühmt wurde, Kurt Gödel, der die Grenzen unseres Wissens auslotete, und Paul Cohen, der endlich die Antwort auf eine Frage fand, die die Wissenschaft seit fast einem Jahrhundert umtrieb. Sie alle verbindet ihre Faszination für die Unendlichkeit, ihre Leidenschaft für abstraktes Denken, ihre Vorstellungskraft - und ihr Verdienst für die moderne Mathematik, die auf ihren Erkenntnissen fußt.
Aeneas Roochs spannend erzählte Entdeckungsreise in die Welt der Unendlichkeit ist nicht nur eine anregende Erkundung eines der größten Rätsel von Mathematik und Philosophie, sondern zugleich eine Liebeserklärung an die präziseste und logisch strengste Wissenschaft, die wir kennen.
Aeneas Rooch, geboren 1983, hat Mathematik und Physik studiert. Er arbeitet in der Softwarebranche und ist als freier Wissenschaftsjournalist tätig. Er spielt gerne Klavier und Badminton (aber selten gleichzeitig).
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Geschaffen, um im Denken Genuss zu finden
Fast wäre der Mann, der es gegen alle Widerstände wagte, die Unendlichkeit zu erforschen, und der im Alleingang eine neue Epoche in der Mathematik einleitete, gar kein Mathematiker geworden. Sein Vater hatte andere Pläne für ihn. Dieser Vater, Georg Woldemar Cantor, war als Kind zusammen mit seiner Mutter unter geheimnisvollen Umständen in die russische Metropole Sankt Petersburg gelangt, damals die Hauptstadt Russlands. Georg Woldemar wuchs in der evangelischen Mission auf und wurde Kaufmann. Als er etwa dreißig Jahre alt war, handelte er von und nach Übersee mit Segeltüchern und Seilen und unterhielt ein profitables Unternehmen, die Firma »Cantor & Co.«, später arbeitete er als Börsenmakler. 1842 heiratete er eine empfindsame, musikalische Frau, Marie Böhm, die aus einer berühmten österreichischen Musikerfamilie stammte. Rund drei Jahre später bekamen die beiden ihr erstes Kind: Am 3. März 1845 erblickte Georg Ferdinand Ludwig Philipp Cantor das Licht der Welt, im mondänen, prächtigen Sankt Petersburg. Er wuchs mit drei jüngeren Geschwistern auf, Ludwig, Sophie und Constantin, über die jedoch wenig bekannt ist.
Brieffragmente, die erhalten geblieben sind, zeigen Cantors Vater als einen bodenständigen, klugen Mann, der Bildung zu achten wusste und sich für Wissenschaft und Sprachen interessierte. Er war tief religiös und erzog seine Kinder im lutherischen Glauben. Vermutlich aber konnte er sich niemals auch nur ansatzweise vorstellen, auf welch spektakuläre Weise sein Sohn Georg später dem Göttlichen näher kommen sollte – indem er das Göttliche in Gestalt der Unendlichkeit erforschte, über die Sprache der Mathematik.
»Cantor & Co.« lief bestens, und als Georg Woldemar Cantor durch eine Lungenkrankheit gezwungen war, seine Geschäfte aufzugeben und in ein milderes Klima zu ziehen, reichte sein Vermögen aus, um gut davon leben zu können.
1856 zogen die Cantors in die deutsche Kurstadt Wiesbaden und von dort weiter nach Frankfurt am Main. Der kleine Georg war zu dieser Zeit elf Jahre alt. Später erinnerte er sich gern an seine Kindheit in Russland, sprach in einem Brief von einer wundervollen Zeit, nannte Sankt Petersburg seine Heimat und bedauerte, dass er sie nie wieder besucht hatte.
Als erfolgreicher Kaufmann wünschte der Vater sich für den Sohn einen nützlichen, gut bezahlten und angesehenen Beruf. Er wollte, dass Georg Ingenieur wurde, und schickte ihn auf die »Höhere Gewerbeschule des Großherzogthums Hessen« nach Darmstadt. Was er dort von ihm erwartete, offenbarte er dem Teenager zu Pfingsten 1860 in einem Brief:
Zur Erlangung vielfacher gründlicher wissenschaftlicher und praktischer Kenntnisse, zur vollkommenen Aneignung fremder Sprachen und Literaturen, zur vielseitigen Bildung des Geistes, auch in manchen humanistischen Wissenschaften […] dazu ist die eben angetretene zweite Periode Deines Lebenslaufes, das Jünglingsalter, bestimmt. Was der Mensch aber in dieser Periode versäumt, oder durch vorzeitige Vergeudung seiner besten Kräfte, Gesundheit und Zeit, sozusagen verludert, das ist unwiederbringlich und unersetzlich für ewig verloren.1
Dem erfolgreichen Kaufmann mit der geheimnisvollen Vergangenheit war die Erziehung seiner Kinder wichtig. Ob er ihnen liebevoll Möglichkeiten aufzeigte oder sie mit seinen strengen Vorstellungen einengte, ist im Rückblick schwer zu beurteilen, jedenfalls versuchte Georg Woldemar wohl Zeit seines Lebens, seinem Sohn Georg ein guter Ratgeber zu sein. Wie auch viele heutige Eltern rang er darum, den richtigen Ton zu treffen, um seinen Sohn zu erreichen. Sein Hinweis zu Pfingsten etwa, wozu das Jünglingsalter bestimmt sei und dass man Gesundheit und Zeit nicht vergeuden solle, schien vielleicht zu vorsichtig formuliert gewesen zu sein, jedenfalls beobachtete Georg Woldemar mit wachsender Sorge, dass der junge Georg an der Gewerbeschule in Darmstadt bereits in eine studentische Verbindung eingetreten war, und er sah sich offensichtlich genötigt, deutlicher zu werden. Im Mai 1861 schrieb er ihm:
Möchtest Du doch jetzt soviel eigene Einsicht gewinnen, um selbst die lebhafte Überzeugung daraus zu schöpfen, welche ungeheuren Nachteile Dir das frühzeitige Sichgehenlassen in diesem lässigen Treiben jenes lächerlichen, äffischen Corpswesens bringen muß, umso mehr als letzteres doch bloß im leeren Kneipen seinen Ausdruck sucht […]2
Entweder haben die direkten Worte Gehör gefunden, oder das rituelle Trinkgelage in der Studentenverbindung, das Kneipen, war ohnehin nicht Cantors Sache, jedenfalls schrieb ihm sein Vater bereits zwei Monate später voller Freude:
Du scheinst nun selbst zu dem Bewußtsein des Bedürfnisses gekommen zu sein, wie außerordentlich notwendig Dir noch eine allgemeine Ausbildung in den humanoria ist, jenen Fächern der höheren menschlichen Bildung. Ich gratuliere Dir daher zu Deinem tüchtigen Entschlusse, aus dem Corps auszutreten von ganzer Seele und freue mich umso mehr darüber, gerade weil ich es vollkommen begreife, wie schwer in Deinem Alter ein solcher männlicher freiwilliger Entschluß Dir werden mußte! Und ich habe doppelte Ursache mich darüber zu freuen, weil Dein Entschluß nicht durch ein von mir ausgehendes Verbot oder einen Befehl hervorgerufen ist […] In der Tat: es widerstrebt mir zu sehr, in solchen Sachen etwas zu verbieten, was nur vom eigenen Urteil und Willen eines jungen Menschen abhängen sollte. In reiferen Jahren wirst Du auf diese männliche Überwindung mit wahrer Genugtuung und Freude zurückblicken!3
In seiner Zeit in Darmstadt entdeckte der Teenager Georg nicht nur das Studentenleben, sondern fand auch Freude an abstrakten, mathematischen Überlegungen. Er fasste den Entschluss, Mathematik zu studieren, und sein Vater erlaubte es ihm. Die Einwilligung war eine gute Entscheidung, nicht nur aus der heutigen Perspektive, aus der wir wissen, dass Georg Cantor ein herausragender Mathematiker werden und das Fach mit seinen Gedanken über Mengen und Unendlichkeiten revolutionieren würde, sondern auch aus dem Blickwinkel des Vaters. Mit seiner Zustimmung, Mathematik studieren zu dürfen, hatte er den jungen Georg glücklich gemacht, wie dieser ihm in einem Brief versicherte:
Wie sehr Dein Brief mich freute, kannst Du Dir denken; er bestimmt meine Zukunft. Die letzten Tage vergingen mir im Zweifel und der Unentschiedenheit; ich konnte zu keinem Entschluß kommen. Pflicht und Neigung bewegten sich in stetem Kampfe. Jetzt bin ich glücklich.4
Cantor zog nach Zürich und begann, Mathematik zu studieren. In London hatte der Physiker James Clerk Maxwell gerade das erste Farbfoto der Welt vorgeführt, das, wenn auch blaustichig, ein buntes, schottisches Karomuster zeigte. Seine Erfindung leitete das Zeitalter der Bilder ein. Längst hatte die Industrialisierung der Welt ein neues Gesicht verpasst, und das Leben der Menschen veränderte sich radikal. Neue Eisenbahnstrecken ließen Europa näher zusammenrücken, und die Städte wuchsen rasant, weil immer mehr Arbeiter zu den entstehenden Fabriken zogen. Die moderne Technik, das wurde allmählich deutlich, schuf nicht nur neue Lebensverhältnisse, sondern erwies sich auch als eine Kraft, die Veränderungen immer schneller vorantrieb. Cantor aber folgte unbeirrt seiner Berufung und versank in Zürich in eine abstrakte Welt aus Zahlen, Funktionen und Symbolen. Sein Vater stand ihm, wenngleich kein Ingenieur mehr aus ihm werden würde, weiter mit Ratschlägen zur Seite und zeigte hier, auf dem ihm eher unbekannten Terrain der Naturwissenschaften, eine verblüffend zutreffende Einschätzung der Situation:
Hast du schon ein System und strenge Einteilung Deiner verschiedenen Tagesbeschäftigungen eingerichtet? Dieses ist für einen künftigen Gelehrten, wie mir dünkt – nein ich weiß es! daß es so ist – eigentlich unerlässlich […] Ich habe mich aufrichtig gefreut zu sehen, Du habest ein Colleg über Astronomie belegt. Dies ist jedenfalls ein Fach, welches Du nebenbei pflegen musst und welches man bei näherer Bekanntschaft immer mehr und mehr lieb gewinnt. Besonders scheint mir ein Physiker und Mathematiker, der nicht auch Astronomie kultiviert, etwas Undenkbares!5
In der Tat waren Physik, Astronomie und Mathematik schon damals eng miteinander verwoben. Viele mathematische Fragen ergaben sich seit jeher aus dem Versuch, physikalische Beobachtungen zu beschreiben und die Mechanismen zu verstehen, die sie hervorbrachten. So trieben Astronomie und Physik die Entwicklung der Mathematik wie ein permanenter Motor voran. Auch hier wurden die Folgen der Industrialisierung spürbar: Durch die Anwendung physikalischen Wissens verstärkte sich die Wechselwirkung von Physik und Mathematik und erhielt neue Impulse. Umgekehrt lieferte die Mathematik spätestens mit der Entwicklung der Differenzialrechnung im 17. Jahrhundert der Physik und Astronomie das Handwerkszeug, um eine unübersichtliche Vielzahl an Messungen, Beobachtungen und Erfahrungen zu sortieren und aufzubereiten, Zusammenhänge aufzuspüren und Gesetzmäßigkeiten zu formulieren. So konnten bestimmte Paradoxa über Bewegung, Position und Geschwindigkeit, die die Menschen schon in der Antike beschäftigt hatten, erst mit modernen Methoden wie dem Konzept unendlicher Summen mathematisch aufgelöst werden. Und 1846 wurde sogar der weit entfernte Planet Neptun erst durch mathematische Berechnungen aufgespürt, bevor er dann im Teleskop ausfindig gemacht...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2022 |
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Illustrationen | Inka Hagen |
Zusatzinfo | Strichzeichnungen im Text |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Mathematik / Informatik ► Mathematik |
Schlagworte | 2022 • Aeneas Rock • Albert Einstein • andrea wulf • Arthur Benjamin • Bertrand Russel • Bertrand Russell • berühmte Denker • Berühmte Mathematiker • Daniel Jung • David Forster Wallace • David Hilbert • eBooks • Erzählendes Sachbuch • erzählende Wissenschaftsgeschichte • Georg Cantor • Geschenkbuch Mathematik • Geschichte der Mathematik • Große Mathematiker • Halle an der Saale • Harald Lesch • Ian Stewart • Kontinuum • Kurt Gödel • Mathematik • Mathematikgeschichte • Mathe verstehen • Mengenlehre • Neuerscheinung • Paul Cohen • Physik • Ranga Yogeshwar • Simon Singh • Stephen Hawking • Unendlichkeitszeichen • Wolfram Eilenberger |
ISBN-10 | 3-641-27918-6 / 3641279186 |
ISBN-13 | 978-3-641-27918-9 / 9783641279189 |
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