Gleichschaltung (eBook)
335 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
978-3-7565-9363-7 (ISBN)
Gunnar Kunz hat vierzehn Jahre an verschiedenen Theatern in Deutschland gearbeitet, überwiegend als Regieassistent, ehe er sich 1997 als Autor selbstständig machte. Seither hat er etliche Romane und über vierzig Theaterstücke veröffentlicht, außerdem Kinderbücher, Hörspiele, Kurzgeschichten, Musicals und Liedertexte. 2010 wurde er für den Literaturpreis Wartholz nominiert.
Gunnar Kunz hat vierzehn Jahre an verschiedenen Theatern in Deutschland gearbeitet, überwiegend als Regieassistent, ehe er sich 1997 als Autor selbstständig machte. Seither hat er etliche Romane und über vierzig Theaterstücke veröffentlicht, außerdem Kinderbücher, Hörspiele, Kurzgeschichten, Musicals und Liedertexte. 2010 wurde er für den Literaturpreis Wartholz nominiert.
2
Dienstag, 28. März – Mittwoch, 10. Mai 1933
Zuerst brannte der Reichstag, dann brannten die Bücher und bald die Synagogen.
Walther Kiaulehn
12
Hass und Hetze verbreiten nicht etwa diejenigen, die Hetzkampagnen lostreten und Andersdenkende diffamieren, sondern deren Kritiker! Nicht etwa die staatlichen Akteure, die ihre Macht missbrauchen, sondern die, die dagegen aufbegehren! Nicht die Nazis mit ihren Folterkellern, ihren Judenpogromen, ihren Schlägerbanden, sondern die Demonstranten im Ausland und Leute wie Albert Einstein, der seine Stellung an der Akademie der Wissenschaft niederlegt und sein preußisches Bürgerrecht aufgibt, weil er nicht in einem Staat leben will, in dem Menschen vor dem Gesetz unterschiedlich behandelt werden und ihnen die Freiheit des Wortes und der Lehre vorenthalten wird!
Hendrik konnte es kaum fassen. Von Gräuelhetze sprachen die neuen Machthaber. Es gebe keine Pogrome, keine antisemitischen Exzesse in Deutschland, das sei alles polnische, französische, jüdische Propaganda. Göring hatte die Stirn zu behaupten, die Regierung werde niemals dulden, dass jemand aufgrund seiner jüdischen Herkunft einer Verfolgung ausgesetzt sei. Der Auslandssprecher der NSDAP, ein gewisser Hanfstängel, besaß die Frechheit zu verkünden, die »nationale Revolution« sei »die friedlichste und ruhigst verlaufene der Weltgeschichte« und die SA habe »in vielen Fällen ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, um das Leben und das Eigentum politischer Gegner zu schützen«. Fehlte nur noch, dass er Graf Helldorf, der gerade zum Polizeipräsidenten von Potsdam ernannt worden war, als rühmliches Beispiel anführte.
Obwohl die Agitation der Nationalsozialisten Erfolg zeigte, wie sie selbst zugaben, und obwohl jüdische Vereinigungen in Deutschland aus Angst vor Vergeltung öffentlich dementierten, dass es Aktionen gegen Juden gebe, um sogleich von der Regierung als Kronzeugen in Beschlag genommen zu werden, war für kommenden Sonnabend ab zehn Uhr als »Gegenmaßnahme« ein Boykott jüdischer Warenhäuser und Geschäfte geplant, Ende offen. Logik war nicht gerade die Stärke der neuen Machthaber.
Und jetzt war auch noch Noah angegriffen worden! Hendrik zitterte vor Wut, als er die Treppen des Hauses in der Neuköllner Prinz-Handjery-Straße hochstürmte, zwei Stufen auf einmal nehmend. Der ehemalige Bibliothekar der Universität war fünfundachtzig! Was waren das für feige Gesellen, die sich an einem alten Mann vergriffen!
Anton, der Arbeitersohn, dem Hendrik privat Philosophieunterricht erteilte, öffnete Noahs Wohnungstür. Er lebte noch nebenan bei seinen Eltern, war allerdings schon seit Längerem auf der Suche nach einer bezahlbaren eigenen Wohnung. »Herr Professor, endlich!«, sagte er.
Hendrik stützte seine Hände auf den Knien ab, um wieder zu Atem zu kommen. »Danke, dass du mich angerufen hast.«
»Ich hab’ ein’ Arzt geholt. Er hat Herrn Rosenthal verbunden und ihm Medikamente gegeben. Es geht ihm einigermaßen. Ich hab’ dafür gesorgt, dass er zu Bett geht.«
»Das war umsichtig von dir.«
»Ich muss los.«
»In Ordnung. Wir sehen uns Freitag.«
Anton, schon auf dem Sprung, blieb stehen und schüttelte den Kopf. »Nee, Herr Professor. Die Zeiten für Philosophie sind vorbei.« Er warf einen kurzen Blick nach hinten, und seine Gesichtszüge wurden abweisend. »Jetzt müssen wir Recht und Gesetz in die eigenen Hände nehmen.« Er holte seinen Hausschlüssel heraus und schloss die Nachbarwohnung auf.
Betroffen sah Hendrik ihm nach. »Werde nicht wie sie, Anton«, sagte er leise.
»Tut mir leid, Herr Professor, aber reden hilft nicht mehr«, erwiderte der junge Mann und verschwand nach drinnen.
Hendrik verstand ihn. Natürlich verstand er ihn. Aber es tat ihm leid, miterleben zu müssen, wie Anton, der stets offen und zuversichtlich gewesen war, verhärtete. Seufzend schloss er die Tür und betrat das einzige Zimmer der Wohnung.
Noah lag im Couchbett und sah zum Erbarmen aus. Sein Kopf war bandagiert, die ersten Blutergüsse bildeten sich, an einigen Stellen war die Haut aufgeplatzt. »Es war nicht nötig, dass du kommst«, krächzte der alte Mann, »das hab’ ich dem jingel gesagt.«
Hendrik zwang sich dazu, seine Wut auf die Täter zu bezähmen und behutsam mit dem ehemaligen Bibliothekar zu sprechen. »Wie geht es dir?«, erkundigte er sich, während er einen Stuhl neben das Bett zog und sich setzte.
»Es ging mir schon mal besser.«
»Brauchst du etwas? Soll ich einen Tee kochen?«
»Nein, danke.«
»Also, was war los?«
»Reden wir nicht darüber.«
»Im Gegenteil: Reden wir darüber. Weich nicht aus, Noah. Ich will es wissen. Wer hat dir das angetan?«
»Wer schon? Die sogenannte Hilfspolizei.«
»SA?«
»Ich hab’ an meinem Rad herumgeschraubt, und sie haben behauptet, es sei geklaut. Ich würde mich verdächtig benehmen. Sie haben mir das Rad weggenommen, und als ich protestierte …«
»Und die Schupos?«
»Es waren keine da.«
»Die SA-Männer dürfen doch gar nicht allein los, nur in Begleitung ordentlicher Polizisten!«
»Sag ihnen das, wenn du sie siehst.«
Hendrik musste an die Worte Augustinus’ denken: Was sind schließlich Staaten ohne Gerechtigkeit anderes als große Räuberbanden?, und sein Zorn wurde von Neuem angefacht. »Ich werde Gregor bitten, die Angelegenheit aufzuklären«, knurrte er.
»Nein. Keine Polizei.«
»Noah –«
»Keine Polizei. Es war die Polizei, die mich so zugerichtet hat.«
»Das war keine Polizei!«, fuhr Hendrik ihn an. »Das sind Verbrecher. Lumpen, die sich polizeiliche Befugnisse anmaßen, weiter nichts.«
»Ich habe meine Erfahrung mit der Polizei.«
»Das hast du schon oft angedeutet. Was immer du erlebt hast, du weißt, dass Gregor anders ist.«
»Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Dein Bruder mag sich noch so anständig verhalten, er steckt in einem korrupten System.«
Hendrik schnaubte frustriert. Wie konnte er dem ehemaligen Bibliothekar helfen, wenn der sich weigerte, Hilfe anzunehmen?
Noah streckte seine Hand aus und berührte ihn am Arm. »Du meinst es gut, Hendrik. Aber du weißt nicht …«
»Natürlich nicht. Woher auch?«
Noah schwieg. »Also schön, ich will es dir erzählen«, sagte er schließlich. »Damit du verstehst.« Er sammelte sich, schien zu überlegen, wie er beginnen sollte. »Du weißt, ich bin in Ungarn aufgewachsen.«
»Ich habe immer vermutet, dass deine Aversion gegen die Polizei mit damals zu tun hat.«
»Ich habe in einem kleinen Dorf gelebt, Tisza-Eszlár. Ein Hausmädchen verschwand dort um Ostern herum. Das war 1882. Schon bald kamen Gerüchte auf über angebliche Ritualmorde der Juden. Mit Foltermethoden haben sie Geständnisse erzwungen. Es gab anonyme Denunziationen, die zu weiteren Verhaftungen führten. Eine regelrechte Hexenjagd begann, in einem Klima aus Judenhass. Viele von uns haben sie festgenommen und misshandelt, viele.« Noah versank in seinen Gedanken.
Hendrik hatte einen Kloß im Hals. War Noah auch gefoltert worden? Oder jemand aus seiner Verwandtschaft? Er wagte nicht zu fragen.
»Dann zogen sie einen weiblichen Leichnam aus dem Fluss, von dem sie behaupteten, es könne sich nicht um das Dienstmädchen handeln, denn dann wäre ja ihre Ritualmordgeschichte zusammengebrochen. Irgendwelche Pfuscher haben die Leiche untersucht. Anschließend wurde verbreitet, Glaubensgenossen der Verhafteten hätten eine fremde Leiche unterzuschieben versucht, um ihre Freunde zu retten. Also wurden mehr Juden verhaftet, immer mehr!« Noah hielt inne, um sich zu beruhigen. Die Erinnerung wühlte ihn sichtlich auf. »Inzwischen war ein Aufsehen erregender Fall daraus geworden. Zum Glück, denn das bedeutete, dass sich Fachleute der Sache annahmen. Am Ende wurden die Angeklagten freigesprochen. Wie ihr Leben danach aussah, kannst du dir sicher vorstellen.«
»Ich verstehe.«
»Ich bin weggegangen, weil ich hoffte, anderswo, in einem anderen Land Frieden zu finden. Recht und Gesetz. Und jetzt sind sie wieder da, die Judenhasser, die Opportunisten, die Schläger, die Feiglinge, all jene, die Sündenböcke brauchen für ihr verpfuschtes Leben.«
»Was kann ich sagen, Noah? Du hast recht. Und es beschämt und deprimiert mich. Aber sollen wir deshalb jeden Glauben an Gerechtigkeit, jede Hoffnung fahren lassen?«
»Es gibt keine Gerechtigkeit. Nicht hier und jetzt. Nur Willkür.« Noah hustete und verzog das Gesicht vor Schmerz. Wieder fasste er Hendriks Arm. »Deshalb möchte ich dich um etwas bitten.«
»Alles.«
»Ich habe einen Neffen, Ezechiel. Ein guter Junge. Ein bisschen zu weich vielleicht, aber ein guter Junge. Er betreibt einen Kolonialwarenladen in der Innenstadt. Ich mache mir Sorgen, wegen dem Boykott am Sonnabend. Der wird nicht friedlich abgehen.«
»Ich sehe nach ihm, versprochen. Gleich morgens. Und dann bleibe ich dort bis Geschäftsschluss.«
Noah lächelte und drückte ihm die Hand. »Danke. Und – keine Polizei, ja?«
»Wenn du es wünschst. Keine Polizei.«
13
Am Sonnabend wachte Hendrik schon mit einem unguten Gefühl auf. 1. April. Der Tag des Boykotts jüdischer Geschäfte. Er beeilte sich, aus dem Haus zu kommen, und begab sich in die Innenstadt.
Seit Tagen hingen überall an den Litfaßsäulen Plakate, die das deutsche Volk auf die Boykottmaßnahmen einzuschwören suchten. Obwohl die...
Erscheint lt. Verlag | 1.1.2025 |
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Reihe/Serie | Kriminalroman aus der Weimarer Republik |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane | |
Schlagworte | 1930er • 1933 • Berlin • Historischer • Jahre • Krimi • Kriminalroman • Nationalsozialismus • Republik • Weimarer |
ISBN-10 | 3-7565-9363-0 / 3756593630 |
ISBN-13 | 978-3-7565-9363-7 / 9783756593637 |
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